Neutralitätspolitik: Zündholz oder Löschwasser?

Wer profitiert von den Bränden dieser Welt, wer legt sie, wer schaut zu - und was für eine Rolle spielt dabei die Neutralität? Im Kontext der Inszenierung Biedermann und die Brandstifter publizieren wir Kurz-Beiträge von Menschen, die sich intensiv mit der Schweizer Geschichte und mit dem Thema Neutralität befassen.


von Lea Haller
erschienen am 04. April 2024

Ein Mangel an Vorstellungskraft und an Haltung. Das ist es, was Herr und Frau Biedermann ins Unglück treibt in Max Frischs Theaterstück Biedermann und die Brandstifter: Ihr Haus geht nicht in Flammen auf, weil sie höheren Idealen folgend für das Wahre und Gute einstehen, sondern weil sie sich bei den Undercover-Brandstiftern anbiedern, weil sie es allen recht machen wollen, weil sie eine kleinliche Angst vor dem Gesichtsverlust haben. Es fehlt ihnen die Fantasie für die Realität – und das Rückgrat, in einer nicht idealen Welt emanzipiert und souverän zu handeln.

Ist ein Staat, der eine Neutralitätspolitik verfolgt, vergleichbar mit diesem anpasserischen Biedermännertum? Spielt er durch einen Mangel an Haltung mit dem Feuer? Da gilt es zunächst festhalten: Neutralität ist keine Eigenschaft. Sie ist ein Begriff, eine Worthülse, mit der sich ein Handeln oder Nichthandeln rechtfertigen lässt.

Entstanden ist das Konzept Neutralität im Zuge der Verrechtlichung von Kriegen. Erst als in der Antike eine geteilte Vorstellung davon aufkam, ab wann Krieg herrscht und ab wann Frieden, wer legitimiert ist, den Krieg zu erklären oder den Frieden zu besiegeln, konnte man auch die Rolle des Neutralen besetzen. Es war ein Status, der nur im Kriegsfall existierte; im Friedensfall ist die Neutralität obsolet. Das goldene Zeitalter der Neutralität begann 1815: Mit dem Ende der Napoleonischen Kriege wurde sie zu einem festen Bestandteil des internationalen Rechts, wie die Historikerin Maartje Abbenhuis in An Age of Neutrals zeigt. Nicht nur Kleinstaaten, auch Grossmächte propagierten sie.

Bis zum Ersten Weltkrieg war es denn auch kein Sonderfall, «neutral» zu sein, im Gegenteil, die meisten Staaten verhielten sich im Kriegsfall neutral. Das änderte sich mit zwei Weltkriegen, dem Kalten Krieg und den neuen Bedrohungslagen in einer multipolaren Welt. Im 20. Jahrhundert diente das Label Neutralität zunehmend dem aussenpolitischen Nichtstun, insbesondere der Nichtbeteiligung an Sanktionen. Doch wenn sich gewiefte Taktiker nur noch aussenpolitisch neutralisieren, um ihren Profit zu maximieren, hat die Neutralität jede überstaatliche Kohäsionskraft verloren.

«Die meisten Leute heutzutage glauben nicht an Gott, sondern an die Feuerwehr», beklagt sich der Brandstifter in Frischs Stück und appelliert an Biedermanns Gutmenschentum. Ein Staat sollte allerdings eher an die Feuerwehr als an Gott zu glauben, sich also strategisch klug positionieren – es sei denn, seine Neutralitätspolitik dient wirklich höheren, international koordinierten Idealen.