Andere Vorzeichen

by Mathis Neuhaus
published on 02. September 2020

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Der 16. März 2020 markierte den Beginn der «ausserordentlichen Lage» in der Schweiz – und auch das Schauspielhaus schloss bis in den Juni seine Tore. Wir geben zu: nach der Ankündigung des Bundesrats brauchten wir ein paar Tage; um zu verstehen, was in der Welt passiert; um zu überprüfen, was das für die Kunst bedeutet; und um zu überlegen, wie es weitergehen könnte.

Untätig bleiben wollten wir, nach einer selbstverordneten zweiwöchigen Karenzzeit, nicht. Und so wurde aus dem Schauspielhaus temporär das Zuhauspielhaus. Die Vorzeichen haben sich buchstäblich geändert und es entstand ein entmaterialisiertes Theater, dessen Bühne potenziell überall dort war, wo ein Internetzugang war. Zwar im Digitalen verankert, aber unter sehr realen Umständen entstanden. Mit angemessenem Sicherheitsabstand oder per Zoom, Skype, Facetime oder Telefon haben sich Arbeitsgruppen gefunden, konstituiert aus vielen der Beteiligten, die auch sonst das Programm des Schauspielhaus Zürich gestalten: unsere Regisseur*innen, Schauspieler*innen, Dramaturg*innen, Assistent*innen, Mitarbeitende der Kommunikationsabteilung und Techniker*innen haben losgelegt und Dinge in Bewegung gebracht.

Entstanden ist ein künstlerisches Zeitdokument, das in seiner inhaltlichen Diversität nicht nur die Agenda des Schauspielhaus Zürich abbildet, sondern auch immer für diesen seltsamen Frühling des Jahres 2020 stehen wird. Christopher Rüping inszenierte gemeinsam mit Mitgliedern des Ensembles Nachrichten vom Ende der Welt und zeigte seinen Dekalog, eine interaktive Theaterinszenierung für den digitalen Raum, basierend auf dem Filmzyklus des polnischen Regisseurs Krzysztof Kieślowski. Yana Ross führte, ebenfalls mit Mitgliedern des Ensembles, Interviews mit Ärzt*innen und Expert*innen weltweit, um sich ethischen Fragen der Triage anzunähern. Nicolas Stemann inszenierte die Corona-Passionsspiele, die im September sogar noch einmal auf der Bühne des Schauspielhaus zu sehen sein werden, und Tosh Basco und Wu Tsang präsentierten ihren poetischen Kurzfilm Next Round. Daneben gab es kurze Animationen von Luis August Krawen, die imaginierten, was im leeren Pfauen passiert, Gedichte für die Daheimgebliebenen von Sibylle Berg, essayistische Auseinandersetzungen mit dem Lockdown, kuratiert von Maximilian Haas und Joshua Wicke, ein Tanztryptichon von drei Tänzer*innen des Ensembles, die Möglichkeit, mit Mitarbeiter*innen des Schauspielhaus zu telefonieren oder die Window Talks von Alicia Aumüller und Yannik Böhmer: mehrsprachige und vielstimmige, intime, traurige und hoffnungsvolle Portraits von Senior*innen in vier Ländern, die pauschal als Risikogruppe zählen und nichtsdestotrotz das Risiko auf Leben noch immer auf sich nehmen. Ausserdem wuchs der Garten im Schiffbau weiter und weiter, unbeeindruckt vom Weltgeschehen, und Dramaturgieassistentin Marta Piras und James Bantone recherchierten spazierend zur Differenz der Mobilitätsmöglichkeiten diverser Menschen in der Stadt Zürich.

Um noch einmal nachzuvollziehen, was in dieser Zeit entstanden ist, möchten wir die Lektüre unseres Onlinejournals sowie den hier gezeigten Trailer nahelegen, in dem die Videokünstlerin Emma Lou Herrmann collagiert, was passierte.