Directors Talk:
Yana Ross und Wu Tsang
In der Reihe Directors Talk nehmen Sie unsere Hausregisseur*innen Alexander Giesche, Suna Gürler, Trajal Harrell, Yana Ross, Christopher Rüping, Nicolas Stemann, Wu Tsang sowie Co-Intendant Benjamin von Blomberg in acht Gesprächen mit in die Produktionen der Spielzeit 2021/22. Sie haben sich während des zweiten Lockdowns auf Zoom zum Austausch über das Hier, Jetzt und Morgen getroffen, immer zu zweit, einmal reihum. Die Gespräche sind Teil des Saisonvorschau, die die Spielzeit 2021/2022 vorstellt und ab sofort in all unseren Spielstätten ausliegt, sowie kostenlos online bestellt werden kann.
erschienen am 27. August 2021
«Es ist ein Ritual des bewussten Blickes auf toxische Männlichkeit.»
[13:01] Yana Ross: Wu, was ist dein erstes, stärkstes visuelles Erlebnis? Es kann sehr abstrakt sein. Was ist das erste Bild in deinem Leben, als Kind, an das du dich erinnern kannst? Wu Tsang: Das ist eine interessante Frage, denn ich habe das Gefühl, dass alle meine Erinnerungen sehr visuell sind! Mit dem Kindsein verbinde ich, dass alles sehr lebendig ist, wie auf einem Pilztrip. Aber… was mir als Erstes einfiel, als du die Frage gestellt hast, war eine andere Frage, an die ich mich erinnere und die ich den Leuten immer gestellt habe: Was war eure erste Begegnung mit zeitgenössischer Kunst? Für mich war es eine Ausstellung zeitgenössischer Kunst, die ich mit 14 Jahren in Kopenhagen gesehen habe. Ich war auf einer Tour mit meiner Fussballmannschaft. Einer der Väter der Fussballer war Kunsthistoriker. Er schleppte uns in dieses Museum und ich erinnere mich, dass es dort eine Ausstellung mit dem Titel Sunshine and Noir gab, es ging um Kunst aus L.A. in den 90ern. Es gab eine Menge Konzeptkünstler, die sich mit der brutalen Polizeigewalt gegen Rodney-King und den Unruhen in L.A.¹ beschäftigten. Es gab intensive Bilder und auch eine Installation von Paul McCarthy. Daran habe ich gedacht, als du gefragt hast. Ich denke, dieses Gefühl der Intensität einer Erfahrung von einem jungen, sich noch entwickelnden Menschen, das kann man nicht mit einem Wert belegen; Es ist unglaublich. Es ist so wichtig, dass wir diese Erfahrungen machen, es spielt keine Rolle, wo es passiert. Ich erinnere mich an etwas, als ich vielleicht 17 war. Ich habe mit einem Freund ein Eis gegessen und zufällig sind wir in einen Keller gekommen. Da war eine Galerie und es lief eine Ausstellung mit dem Titel Milk and Honey. Die ganzen Werke waren aus einer psychiatrischen Klinik. Oh wow! Menschen, die ihr ganzes Leben in dieser Einrichtung verbracht haben. Als Teenager ging das direkt durch mich hindurch. Ich habe den Kontext nicht gelesen, ich bin einfach durch das Show gegangen und dieses unmittelbare Eintauchen in die Welt der Bilder und Skizzen war phänomenal. Auf jeden Fall interessant. Ich will psychische Krankheiten keineswegs romantisieren, aber ich denke, es gibt eine starke Pathologisierung von psychischen Zuständen. Genau. Wer entscheidet darüber, dass jemand nicht in der Lage ist, in der Gesellschaft zu funktionieren? Ich denke, einige Künstler existieren sogar auf diese Weise und erforschen sie eventuell, bewusst oder unbewusst. Weisst du, ich denke oft, dass die verrücktesten Leute alle diejenigen von uns sind, die einfach nur den Wegen folgen, welche die Gesellschaft vorstrukturiert hat. Ich glaube, Kunst zu machen ist eine Möglichkeit, ausserhalb dieser Grenzen zu forschen. Und was vor 50 oder 100 Jahren als normativ angesehen wurde und was heute. Ich glaube, in der Kunstszene gibt es ein grosses Stigma in Bezug auf psychische Probleme. Ich finde es interessant, dass diese Menschen zu bestimmten Zeiten, sagen wir mal vor 100 Jahren, abgestempelt oder institutionalisiert worden wären... Sind das Themen, die du in deiner Arbeit untersuchst? Ich glaube, unbewusst ganz sicher. Ich gehe jetzt zurück zur Geschichte der feministischen Bewegung, ich gehe zurück zur Geschichte der Gender Studies und der Pornografie und natürlich zu der Frage, was heteronormativ ist. Wie erzeugen wir Sprache und wie dekonstruieren wir Sprache? Ausserdem arbeite ich in verschiedenen Kulturen und Ländern und ich glaube, ich bin sehr sensibel für Sprache und diese, sagen wir mal, Diskriminierung, die in manchen Sprachkulturen so inhärent ist. Aber wenn etwas schön ist, dann fällt das wirklich auf. Wie in Finnland, da gibt es kein Geschlechtspronomen. Das gibt es einfach nicht, hat es nie gegeben. Sie sind alle Menschen. Es ist alles eingeschlossen: ein Wort für alle. Als ich nach Litauen zog, fiel mir auf, dass es ein Wort für eine menstruierende Frau gibt. Sie benutzen das Wort "krank". Das fiel mir als erstes auf, als ich anfing, die Sprache zu lernen. Oder das Wort für Abnehmen, es bedeutet auf Litauisch, dass man schlecht aussieht. Oder, wenn jemand zunimmt; dann würde das heissen, man sehe aus, als hätte man sich selbst wiederhergestellt. Okay, also würdest du sagen, das ist wie ein Kompliment? Genau. Als ob etwas mit dir nicht in Ordnung war und du dich jetzt selbst wiederhergestellt hast. Ich bin so fasziniert von diesen Diskrepanzen und dieser aufgeladenen Sprache, wenn es um die Gestaltung von Beziehungen zwischen Gesellschaft, Privatsphäre und Geschlecht geht. Das ist alles Teil dieser Ausrichtung der Arbeit, mit der ich mich jetzt beschäftige; es ist Kurze Interviews mit fiesen Männern. Ich bezeichne es im Moment als ein Requiem für Männlichkeit, weil ein Requiem für mich eine sanfte Art ist, etwas niederzulegen. Es ist ein Ritual des bewussten Blickes auf toxische Männlichkeit und des sanften Ablegens derselben; und man nimmt sich Zeit, um sie abzulegen. Ich denke, in diesem Zusammenhang ist es ein guter Moment, sich die Zeit zu nehmen und sie langsam abzulegen. Es ist wirklich wichtig, dass wir sie nicht wie eine Bombe fallen lassen. Von welcher Arbeit sprichst du? Sie basiert auf David Foster Wallace. Ich beschäftige mich schon eine Weile mit diesem Schriftsteller und werde immer wieder von seiner unglaublichen Verletzlichkeit angezogen. Er hat sich leider 2008 in Kalifornien umgebracht. Ich glaube, da ist etwas in seiner Sprache; man spürt diesen grossen Kampf, die Welt zu akzeptieren und sich selbst zu akzeptieren und beides nicht zu schaffen. Wie sieht der Prozess des Übersetzens aus? Ich bin neugierig, denn eines der Projekte, an dem ich für das nächste Jahr arbeite, ist Moby Dick, das auch ein grosser amerikanischer Roman ist. Wie übersetzt man etwas, das so schön geschrieben ist, in eine Live-Performance? Das ist fast unmöglich. Ich denke, eine gute Übersetzung ist in gewisser Weise ein Akt des Exorzismus. Weisst du, als Übersetzer musst du wirklich in jemand anderen hineingehen und dann bringst du etwas heraus, das durch dich hindurchgegangen ist. In meinem Fall ist das interessant: Das Buch ist eine Sammlung von Kurzgeschichten, es wurden verschiedene Übersetzer engagiert und das Buch ist auf Deutsch auch irgendwie polyphon. Einige Übersetzungen erfassen wirklich diese Verletzlichkeit und einzigartige Sprache, andere sind nicht auf diesem Niveau. Arbeitest du mit der deutschen Übersetzung? Ich denke, wir werden der Performance zuliebe wahrscheinlich die deutsche Übersetzung verwenden, aber ich weiss es noch nicht. Ich arbeite immer mit dem Original. Wenn ich Wallace lese, bin ich immer irgendwie von dieser Sprache angezogen. Ich möchte das Publikum auf eine direkte Weise erreichen und nicht die Barriere einer anderen Sprache dazwischen haben; wenn wir also ein bisschen was verlieren, aber direkt in der Sprache des Publikums sprechen, dann finde ich das gut. Und was hältst du von Moby Dick? Hast du das Gefühl, dass die Sprache etwas mit dir macht? Ja, es ist die Sprache, die mich zu dem Buch hingezogen hat. Aber ich denke, es waren mehrere Dinge, die mich angezogen haben: die Ikonizität des Buches, die Tatsache, dass es so legendär ist, dass jeder es kennt, aber es nur sehr wenige Leute gelesen haben, weil es ziemlich lang und wortreich ist. Stilistisch ist der Roman sehr unterschiedlich; es gibt ein bisschen etwas von jedem Stil. Und Melville hat versucht, diesen Kompendium-Roman zu schaffen, der jede einzelne Art des Geschichtenerzählens und jede Art, über einen Wal zu sprechen, erfasst. Eines der ersten Dinge, die ich tat, war zu beschliessen, einen Stummfilm daraus zu machen, so dass die Sprache im Grunde verschwindet. Denn ich denke, ohne sie sind wir gezwungen, einen anderen Weg zu finden, um am Ende nicht versuchen zu müssen, dem Text gegenüber loyal zu sein. Wir verwenden den Text während wir das Stück entwickeln, aber ich denke, letztendlich möchte ich ihn so weit wie möglich loslassen. Es gibt eine Stelle im Buch, die ich sehr mag, an der alle Männer das Spermazeti massieren. Das ist das Öl im Gehirn des Pottwals, dass die Wale für die Echoortung benutzen. Anscheinend riecht es wirklich gut und ist sehr gut für die Haut; und es gibt diese orgiastische Szene, in der sie das Fett dieses Wals herauslösen und sich damit einreiben. Und im Grunde reiben sie sich dann alle gegenseitig ein, während sie den Blubber reiben. Er nennt das "spiralisieren". Das ist die Metapher, die mein Drehbuchautor und ich benutzt haben, nämlich, dass wir das Buch spiralisieren. Wir massieren es und verlieren uns darin. Und wie hast du deine Mitarbeiter für die Zusammenarbeit mit unserem Ensemble gefunden? Einen Film zu machen ist ein ganz anderer Prozess als ein Live-Theater. Im Prinzip werden wir im Monat Mai viel proben und dann direkt mit den Dreharbeiten beginnen. Es ist also kürzer und intensiver und dann legen wir einfach los. Und eines der Dinge, die mich an Moby Dick begeistern, ist dass es eine Struktur schafft, in die man viele Leute involvieren kann. Denn es ist wie ein ganzes Schiff mit Matrosen und Kapitänen und ersten Offizieren. Ich wollte dieses Arrangement mit vielen Personen und erzählten Handlungssträngen haben, allerdings auf eine abstrakte Weise, denn auch im Buch passiert nicht so viel. Sie segeln und segeln und segeln einfach für immer. Und sie jagen Wale und dann jagen sie den grossen Wal und dann sterben alle. Das also ist die Geschichte, aber im Rahmen dieser können wir das Ganze ziemlich stark erweitern, in alle möglichen Themen. Hast du einen Lieblingsmoment im Buch oder ist das die Gehirnmassage? Die Gehirnmassage war das, was das ganze Buch für mich geöffnet hat, aber ich würde nicht sagen, dass es die wichtigste Szene im Film ist. Das entwickelt sich noch. Wir arbeiten an dieser virtuellen Technologie, um einen Ozean zu erschaffen, den wir um das Schiff herum projizieren werden und für mich ist das ein Raum, in dem die Geschichte zusammenkommt, auch wenn es nicht unbedingt die Schauspieler sind, sondern nur das Wetter, das sich ändert. Ich habe kürzlich etwas über Wallace gelesen und einer der Autoren, der sich auf das Gefühl der Einsamkeit konzentrierte und wie man sich in dieser Weite der Einsamkeit wirklich verlieren kann, erwähnte eine Szene in Moby Dick mit Pip und wie er verloren ist, als er über Bord fällt; in dieser weiten Landschaft zu sein und den Sinn für die Realität zu verlieren, weil die Welt so überwältigend ist, das war die Parallele zu Wallace und ich dachte: Wow, das ist interessant! Ja, das ist super interessant, dass du diese Szene beschreibst, denn Pip wurde in unserer Version von Moby Dick die wichtigste Figur. Pip ist so eine Art Nebenfigur, denn sie sind Kajütenkameraden, sie sind viel unterwegs und es passieren ihnen Dinge, aber man bekommt nie wirklich einen grossen Einblick. Die Hauptfigur ist natürlich der junge, impressionistische, weisse Matrose und alles wird aus seiner Perspektive erzählt. Aber in unserer Version ist Pip die eigentliche Hauptfigur. Wunderbar! Ich mag die Szene, in der sie ins Meer fallen. Es ist eine sehr wichtige Szene für uns. Sie gehen tatsächlich hinunter in die Tiefen des Ozeans und entdecken die Geheimnisse des Universums. Sie tragen sie zurück an die Oberfläche, aber wir erhalten nie Zugang dazu. Das gehört ihm und ist privat. Ja, genau. Und dann ist da etwas, das man in extremer Isolation wahrscheinlich für sich selbst entdecken kann. Und ich denke, dieses Thema der Isolation in der übersättigten Gesellschaft ist für mich der Punkt, an dem wir irgendwie anfangen, uns miteinander zu verbinden. Ich glaube besonders jetzt, denkst du nicht auch? Ganz genau! Und diese Stücke sind es, die mich faszinieren, wie unser Unterbewusstsein künstlerisch arbeitet... dass Menschen wie du und ich, die in ganz anderen Medien arbeiten, die Dinge anders und mit anderen Methoden behandeln, auch sehr viel aufnehmen, verarbeiten und reflektieren von diesem grossen, gasförmigen Rauschen, in dem wir schwimmen und das uns umgibt, oder? Ja. Irgendwie ist es eine grosse Kraft, mit der wir es zu tun haben. Ist das auch das Thema, das in beiden Projekten auftaucht, denn du machst ja zwei, oder? Ja, ich entwickle gerade ein zweites Stück nach einem Roman des Österreichers Arthur Schnitzler, das aber nicht mehr in dieser Saison Premiere haben wird. Ich arbeite gemeinsam mit zeitgenössischen Autor*innen daran. Sie werden den Text vom Ende des 19. Jahrhunderts aus ihrer Sicht und aus ihrer persönlichen Erfahrung betrachten. Ich ermutige sie, beim Schreiben wirklich das Hier und Jetzt zu erfassen, in diesem Moment lebendig zu sein, in Verbindung mit dem zu sein, was im Stück passiert; und ich denke, es kommen wirklich schöne Dinge zusammen. Auch wenn die Autoren jeweils nicht wissen, was die anderen tun, sagt die irgendwie grosse Stimme, die vielstimmige Stimme darin etwas sehr Wichtiges über Beziehungen aus, über zwei Menschen, die sich treffen und versuchen, sich näher zu kommen. Wieder ist diese Frage der Weite und der Möglichkeit präsent, aber auch das extreme Gefühl, allein oder isoliert zu sein. Selbst wenn man eine Begegnung mit jemandem hat... was übrig bleibt, ist doch man selbst; man muss sich die ganze Zeit mit sich selbst auseinandersetzen. Das ist eine kollektive Erfahrung, welche die meisten Menschen im Moment erleben. Ja, und diese extreme Hypersensibilität für Berührungen, für Kontakt. Und hast du diese Geschichte vor Covid ausgewählt? Ja, wir haben einfach nach Begriffen für Beziehungen, Intimität, Sexualität oder Begegnungen gesucht. Als Schnitzler das geschrieben hatte, das war in Wien, in einem sehr hedonistischen Moment, in dem die Leute sich auslebten, das Gefühl hatten, es liegt etwas in der Luft, es kommt etwas, dieses Ende der Welt, der Erste Weltkrieg würde bald ausbrechen. Diese Hölle, wenn man wirklich am Abgrund steht, da gibt es eine Art von Aufladung in der Art, wie die Leute diese Extremsituationen gelebt haben. Und ich habe das Gefühl, da ist immer noch etwas... jetzt sind wir als Gesellschaft auch in sehr extremen Umständen. Also, es ist irgendwie wirklich unheimlich, wie dieser Text oder dieser Moment, dieses Stück, das vor 100 Jahren unter jenen Umständen funktioniert hat, irgendwie wieder aufgeladen werden kann. Ich denke, wir haben das gut gemacht, Wu! Wir haben alle unsere Stücke behandelt. Ja, finde ich auch! Cool! Es war schön, dich zu sehen. Ja, bis bald. [13:46]
1 1991 wurde der Afroamerikaner Rodney King in Los Angeles Opfer unverhältnismässiger Polizeigewalt. Nach dem Freispruch der Täter brachen in LA mehrere Tage währende Aufstände los.