Directors Talk: Suna Gürler
und Benjamin von Blomberg

In der Reihe Directors Talk nehmen Sie unsere Hausregisseur*innen Alexander Giesche, Suna Gürler, Trajal Harrell, Yana Ross, Christopher Rüping, Nicolas Stemann, Wu Tsang sowie Co-Intendant Benjamin von Blomberg in acht Gesprächen mit in die Produktionen der Spielzeit 2021/22. Sie haben sich während des zweiten Lockdowns auf Zoom zum Austausch über das Hier, Jetzt und Morgen getroffen, immer zu zweit, einmal reihum. Die Gespräche sind Teil des Saisonvorschau, die die Spielzeit 2021/2022 vorstellt und ab sofort in all unseren Spielstätten ausliegt, sowie kostenlos online bestellt werden kann. 


erschienen am 14. August 2021

«Da wächst eine Kultur.»

[18:00] Suna Gürler: Hello, du siehst ja auch nicht mehr so ganz frisch aus… Benjamin von Blomberg: Ne, so fühle ich mich auch nicht. Aber es ist trotzdem ganz okay. Also örtlich sind wir uns ausnahmsweise gerade ziemlich nahe, weil ich auch im Pfauen bin. Das ist ja auch eher eine Seltenheit gerade. Ideell fühle ich mich dir auf jeden Fall nah. Und wir verbringen ja auch echt viel Zeit miteinander. Ich empfinde stark, dass du weisst, was es heisst, diese Institution mitzugestalten. Ich bin sehr dankbar über diese Nähe. Wie fühlt sich das eigentlich für dich an? Wie produktiv ist diese Vielfachwesenhaftigkeit für dich, als Künstlerin, als Mensch, als Theatermacherin, Co-Leiterin Theaterpädagogik und Direktionsmitglied? Ja, ich sage manchmal, das ist mein Pech, dass ich mich interessiere für den ganzen Struggle und wie man dann dieses oder jenes Problem in der Institution löst. Ich finde es sehr viel schwieriger, mich einzusetzen für die Regisseurin in mir, weil das eine sehr verletzliche, fragile Position ist. Ich mache mich ja komplett nackt mit meinen Ideen, die ich auf die Probe bringe. Ich finde, das ist feine Arbeit, in der ich eigentlich nicht kämpferisch sein will. Dafür braucht es Vertrauen im Raum und Offenheit und Zugewandtheit, um Dinge ausprobieren zu können. Da für eine Probe dann den Schalter umzulegen nach einer Direktionssitzung ist manchmal schwierig. Da komm ich so mit meiner Rüstung rein und… Weisst du, manchmal, da weiss ich gar nicht, wie ich diese Rüstung dann wieder ausziehen kann. Also es fällt mir viel leichter, einfach in der Direktionsrunde auf den Tisch zu hauen und zu sagen «verdammte Scheisse, die Jugendclubs müssen das und das, warum wurde das vergessen? Wir müssen jetzt dafür kämpfen, dass es diesen Raum gibt für diese und diese Leute», das ist kein Problem für mich. Es ist für mich einfacher, für andere Fürsprecherin zu sein als für mich selbst. Aber jetzt frage ich zurück: Wie geht es denn dir mit deiner Rolle, zum ersten Mal Intendant? Fast zwei Jahre Intendanz inklusive Pandemie und vom Dramaturgen zum Co-Intendanten? Tja… Das ist eine grosse Frage… Ich stell sie mal so: Lebst du noch? Ja doch, doch, das auf jeden Fall. Also eigentlich habe ich mich schon immer dem gewidmet, dass es sich überhaupt ereignen kann, dass Menschen auf eine gute Art und Weise zusammenarbeiten und sich diese Zusammenarbeit trauen. Dass sie sich in diese Öffnung hinein trauen, dass sie dabei bei sich selbst und frei sein können und sie dadurch beieinander sind in der wechselseitigen Anerkennung für den gemeinsamen Prozess des Sichtbarwerdens. Das war immer die Aufgabe, die ich mir gestellt habe und die ich gern mochte. Und der versuche ich auch jetzt noch gerecht zu werden. Was sich auf jeden Fall verändert hat, ist, dass ich mich für noch viel mehr verantwortlich fühle und dass das ganz schön anspruchsvoll ist. Ich habe aber weiter den Antrieb, dass alle glücklich sind, sich in ihren Rollen finden und das Gefühl haben, sie können sich entfalten. Ich weiss, ziemlich anmassend und naiv die Hoffnung. Und klar, es gelingt auch nicht. Ich mache Fehler. Ich mache nicht alle glücklich. Ich kann mir vorstellen, dass du geahnt hast, dass sowas auf dich zukommt. Hat dich diese Intensität dann doch überrascht? Ja, auf jeden Fall! Es ist zum Beispiel irre, wie langsam sich die Selbstwahrnehmung umbaut. Die Intendanten, mit denen ich bisher zusammengearbeitet habe, die verhielten sich wie Intendanten. Die gingen, sprachen wie Intendanten, die hatten die Verdrängung von Intendanten. Ich gehe über die Strasse und denk immer noch: Ich bin doch kein Intendant. Wenn ich spreche, denke ich, ich bin doch kein Intendant. Dass von aussen inzwischen für manche das Bild eines Co-Intendanten entsteht, ist vielleicht ein ganz gutes Zeichen, auch wenn sich das von innen nicht immer so anfühlt. Und ich immer noch für mich auslote: Wie sehr muss ich Intendant werden, um Intendant sein zu können. Ich find’s interessant: Die Körperlichkeit, die du beschrieben hast, beschreibt ja so eine klassische männliche Führungsperson. Von dem her hoffe ich, dass du deine Körperlichkeit jetzt nicht änderst, weil das ist doch auch mal schön, dass jemand den Stereotyp bricht. Was mich ermutigt hat, Regisseurin zu werden, war ein anderer Regisseur, Ives Thuwis¹, der auch nicht diese dominante Ausstrahlung hatte. Der auch auf den Proben Dinge gesagt hat wie: «Ich weiss nicht» oder «Lasst mich kurz nachdenken» oder «Ich weiss nicht weiter». Oder dass er manchmal seine Konzepte nicht einfach bam, bam, bam hinknallen konnte, sondern sehr vorsichtig beschrieb und auch betont hat, dass er nicht genau weiss, wo die Suche hingeht. Das hat mir erst ermöglicht, mich selber auch so zu denken, weil ich immer dachte als Jugendliche, man muss Wissen behaupten, Dominanz behaupten. Und deswegen finde ich solche Vorbilder sehr wichtig. Also lauf weiter schlaksig über die Strasse, bitte. Versprochen – wenn du wüsstest wie gern ich so anmutig gehen können würde wie Ondrej [Vidlar]! Ich glaube das Schöne am Theater als Lebensort und Lebensweise kann sein, dass Menschen mit sehr unterschiedlichen Herangehensweisen, sehr unterschiedlichen Talenten, Anmutungen und Temperamenten ihren Platz finden können. Und mein Instrument, das mir den Weg herein geebnet hat, war sicher nicht mein Gang! Sondern eher meine Beobachtungsgabe und mein Sprachvermögen – also wenn ich nicht Englisch sprechen muss, im Übrigen. Das ist schon horrormässig hier, woah! Also da denke ich auch manchmal: «Uff!» Das ist einfach nochmal doppelte Arbeitsleistung! Ja! Aber worauf ich hinauswill: Bei all der vielen, vielen Arbeit, die ich um die Ohren habe, bin ich glücklich, an diesem Ort zu sein. Ich finde, er bemüht sich darum, Menschen und damit auch mich möglich zu machen. Und noch eine Beobachtung: Ich sag‘s mal als Behauptung und stell’s dir dann als Frage, weil du das als Frau vielleicht auch anders wahrnimmst. Also wenn ich jetzt alle 300 Mitarbeiter*innen betrachte, finde ich, dass es nicht so viel männliches bam, bam, bam Gepolter am Haus gibt. Ich weiss nicht, ob du das auch so empfindest, aber für mich ist es auch verbunden mit der Mentalität der Schweizer*innen: um Höflichkeit bemüht zu sein, darum, nicht zu laut zu sein und dass das Gegenüber nicht das Gesicht verliert. Teilst du diese Einschätzung? Leider nein. Aber interessant: Schweizer toxische Männlichkeit kommt vermutlich anders daher als deutsche toxische Männlichkeit. Beschreib mal! Es ist halt eine andere Art. Deutsche Energie ist lauter, expressiver, das kann man schon so verallgemeinern. Schweizer Energie ist leiser und langsamer. Aber auch in der Schweiz werden Frauen mehr unterbrochen, wenn sie sprechen, werden ihre Ideen überhört und von Männern wiederholt, und die bekommen dann plötzlich Anerkennung. Das ist hier auch so. Und das ist auch am Schauspielhaus Zürich ein Thema. Aber das wird hier immer mehr gebrochen. Ich empfinde es stark so, dass die eigene Arbeitskultur hinterfragt und daran gearbeitet wird, dass Konflikte nicht unter den Tisch gekehrt werden. Da wächst eine Kultur. Aber ich würde lügen, wenn ich sage, ich erlebe das hier nicht, und ich habe das Gefühl, dass ich als Frau trotzdem manchmal stärker kämpfen muss, um gehört zu werden. Es gab so einen Moment… Oder möchtest du noch vorher etwas dazu sagen? Ne, mach mal. Ich habe gerade noch ein gutes Beispiel… Komm, sag du. Ich halte meine Gedanken fest. Im Haus werden konsequent die Regiearbeiten der Männer mit Nachnamen benannt. «Der Giesche-Workshop», «die neue Rüping-Inszenierung», «Stemanns Stück» und so weiter. Aber Suna ist Suna, Leonie ist Leonie, Yana ist Yana. Man würde nie «eine Ross-Inszenierung» sagen oder «Ich war auf der Böhm-Probe». Darauf musst du mal achten. Wirklich!? Ich glaube, du hast Recht. Ich habe mega Recht. Crazy! Stell dir mal vor, man würde von der Gürler sprechen, «die neue Gürler-Produktion». Aber weisst du warum? Warte mal. Okay, nein, ich habe keinen Grund dafür. Haha, ja doch: das Patriarchat. Als Schüler war ich die letzten Jahre auf dem Weg zum Abitur auf einer Jungenschule und da haben sich immer alle mit dem Nachnamen angesprochen. Ich habe das gehasst, wirklich gehasst. Ich fand den Klang so hart und grob, es hatte etwas Elitäres und Unpersönliches. Solche Beispiele gibt es zu Tausenden im Alltag. Es gibt diese männliche Dominanz einfach. Es wäre sehr, sehr, sehr, sehr bemerkenswert, wenn es die nicht gäbe, ich habe das noch nie erlebt. Wir kennen es nicht anders, das ist unsere Kultur. Man liest ja jeden Tag, die erste Frau wurde da gewählt, oh, eine Frau, düdüdü, dass ich Regisseurin bin, oh wow, Frau Regisseurin. Aber eigentlich ist alles, was wir tun als Frauen in dieser Welt, was nicht mit Kindererziehung, Pflege oder Prostitution zu tun hat, einfach eine Männerdomäne, in die wir reinkommen. Und da stehen wir gerade. Die Welt wird aufgerüttelt, verändert sich, da gibt’s ein Reindrängen. Wir haben jetzt zwei Wochen Vaterschaftsurlaub. So ist es aber auch mit allen anderen Themen: Es gibt eine dominante Gesellschaft, es gibt eine vermeintliche Norm, und die wird gerade sehr stark befragt. Damit sind wir ja auch beschäftigt am Schauspielhaus. Was auch schön benannt wurde in verschiedenen Arbeiten hier am Haus oder auch in der Podiumsdiskussion Exit Racism, ist, dass das Schauspielhaus eine traditionell weisse Institution ist und dass man das nicht einfach wegreden kann. Es ist so, und wir befinden uns in diesem Bewusstwerden, was das eigentlich bedeutet. Das schätze ich sehr, dass gerade eine aktive diskriminierungs-kritische Arbeit bei uns am Haus beginnt. Ja, eine Erkenntnis dieses Prozesses ist sicher gewesen, dass ich nicht davon ausgehen kann, für alle hier gerade den in jedem Detail richtigen Raum zu schaffen – in der totalen Tiefe des Wissens um die diversen Perspektiven und der Anteilnahme daran. Deine Skills sind nicht universal. Irgendwann einmal gab es eine gewisse Selbstgewissheit in meiner Praxis. Ich dachte, ich hätte alle Skills, um meinem Gegenüber ein guter Partner zu sein. Und ich habe sicher immer noch Skills, aber es ist dennoch irre, wie sich Schleier vor den Augen lichten. Und ich will diese Ungewissheit, ich will sie produktiv finden, aber sie ist zuerst einmal auch einfach eine handfeste Verunsicherung. Mir wurde zum Beispiel in einem Moment schlagartig klar, was du am postmigrantischen Gorki Theater in Berlin für Partner*innen gehabt haben musst. Und dass auch wir dir jetzt Partner sind, Nicolas und ich, die beiden weissen Dudes, aber in unserer Diversität sehr andere, um das mal so auszudrücken. Ich lerne gerade jeden Tag dazu. Und ich bin deswegen extrem froh, dass es so viele Menschen hier gibt, von denen jede*r lernen kann. Es gibt jetzt schon so viele unterschiedliche Stimmen hier, die dieses Projekt zu ihrem machen; die diese Institution konkret divers mitgestalten und Visionen entwickeln und umsetzen; die uns zusammenbringen und nicht trennen. Ich bin richtig stolz, wie wir auch die Corona-Zeit dazu genutzt haben, um weiter an einem Kulturwandel zu arbeiten. Aber es ist nach wie vor ein irrer Weg für mich und ein gigantischer Weg für die gesamte Institution. Wir haben die Selbstverständlichkeit verloren, auf eine richtig gute, völlig verunsichernde Art und Weise, würde ich sagen. Kannst du das nachvollziehen, diese Beschreibungen? Absolut. Ja, ja. Es gibt ja auch gerade eine gesamtgesellschaftliche Bewegung, die sagt, dass es die Norm nicht gibt. Also diese vermeintliche Neutralität, aus der heraus wir Theater machen, Stücke schreiben, Stücke inszenieren und spielen. Und dass es keine neutralen Schauspieler*innen gibt, sondern dass alle Menschen Kategorien zugehörig sind. Wir sprechen aus einer weissen Sicht, aus einer Schwarzen Sicht, aus einer queeren Sicht, aus einer armen Sicht, aus einer reichen Sicht, es gibt die Norm nicht. Das finde ich total gut. Ich habe überhaupt nichts gegen weisse, männliche Intendanten. Super, die sollen ruhig auch ein Plätzchen haben. Aber es ist total wichtig, dass wir checken, dass das keine neutrale Position ist, sondern eine sehr spezifische Bevölkerungsgruppe. Wenn du Intendanten aus dem deutschsprachigen Raum für ein Stück casten würdest, hättest du tausendmal die gleiche Rolle mit dem gleichen Typen. Du solltest ein Stück mit allen weissen Intendanten machen! Kommt auf meine To-Do-Liste, gut. Das wäre toll. Suna, ich freue mich auf unsere weitere Zusammenarbeit. Ich freue mich auf die Nähe und viele Rollentäusche. «Täusche?» Täuschungen, meinst du? Nein, ich meine das Tauschen von Rollen. Ich könnte mir gut vorstellen, dass wir beide mal die Rolle tauschen. Ich glaube ja auch, dass du oder Yana oder Christopher richtig gute Intendant*innen wären. Und mir fallen noch ein paar andere Kandidat*innen ein. Einen tollen habe ich auch an meiner Seite. Ich wollte grad sagen, ich finde das tatsächlich eine gute Idee für so eine Institution, die Rollen zu tauschen. Aber dann muss ich schon provokativ die Frage in den Raum stellen, ob wir dann auch den Lohn tauschen? Auf jeden Fall, das müssten wir tun. Vielen Dank, Suna. Danke für das Gespräch. Gut dich zu sehen. Tschüss, tschüss. Bis denne, ciao. [19:19]

1 Ives Thuwis-De Leeuw gehört seit vielen Jahren zum künstlerischen Kernteam des jungen theater basel. Sein neustes Stück born to shine, das er zusammen mit Sebastian Nübling und vielen Jugendlichen inszeniert hat, ist im Herbst als Gastspiel am Schauspielhaus zu sehen.