Ich bin immer dabei, wenn jemand etwas ausprobieren will
erschienen am 18. Mai 2020
Wie hat es Euch beide ans Schauspielhaus Zürich verschlagen?
Christopher: In der dritten Klasse habe ich bei Das kleine Gespenst mitgespielt: Eigentlich wollte ich den Förster spielen, am Ende war ich irgendein Lehrer. Das war meine erste Erfahrung mit Theater. Nach dem Regiestudium in Hamburg (und für ein Erasmussemester in Zürich) habe ich angefangen, in verschiedenen Städten zu inszenieren, unter anderem auch einmal in Zürich (während der Intendanz von Barbara Frey). Zuletzt war ich als Hausregisseur an den Münchner Kammerspielen, wo ich mit Benjamin von Blomberg und Nicolas Stemann gearbeitet hab. Irgendwann haben die beiden mich gefragt, ob ich mitkommen will ans Schauspielhaus Zürich. Ich musste ein bisschen mit mir ringen, hatte eigentlich beschlossen, nie wieder nach Zürich zu gehen. Für mich war Zürich besetzt mit einem Bild: Ein Gebäude aus Sichtbeton, draussen fällt der Schnee und drinnen sitze ich und weiss mir nicht zu helfen. Schliesslich habe ich trotzdem ja gesagt, weil ich an das künstlerische Projekt glaube.
Jasmin: Mir fällt gerade auf, dass ich eigentlich keine Ahnung hab, wer Christopher ist.
Christopher: Echt? Ich glaube, ich weiss ein bisschen was über dich. Mal sehen.
Jasmin: Für mich hat alles mit meiner Ausbildung zum Sozialversicherungsfachangestellten begonnen. Dort war ich schrecklich unglücklich. Daneben hab ich elektronische Musik gemacht und irgendwann angefangen, Parties zu veranstalten. Das lief immer besser und der Job entsprechend immer schlechter. Also hab ich den Job gekündigt. Irgendwann wurden dann auch die Parties langweilig und deshalb haben wir einen Videokünstler dazugeholt und angefangen, live zu produzieren. Beim Theater bin ich ganz komisch reingerutscht: Ich war bei einer Vorstellung am Theater Rampe in Stuttgart und hab mich dort mit einer Schauspielerin unterhalten – ein paar Monate später war ich in Afrika und hab für ein afrikanisch-deutsches Stück geprobt. Das war mein erster Kontakt mit Theater. Danach hab ich immer wieder Musik für Theater gemacht, viel Mixing, Mastering, Sounddesign, Playbacks und Video. Irgendwann hab ich mir gedacht, ich sollte das professionalisieren. Während des Studiums haben wir fürs Theater Neumarkt ein Stück gemacht. Das war ein toller Ausflug in die Stadt. Seit Oktober 2019 bin ich nun hier am Schauspielhaus in Zürich.
Getroffen habt ihr euch jetzt zum ersten Mal bei Christophers Zuhauspielhaus-Projekt Dekalog. Wie kam es dazu?
Christopher: Als wir uns entschlossen haben, den Dekalog zu machen, war unklar, ob das überhaupt geht und wenn ja, wie? Nach der Schliessung der Theater begann relativ schnell eine Diskussion darüber, wie man Theater in den digitalen Raum retten kann. Als erstes Angebot begann man aufgezeichnete Inszenierungen ins Internet zu stellen. Das funktioniert für mich nur sehr selten...
...weil Theateraufzeichnungen oft nicht gut und im deutschsprachigen Raum sicher nicht fürs Streaming gemacht sind. Was macht eine wirklich gute Theateraufzeichnung – die ja beispielsweise auch beim Touring eine grosse Rolle spielen – deiner Meinung nach aus?
Christopher: Gerade gibt es zwei Extreme: Das eine ist der Probenmitschnitt: In der zehnten Reihe steht eine mittelmässig gut eingerichtete Kamera und läuft mit. Sowas brauchen wir für interne Zwecke. Und dann gibt es die 3sat-Variante: Die filmen ein Stück mit sechs Kameras in drei verschiedenen Durchläufen – zwei Mal mit, einmal ohne Publikum – es gibt eine*n Fernsehregisseur*in, der*die das zusammenschneidet und eigene künstlerische Entscheidungen trifft. Die Aufzeichnung, die dann entsteht, ist nicht mehr ein Abbild der Inszenierung, an der wir gearbeitet haben, sondern ein eigenes künstlerisches Produkt, das entweder gelungen sein kann oder nicht. Zwischen diesen Extremen gibt’s einen Sweetspot und den müsste man treffen.
Mit meiner Inszenierung Trommeln der Nacht war ich für ein Gastspiel am Alexandrinski-Theater in Sankt Petersburg, welches live gestreamt wurde für 60 000 Zuschauer*innen. Gefilmt wurde mit fünf Kameras, es gab einen Live-Schnitt und eine Live-Tonmischung. Die verantwortliche Redakteurin sass im Zuschauerraum und ist mit der Stimmung im Raum mitgegangen. Neulich hab ich die Aufnahme dieses Streams gesehen: Darin wird sowohl das theatrale Liveerlebnis auf eine schöne Art erhalten als auch um zusätzliche filmische Perspektiven ergänzt, die man im Theater nicht hätte: zum Beispiel Close-Ups oder Zuschauer*innen-Reaktionen.
Klingt ein bisschen wie Fussball-Liveübertragung...
Christopher: Ja, so ungefähr, nur ohne Rückblenden und Zeitlupen. Stell dir vor, du hast eine Theaterinszenierung und die Live-Regie macht plötzlich eine Zeitlupe von den letzten 30 Sekunden, weil es so gut war.
Jasmin: Mit Kommentar (lacht).
Zurück zu Dekalog und eine sehr pragmatische Frage: Warum hast du dir freiwillig ein Projekt mit so vielen Unbekannten aufgebürdet?
Christopher: Dekalog sollte einen praktischen Beitrag zu der Debatte liefern, wie Formate im digitalen Raum aussehen können. Und ich glaube, unsere Qualität als Theaterhaus liegt genau in Menschen wie Jasmin: Der kann ja eigentlich alles. Und ich habe ihn bei der Arbeit erlebt: Der kann nicht alles ein bisschen, sondern der kann sehr viel richtig gut. Das ist, was man am Theater findet: Menschen, die viele verschiedene Sachen können. Tausendsassa. Deswegen finde ich es verlockend, jetzt in den Theatern an Formaten zu experimentieren, für die sie eigentlich nicht gemacht sind. Die Alternativen dazu sind entweder zu verstummen – aber dann überlässt man eine extrem wichtige, gesellschaftliche Debatte Politiker*innen und Wissenschaftler*innen – oder die Arme zu verschränken und den Kopf zu schütteln, einfach alles doof zu finden. Diese Neinsager-Haltung ist definitiv eine unproduktive, unkünstlerische Haltung.
Soweit ich mich erinnern kann, kam der definitive Startschuss für das Projekt acht Tage vor der ersten Folge. Dann waren erstmal vier Tage Ostern und danach habt ihr angefangen zu proben unter sehr speziellen Umständen.
Christopher: Am Anfang, bei den ersten drei Folgen, durften nur vier Menschen in einem Raum sein: Paul (Ton, Anm. der Redaktion), Jasmin, der*die Schauspieler*in und ich waren in der Schiffbau-Box und die andern waren zu viert in der Halle: Noè, der den Stream betreut hat, Natascha, die Bühnenbildnerin, Katinka, die Dramaturgin und Ulf, der für die Kostüme verantwortlich war. Eine Woche später durften wir zu fünft in jedem Raum sein: Dann kam Katinka mit in die Box und Timo, der die virtuelle Interaktion komplett in die Hand genommen hat, neu mit in die Halle.
Jasmin: Trotzdem war die Probensituation ähnlich produktiv wie bei normalen Proben. Effektiv waren wir zwei Gruppen verteilt auf zwei Räume, die über Audio miteinander kommunizieren mussten. Der einzige Knackpunkt war, dass wir während den Proben aufgrund Bewegungsfreiheit nur eine Einwegstrippe hatten. Die Halle hat uns gehört, aber wir sie nicht. Wenn Christopher beispielsweise eine Lichtänderung haben wollte, hat er das laut in den Raum kommuniziert und im besten Fall konnte Natascha das drüben gleich umsetzten – erstaunlicherweise ging das gut.
Christopher: Die Schnelligkeit, unter der alles passieren musste, erforderte von allen Beteiligten so eine Art Tausendsassatum: Das Format, die Probenbedingungen und Jasmins Aufgabe haben sich stets weiterentwickelt. Die ersten drei Folgen stand die Kamera bis zu einem gewissen Punkt auf dem Stativ. Ab Folge vier war das Stativ passé und wurde nie wiedergesehen. Bei Folge 8 kam plötzlich ein Tänzer dazu, den man beim Tanzen filmen musste, immer ohne Körperkontakt.
Teilweise hab ich die Proben auf Grund der Social Distancing-Beschränkung und den Zeitumständen als produktiver erlebt als normale Proben. Kunst und Technik und die verschiedenen Gewerke haben ineinandergegriffen und ich hatte das Gefühl, dass jede*r, der*die daran beteiligt war, dieses Kunstereignis als seins, als ihres empfunden hat. Normalerweise fasst die Tonabteilung eines Theaters die Kabel vom Licht nicht an; die Requisite fasst das Kamerastativ nicht an. Dem Überblick wegen. Gleichzeitig ist das maximal unproduktiv, weil immer jemand gerade nicht da ist. Das Dekalog-Team war weniger hierarchisch organisiert, mehr wie eine Taskforce: Jasmin, Noè, Timo und Paul waren überall; die haben alles gemacht. Alle arbeiteten zusammen. Das ist das, was im Theater so häufig fehlt.
Wie war es für dich, Jasmin, während des Livemoments als Einziger so nah an den Spieler*innen zu sein?
Jasmin: Sehr schön. Die Schauspieler*innen waren sehr empathisch mir gegenüber. Sie haben ständig nachgefragt, ob die Kamera nicht mega schwer ist. Ob ich eine Pause brauche. Dadurch hat man schnell eine Verbindung. Die haben natürlich alles gegeben in der kurzen Zeit und ich hab neun Mal richtig jemanden kennen gelernt – gefühlt neun Freundschaften geschlossen.
Ich habe generell viel Spass dran, hinter der Kamera zu sein. Ich lache auch noch beim fünften Mal über jeden Witz und verziehe traurig das Gesicht, wenn die Szene traurig ist. Ich kann mich nicht zurückhalten, ich leide richtig mit. Das ist auch bei einer grösseren Produktion so. Ganz oben, in der Videoregie, wo mich keiner sieht, fühl ich genauso mit. Jetzt war’s natürlich zehn Mal intensiver, weil hier direkt jemand vor mir stand.
Christopher: Und die Spieler*innen haben sich allesamt so, so, so wohl gefühlt mit dir. Das ist ein spezielles, ein seltenes Talent. Egal, wen von den Spieler*innen du jetzt fragen würdest: Alle hatten das Gefühl, dass die Absurdität der Situation, Theater ohne Publikum zu spielen, dadurch gemindert wurde, dass Jasmin da war.
Wie wars für dich so weit weg zu sein?
Christopher: Ich bin bei Vorstellungen ja eh weit weg. Ich habe an einer Schnittstelle zwischen Live-Regie und Inspizienz gearbeitet, hatte aber keine Möglichkeit, mit den Spieler*innen zu kommunizieren, ausser über Jasmin. Immer wenn ich denen was mitteilen wollte – zum Beispiel Abstimmungsergebnisse der Zuschauer*innen –, musste ich es Jasmin sagen und der gab es mit Zeichensprache an die Spieler*innen weiter. Die waren in guten Händen bei Jasmin und mich brauchte es da nicht.
Seid ihr angefixt von dieser ersten Erfahrung mit Formaten für den digitalen Raum?
Jasmin: Voll. Das Zeug später zu kategorisieren und zu sagen, welchem Genre oder Raum das letztendlich angehört, liegt nicht in meinem Stärkenbereich. Aber ich bin immer dabei, wenn jemand etwas ausprobieren will. Und das Format, die Idee und die Art und Weise, wie Christopher das umgesetzt hat, hat einfach Spass gemacht.
Christopher: Es gibt – und ich glaube, bei Dekalog gab es Momente, in denen das spürbar war – eine Vision für ein Theater im digitalen Raum, das nicht einfach alle kulturellen Praktiken des Internets kritiklos übernimmt; das sich aber auch nicht verzweifelt an alle kulturellen Praktiken des analogen Theaters festkrallt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Dekalog das Ende von meiner Beschäftigung mit diesen Themen war. Sondern der Anfang. Aber ich brauch jetzt ein bisschen Zeit für mich, um das wirken und setzen zu lassen.