«Der Duft der Freiheit ist in den Bergen
ganz besonders deutlich greifbar»

Wem gehört die Freiheit? Diese Frage wurde im Entstehen der Wilhelm-Tell Produktion auch Expert*innen und Aktivist*innen gestellt, die den Rechercheprozess begleiteten. Vier von ihnen gaben für das Programmheft ihre Antwort auf die Frage. Die Beiträge werden nun auch in loser Reihenfolge im Journal veröffentlicht. In diesem Beitrag sinniert die Wissenschafts- und Naturphilosophin Sabine Baier über die Erfahrung politischer Freiheit in den Schweizer Alpen.


von Sabine Baier
erschienen am 14. Juni 2022

Wer die Wander- und Bergsteigewütigen am Sonntagmorgen am Hauptbahnhof Zürich aus sicherer Distanz und bei einem guten Espresso beobachtet, kommt schnell zum Schluss, dass es hier um mehr gehen muss als nur um sportliche Betätigung. Es geht um die ganz grossen Fragen, beispielsweise um die Frage nach der Freiheit und wer sie wo und wie finden kann. Das motivierende Credo eines schweisstreibenden Sonntagsausflugs in die Berge muss daher lauten: Je höher ich komme, desto freier bin ich. Dem Bergsteiger in Funktionskleidung als moderne Variante des urig-helvetischen Alpenbewohners gehört folglich die Freiheit; zumindest am Sonntag und in den Ferien.

Dass auf den Bergen Freiheit ist und die «reinen Lüfte» den «Duft der Grüfte» dort vergessen lassen, wusste auch schon Schiller im Jahr 1803. Doch wieso ist das so? Wieso fühlen sich so viele von uns tatsächlich freier nach einem Ausflug in die Berge?

Dass die Schweizer Alpen im Lauf des 18. Jahrhunderts von einem mysteriösen, potenziell Unheil bringenden Ort zum Symbol helvetischer Freiheit schlechthin avancierten, ist eine philosophiegeschichtliche Erfolgsstory par excellence. Mit der Einführung des Begriffs des Erhabenen durch Autoren wie Edmund Burke, Gustav Theodor Fechner sowie auch Immanuel Kant und schliesslich Schiller erfuhren wilde Landschaften – also solche, die sowohl von eindrücklichen räumlichen Strukturen als auch von einer Präsenz wilder Tiere geprägt sind – eine erhebliche ästhetische Aufwertung. Der Begriff des Erhabenen etablierte sich als wilde, raue Alternative zum vorherrschenden, eher lieblichen und gefälligen Ideal des Schönen. Steile Gipfel und schaurige Schluchten, wilde Bergtiere, reissende Wasserfälle, starre Gletscher, atemberaubende Ausblicke und launenhafte Wetterumschwünge: All das qualifizierte die Schweizer Alpen zur Vorzeigefigur des Erhabenen. Und wer etwas auf sich hielt, strebte nun danach, das Erhabene selbst zu erfahren – durch einen Ausflug in die Berge.

Ursprünglich als blosse Erweiterung unseres ästhetischen Beurteilungsraums gedacht, nahm die Idee des Erhabenen jedoch schnell eine bemerkenswerte Eigendynamik an. Was

Kant noch vermutete – dass das Erhabene einen Verweis auf unsere eigene menschliche Freiheit darstellen könnte –, war für Schiller bereits blanke Gewissheit. Und so reflektiert er in Über das Erhabene von 1801, dass die wahre moralische und politische Natur des Menschen sich in der Erfahrung des Erhabe- nen selbst erkennt. Er schreibt: «Die Freiheit in allen ihren moralischen Widersprüchen und physischen Uebeln ist für edle Gemüther ein unendlich interessanteres Schauspiel, als Wohlstand und Ordnung ohne Freiheit, wo die Schafe geduldig dem Hirten folgen und der selbstherrschende Wille sich zum dienstbaren Glied eines Uhrwerks herabsetzt.»

Was bei einem Ausflug in die Schweizer Alpen also in Wirklichkeit vor sich geht, ist die politische Selbsterfahrung mündiger Bürger*innen, die Erfahrung von politischer Freiheit. Es erstaunt also nicht, dass der Deutsche Schiller die Schweiz und den Freiheitskämpfer Tell als idealen Ort für sein Drama über das Recht auf Widerstand ansah. Der Duft der Freiheit ist in den Bergen eben ganz besonders deutlich greifbar, weshalb es auch bis heute so viele von uns dort immer wieder hinzieht.