Statt zu fliegen,
hüpfe ich wie eine Henne
erschienen am 21. Januar 2020
Ihr kommt beide aus Polen. Wie seid Ihr in Zürich gelandet?
Danuta: Seit ein paar Jahren spiele ich im Stück Wunschkonzert von Yana Ross, das wir gemeinsam in Polen entwickelt haben. Eines Tages hat sie mich gefragt, ob ich Lust hätte, in Zürich die Hauptrolle in Der Kirschgarten zu spielen. Ich war schockiert, da ich damals kein einziges Wort Deutsch gesprochen habe. Ich habe zwar schon in mehreren fremdsprachigen Filmen mitgespielt, im Theater ist es aber etwas ganz Anderes. Da gibt es keinen Platz für Wiederholungen und Korrekturen. Der Vorhang geht hoch und man muss die Rolle leben bis er wieder fällt. Als Person bin ich von Natur aus sehr ängstlich. Ich fürchte mich vor allem Neuem. Oft wurde ich gefragt, wie man mit einer solchen Angst Schauspielerin sein kann. Manchmal denke ich mir, dass in mir ein kleiner Welpe wohnt, der extrem neugierig ist und ständig Neues entdecken will. Solange dieser Welpe in mir existiert, macht es Sinn, dass ich diesen Beruf ausübe. Aus diesem Grund habe ich Yana Ross damals zugesagt: Meine Neugier hat meine Angst überwunden und deshalb bin ich hier gelandet.
Maja: Gerade das Gefühl von Angst betrachte ich für die künstlerische Praxis als unerlässlich. Als Künstler*in beschreitet man neue Wege, macht etwas, das sich bis jetzt niemand getraut hat. Manchmal muss man auch scheitern, das gehört dazu. Wenn man sich also vor einer Entscheidung fürchtet, ist das in der Kunst ein Zeichen, dass man auf dem richtigen Weg ist.
Wie ich hier gelandet bin: Mit neunzehn bin ich aus meinem Elternhaus ausgezogen und war seither ständig unterwegs. Ich habe in mehreren Ländern im Kunstbereich gearbeitet und studiert, bin durch ganz Europa getrampt – von Porto bis Tiflis. Meine gesamten Habseligkeiten habe ich im Handgepäck überall hin mitgeschleppt. Irgendwann hatte ich von diesem Herumirren genug und träumte von einem langweiligen, ganz normalen Leben. Mehrere Leute haben mir erzählt, dass Zürich die langweiligste Stadt sei die sie jemals besucht hätten. Deshalb bin ich hierhergezogen – auf der Suche nach der absoluten Langeweile. Leider war die Stadt doch nicht so langweilig, wie ich es mir erhofft hatte. Aber ich habe mich in die Stadt verliebt und deshalb entschieden, für immer hier in Zürich zu bleiben.
Ihr bewegt euch in mehrsprachigen Räumen. Wie herausfordernd ist das?
Danuta: In Der Kirschgarten spreche ich Deutsch, Englisch und Polnisch und rezitiere Kaddish in aramäischer Sprache. In Wunschkonzert hingegen bleibe ich während des ganzen Stücks stumm. Bei den Proben von Der Kirschgarten, gleich ab dem Moment als die Kolleg*innen ins Deutsch wechselten, fühlte ich mich, als ob ich unter Wasser wäre. Ich sah die Bewegung ihrer Lippen, aber ich verstand kein Wort. Ich war taub. Diese Erfahrung ist für mich ein Abenteuer. Nicht nur als Schauspielerin, sondern vor allem auch als Mensch. Sich mit jemandem zu verständigen... was bedeutet Sprache? Als ich bei den Vorbereitungs-Workshops improvisieren musste, war ich den Tränen nahe. Mir ist bewusstgeworden, dass ich ohne meine Muttersprache nicht existiere. Ich kann meine Flügel nicht ausbreiten. Statt zu fliegen hüpfe ich wie eine Henne. Egal ob ich eine fremde Sprache fliessend spreche; ich bin trotzdem nicht fähig, in die Haargefässe – die winzigsten Nuancen dieser Sprache – einzutauchen. Solche sprachlichen Feinheiten kann man nicht lernen. Man saugt sie mit der Muttermilch auf. Als Ganzes schätze ich diese Erfahrung aber sehr.
Kennst du dieses Gefühl auch, Maja?
Maja: Ja, bei mir ist es mit den Sprachen auch etwas komplizierter. Als Erwachsene habe ich meine Muttersprache nur noch selten gehört. Inzwischen habe ich andere Sprachen gelernt und wieder vergessen. Auch Schweizerdeutsch werde ich wohl nie perfekt lernen. In keiner Sprache fühle ich mich richtig daheim. Wenn ich Polnisch spreche, verliere ich plötzlich die letzten zehn Jahre meiner Lebenserfahrung und finde keine Wörter, um zu erzählen, was mich gegenwärtig beschäftigt.
Danuta: Das ist ja faszinierend! Weil du in Deiner Muttersprache keine sprachlichen Werkzeuge dafür entwickelt hast...
Maja: Genau. Als Künstlerin kommuniziere ich sowieso lieber nonverbal. Farbe, Kontur, Bewegung, Klang, Texturen, Duft, das ist mein Wortschatz.
Danuta: Einmal habe ich versucht, einem Kollegen aus England mit einer selbsterfundenen Metapher in seiner Sprache etwas zu erklären. «So sagen wir es auf Englisch nicht» meinte er. «Wir auf Polnisch auch nicht» habe ich geantwortet, «aber ich sage es so!».
Maja: [lachend] Dass eine Metapher in keiner Sprache bereits benutzt wird, bedeutet nicht, dass sie unberechtigt ist. Sobald eine Person die Metapher erfindet und diese von der anderen Person verstanden wird, hat sie ihre Berechtigung. Gerade Englisch habe ich überall ausser in England gelernt. Die englische Sprache, die ich kenne, ist ein seltsames Hybridwesen, eine Sammlung von sprachlichen Konstrukten, die sich aus der Kommunikation zwischen Menschen mit unterschiedlichsten Hintergründen etabliert hat. Diese Konstrukte sind weit entfernt von korrekter…
Danuta: … funktionieren aber trotzdem!
Maja: Ja, niemand spricht korrekt und alle verstehen sich.
Danuta: Bei Der Kirschgarten benutze ich die deutschen Wörter und Phrasen, die ich auswendig gelernt habe nur als Formen, in die ich meine Gefühle einfüge. Kann ich die Gefühle durch diese Formen vermitteln oder nicht? Das weiss ich nicht... Ich denke, das Schweizer Publikum versteht meine Wörter buchstäblich, aber Du und andere Zuschauer*innen aus Polen verstehen die Gefühle dahinter, weil ihr die gleiche Erfahrung gemacht habt.
Maja: Gerade die Spannung zwischen den, wie Du sagst, Formen und dem Inhalt, der nicht vermittelt werden kann, finde ich in Der Kirschgarten sehr deutlich. Gleichzeitig glaube ich, dass nicht nur wir Pol*innen sondern alle Menschen, auch die Schweizer, welche die Erfahrung, fremd(sprachig) zu sein, schon erlebt haben, die Gefühle gut nachvollziehen können.
Erlebt ihr das Publikum anders in der Schweiz als in Polen?
Danuta: Bei Wunschkonzert kann ich das Publikum gut beobachten, weil die Leute bis auf eine Armlänge an mich herankommen. Das Stück haben wir sowohl in Polen als auch in anderen Ländern und in der Schweiz gespielt. Zum einen kommen in der Schweiz viel mehr Zuschauer*innen in meinem Alter oder ältere. In Polen kommen sehr viele junge Leute, sogar Teenager. Das ist grossartig. Zum anderen reagiert das Publikum in Polen viel extremer. Ich habe Situationen erlebt, wo jemand am Anfang geschrien hat: «Passiert jetzt endlich etwas?!». Die Person konnte die Darstellung des langweiligen, glanzlosen Alltags nicht aushalten. Nach derselben Aufführung ist eine Ankleiderin zu mir gekommen und hat mir berichtet: «Im Publikumsraum sitzt eine junge Frau auf dem Boden und hört nicht auf zu schluchzen. Sie hat mir für Dich ein Zettelchen mitgegeben». Die Notiz besagte: «Ich habe meinen Weg gesehen und wohin er mich führt. Ich bin erschrocken! Danke Dir.»
Einmal ist während der Vorstellung eine Frau auf die Bühne getreten, hat sich an meinen Tisch gesetzt und ein Stück von meinem Käse gegessen. Ein anderes Mal hat eine Frau versucht, mir die Schlaftabletten zu klauen. Hier erlebe ich keine solchen extremen Reaktionen, hier bleibt es ruhig. Das ist super, denn das Publikum ist offen dafür, auf die Reise mitzukommen.
Maja: Ich finde es faszinierend zu hören, wie das polnische Publikum von Deinem Stück mitgerissen wurde. Für mich gibt es keine Trennung zwischen Performance und Leben. Was im Theater passiert, ist das Leben.