Mandy Abou Shoak:
Ich hoffe, das ist erst der Anfang
Im Rahmen der Inszenierung Bullestress wirft Enno Rennenkampff mit dieser Interviewreihe ein Licht darauf, was es bedeutet Theater und Kunst zu den Themen Rassismus und Polizeigewalt zu machen und an einer solchen Produktion beteiligt zu sein. Enno ist Teil des Theaterjahres am Schauspielhaus Zürich, spielt selber Theater im Theaterkollektiv Spotless aus Bern und schreibt nebenbei Texte zu Gender, Ängsten und der eigenen Identität.
Das Stück Bullestress, geschrieben von Fatima Moumoni und Laurin Buser, verhandelt wie fünf junge Freund*innen, die durch ihre Leidenschaft zur Musik verbunden sind, mit einem Vorfall rassistischer Polizeigewalt in ihrem Freundeskreis umgehen. Mandy Abou Shoak hat Soziale Arbeit studiert und lange als Sozialpädagogin an einer Schule gearbeitet. Mittlerweile arbeitet sie als freiberufliche Diversitäts-Beraterin in unterschiedlichen Settings. Sie unterstützt Kollektive, macht Workshops in Schulen und hat nun auch die Produktion Bullestress am Schauspielhaus Zürich begleitet.
von Enno Rennenkampff
erschienen am 26. Januar 2022
Enno Rennenkampff: Bei Bullestress arbeitest du als Anti-Rassismus Coach. Wann hast du das erste Mal vom Stück erfahren und den Text gelesen?
Mandy Abou Shoak: Ein erstes Treffen fand letzten Sommer mit Suna und Fadrina statt (Red. Anm. Suna Gürler ist Regisseurin der Inszenierung und Fadrina Arpagaus die Dramaturgin). Sie haben mir mitgeteilt, dass sie diese Produktion machen wollen und Laurin Buser und Fatima Momouni ein Stück schreiben werden. Ich war sofort begeistert und hatte Lust mitzuarbeiten. Gelesen haben wir den Text tatsächlich erst letzten Herbst.
ER: Was hältst du davon, rassistische Polizeigewalt in der Schweiz in einem Theaterstück für junge Menschen zu thematisieren?
MAS: Ich finde es grossartig! Es wird höchste Zeit, dass Geschichten von Diskriminierungserfahrung und deren Konsequenz auf die Bühne kommen. Für einen gesellschaftlichen Diskurs ist ein junges Zielpublikum sehr wichtig. Gerade junge Menschen kommen nicht so oft mit dem Thema Rassismus in Berührung. Klar, es gab die Black Lives Matter Bewegung, aber in der Schule lernen Menschen nicht viel über Rassismus, ausser die Lehrpersonen sind sehr engagiert. Deshalb ist dieses Stück gesellschaftlich so relevant und wichtig. Es macht den Diskurs für eine Öffentlichkeit sichtbar und zugänglich.
ER: Du machst auch Workshops mit Schulklassen. Was ist der Unterschied von den Workshops, die du in den Schulen machst, zu deiner Arbeit in der Produktion?
MAS: Der grösste Unterschied ist, dass die Workshops in Schulen einmalig sind. Ich komme und gehe und weiss nicht, was vorher und nachher passiert. Bei der Produktion von Bullestress habe ich eine Art Prozessbegleitung gemacht. Ich war immer wieder im Austausch mit unterschiedlichen Menschen innerhalb der Produktion. Das hat mir erlaubt immer wieder neu zu beurteilen, was es gerade für wen braucht und mitzukriegen, was gerade die Herausforderungen sind. Ich bin davon überzeugt, dass es viel mehr Prozessbegleitung braucht. Eine Herausforderung, die ich heute habe, habe ich morgen vielleicht nicht mehr. Deshalb sind diese Prozessbegleitungen aktuell sehr vonnöten, um der Komplexität eines Prozesses immer wieder neu gerecht zu werden.
ER: Wo siehst du als Anti-Rassismus Coach bei der Produktion deine Verantwortung?
MAS: Meine Verantwortung ist zweierlei. Einerseits habe ich Workshops gemacht und immer wieder gewisse Themen aufgenommen und bearbeitet. Andererseits war ich aber auch verfügbar für das Ensemble, wenn es sie persönliche Dinge besprechen wollten. Das Stück ist gefüllt mit Erzählungen von Situationen, in welchen sich Menschen mit Rassismuserfahrungen selbst wiedererkennen. Das zeigt die kollektive Dimension der einzelnen Geschichten. Auch ich erkenne mich in ganz vielen Figuren wieder. Es bietet viel Identifikationsspielraum.
ER: Welche Themen, die im Stück angesprochen werden, hast du in den Workshops wieder aufgegriffen?
MAS: Wir haben über strukturelle Diskriminierung, Rassismus oder Diskriminierung als Gewalterfahrung und den Umgang damit gesprochen. Eingestiegen sind wir mit dem Thema der Intersektionalität. Dazu haben wir versucht ein Spiel zu entwickeln, um Diskriminierung zu thematisieren. Oftmals wenn wir über Diskriminierung sprechen, sei es Rassismus, Heteronormativität, Abelism, Klassismus oder weiteres, sind wir bei der ersten Auseinandersetzung etwas hilflos. Das Entwickeln eines Spieles ist für viele Menschen eine erste Erfolgserfahrung. Sie sehen, dass sie mit ihrem selbst entwickelten Spiel andere Menschen in Hinblick auf Diskriminierung sensibilisieren können. Danach haben wir uns mit der Definition von Rassismus befasst. Mit der Tatsache, dass wir alle rassistische Witze kennen, die eine vermeintliche Menschengruppe abwerten, dass wir alle gewisse Kinderbücher lesen, die Kolonialisierung legitimieren wollen wie zum Beispiel Globi und wir alle Held*innen haben, die koloniale, rassistische Väter haben, wie zum Beispiel Pippi Langstrumpf. Das alles ist Teil unserer rassistischen Normalität. Damit ist Rassismus nicht etwas, das von einzelnen Personen und Individuen absichtlich gemacht wird. Rassismus betrifft uns alle, wir sind alle irgendwie Teil davon. Und ganz wichtig ist mir an dieser Stelle auch zu sagen, dass es darum geht, dass wir alle verstehen, dass wir in diesen Kategorien von «Wir» und «die Anderen» denken und das ständig dekonstruieren müssen, um Menschen nicht systematisch zu benachteiligen und auszuschliessen.
ER: Was für Werkzeuge hast du den Spieler*innen mitgegeben, um mit der emotionalen Last dieser Thematik umzugehen?
MAS:. Generell geht es mir in der Arbeit um die Themen Diskriminierung oft darum, einen Moment zu schaffen, in dem Menschen realisieren können, dass manche Erfahrungen, die Menschen als individuell betrachten, kollektive Erfahrungen sind. Rassismuserfahrung, also die Erfahrung von Abwertungen, und ausgeschlossen und nicht ernstgenommen zu werden, all das führt oft zu Schuld und Schamgefühlen bei betroffenen Menschen. Aber auch das ist eine kollektive Erfahrung. Sobald Menschen realisieren, dass diese Erfahrungen nicht individuell, sondern kollektiv sind, können sie diese Gefühle der Scham und Schuld überwinden.
So war es auch im Kontext von dieser Produktion wichtig zu merken, dass es Momente gibt, in denen sie sich die Spieler*innen mit ihrer Figur identifizieren können oder gewisse Parallelen sehen, aber auch diese Erfahrungen meistens nicht individuell, sondern kollektiv sind.
ER: Im Stück macht die Gruppe einen Prozess durch, der sehr schmerzhaft aber auch sehr wichtig ist.
MAS: Ja, das Stück behandelt so viele unterschiedliche Erfahrungen von Rassismus. Das ist grossartig. Was ich wirklich toll finde ist, dass dieses Stück so vielen Menschen eine Identifikationsmöglichkeit bietet. Ich hoffe es gibt noch ein Bullestress 2.0
ER: Wenn du in diese Probezeit zurückblickst, was konntest du dazulernen?
MAS: Wie viel Arbeit eine solche Produktion bedeutet. Es war für mich ein spannendes Erlebnis so nah bei einer Produktion dabei zu sein. Obwohl ich nicht jeden Tag bei den Proben war, war es sehr eindrücklich. Ich bin sehr berührt über die Spieler*innen und unglaublich inspiriert von dem Stück, das Fatima Momouni und Laurin Buser geschrieben haben. Ich hoffe sehr, das ist erst der Anfang. Es gibt einige Geschichten, die noch nicht erzählt wurden und unbedingt erzählt werden wollen.
ER: Gibt es einen Moment von den Proben, der dir speziell geblieben ist?
MAS: Als Mohammed Wa Baile von der Allianz gegen Racial Profiling zu Besuch kam. Er hat seinen eigenen Fall des Racial Profilings bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gebracht. Er kam für einen Workshop, der sehr berührend war. Wir haben über Racial Profiling geredet, unterschiedliche Szenen analysiert und Übungen dazu gemacht, wie man sich verhalten kann. Es war zwar ein sehr intensiver Morgen, aber auch ein sehr kraftvoller Moment
ER: Gibt es noch etwas, das du unbedingt noch sagen möchtest?
MAS: Ich bin unglaublich beeindruckt von Pauline, Moubi, Fayrouz, Samira und Flynn (Red. Anm: das Ensemble von Bullestress). Sie machen wirklich einen hervorragenden Job. Ich wünsche Ihnen alles, alles Gute und dass sie viel Spass haben beim Spielen dieser wichtigen Botschaften, die sie nach aussen tragen. Ich bin gespannt, welche Wirkung es auf die Menschen hat. Für ganz viele ist es ein grosses Ding, dass sie diese Geschichten erzählen. Ich bin so beseelt und gerührt und glücklich, dass genau sie das machen.