«Willhelm Tell wäre
heute eine mittellose
Frau ohne Schweizer Pass»

Wem gehört die Freiheit? Diese Frage wurde im Entstehen der Wilhelm-Tell Produktion auch Expert*innen und Aktivist*innen gestellt, die den Rechercheprozess begleiteten. Vier von ihnen gaben für das Programmheft ihre Antwort auf die Frage. Die Beiträge werden nun auch in loser Reihenfolge im Journal veröffentlicht. Den Beginn machen Babak Fargahi, Fanny de Weck und Evin Yesilöz, die als Jurist*innen mit Schwerpunkt Migrationsrecht tätig sind. 


erschienen am 08. Juni 2022

Wenn die Freiheit frei wäre, würde sie niemandem gehören. Nun ist sie dies leider nicht, denn sie gehört einigen mehr und anderen weniger. Wir haben uns unsere Bundesverfassung gegeben, «gewiss, dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht». Das heisst, man muss die Freiheit zuerst haben, um sie gebrauchen zu können.

Der Schlüssel zum Gebrauch der Freiheit in diesem Land ist der rote Pass mit weissem Kreuz. Ohne Schweizer Pass bleiben vielen Menschen die Freiheiten verwehrt, die wir uns Schweizerinnen mit unserer Bundesverfassung gegeben haben. Ohne Schweizer Pass werden Menschen minutiös beobachtet: Über jeden Menschen, der ohne Schweizer Pass im Land lebt, wird eine Fiche geführt. In dieser wird registriert, wo die Person wohnt, ob sie arbeitstätig ist, Schulden hat, Sozialhilfe bezieht, mit wem sie zusammenlebt und wen sie liebt. Gemessen am gesetzlichen Begriff der «Integration», leitet das Migrationsamt daraus die Daseinsberechtigung einer Person ohne Schweizer Pass in diesem Land ab.

Verlangt wird aber die «Integration» in eine Gesellschaft der Unintegrierten. Denn als Schweizerin muss man nicht integriert sein. Als Schweizerin gehört einem die Freiheit: Die Freiheit, zu leben, zu lieben, wen man will, zu glauben was man will, zu sagen, was man will, und zu besitzen und nicht zu besitzen. Die Freiheit, die Freiheit zu gebrauchen.

So ist die «Integration» der Gesslerhut unserer Zeit: Alle Schweizerinnen ohne Pass müssen diesem Hut huldigen. Sie sind die Untertanen des «Herrenvolks mit Schweizer Pass», das – wie schon Max Frisch wusste – Arbeitskräfte, aber keine Menschen wollte. Das «Herrenvolk», das ignoriert, dass die Freiheit grösser wird, je mehr sie geteilt wird; und kleiner wird, wenn man sie Einzelnen verwehrt.

Willhelm Tell wäre heute eine mittellose Frau ohne Schweizer Pass, die unermüdlich für das Schweizer Bürgerinnenrecht kämpft. Denn erst mit der Einbürgerung lässt sie das Migrationsamt in Frieden. Erst dann ist sie frei, ihre Freiheit zu gebrauchen. Und erst mit dem Schweizer Pass gehört nun auch ihr die Freiheit ein bisschen mehr als anderen.