«Moral kann man lernen»

Related Artist at Risk Stas Zhyrkov, die ehemalige Hausregisseurin Yana Ross und der Dramatiker Pavlo Arie im Gespräch mit der Dramaturgin Katinka Deecke


von Katinka Deecke
erschienen am 09. Mai 2023

Katinka Deecke: Stas, seit fast zehn Jahren, seit Russland 2014 die Krim annektiert hat, machst du Theater über den Krieg Russlands gegen die Ukraine. Kannst du beschreiben, wie sich dein Blick auf das Theatermachen durch den Krieg verändert hat? Wie unterscheidet sich die Aufgabe des Theaters im Frieden und im Krieg?

Stas Zhyrkov: Ich arbeite seit 2011 als Regisseur und schon drei Jahre später, im Jahr 2014, begann der Krieg. Den wichtigsten Teil meines Regielebens habe ich also mit der Frage von Krieg und Frieden zu tun gehabt, ob ich wollte oder nicht. Aber auch vor dem Krieg war die Frage nach der ukrainischen Identität, die durch den Krieg mit so viel Dringlichkeit gestellt wird, wichtig für mich. Eigentlich ist sie seit jeher wichtig, weil Russland der Ukraine seit jeher verwehrt, überhaupt eine eigene nationale Identität zu haben. Wir waren immer hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch Russlands, die Ukraine in sein Imperium zu integrieren, und unserem eigenen Versuch, die ukrainische Identität zu definieren. Das ging und geht so weiter, ein ewiges Zerren und Ziehen. Vor 2022 konnte man noch russische Fernsehstars in ukrainischen Sendungen sehen. Wie war das möglich? Russland marschiert 2014 auf der Krim ein, und wir sehen uns weiterhin russische Fernsehsendungen an? Für mich war immer klar, dass wir uns von diesem russischen Einfluss befreien müssen. Deshalb beschäftige ich mich auch als Regisseur mit Fragen des Krieges und der Identität. Ich kann mich nicht wirklich an eine Zeit erinnern, in der diese Fragen für mich nicht wichtig waren. Aber natürlich hat sich am 24. Februar 2022 vieles geändert. Sogar ich, der ich mich schon vorher mit diesen Fragen beschäftigt und viele Aufführungen über Krieg und ukrainische Identität gemacht hatt, stand unter Schock, konnte es einfach nicht glauben. Das passiert doch nicht wirklich gerade in meinem Land! Aber doch, es passierte in meinem Land. Der grosse Unterschied für meine Theaterarbeit ist nicht Krieg oder nicht Krieg, sondern ob ich innerhalb oder ausserhalb der Ukraine bin. Ich war wirklich überrascht, als ich feststellte, dass ich mich ausserhalb der Ukraine viel freier fühlte. In Kyiv war ich künstlerischer Leiter eines wichtigen subventionierten Theaters, des Left Bank Theater. Die Leute haben mir sehr genau auf die Finger geschaut. Konservative Kritiker*innen und Politiker*innen, die nicht wollten, dass sich das Theater verändert, haben mir das Leben schwer gemacht. Aber hier: Niemand kennt mich, niemand erwartet etwas von mir! Das ist die totale Freiheit! Wenn ich eine schlechte Inszenierung mache, ist es nur eine schlechte Inszenierung, mehr nicht. Niemand kann mich feuern, nur weil ich einen schlechten Abend gemacht habe. Die Arbeit im Ausland hat weniger Konsequenzen für mich.

KD: Wir werden sehen, ob du damit richtig liegst...

SZ: Ich meine damit, dass die ungeschriebenen Regeln, was ich sagen darf und was nicht, für mich hier weniger klar sind. Ich weiss, dass man in Westeuropa viele Einschränkungen hat, was man sagen darf und was man besser nicht sagen sollte, aber gleichzeitig gibt es hier viel weniger Einschränkungen als bei uns.

KD: Was meinst Du mit Einschränkungen?

SZ: Ich meine die Grenzen dessen, worüber man reden kann und worüber man nicht reden kann. In der Ukraine ist es zum Beispiel nicht sehr üblich, über Queerness zu sprechen. Die LGBTQ-Community kann in der Ukraine nicht offen leben, nicht einmal in Kyiv. In Westeuropa ist es in Ordnung, schwul oder trans zu sein, zumindest ist das mein Eindruck. Man kann über alles reden, ohne Probleme zu bekommen. Gleichzeitig muss ich, wenn ich hier in Europa über den Krieg spreche, viel mehr erklären als in der Ukraine. Ich muss auch viel sensibler sein. Wenn man in der Ukraine heutzutage auf der Bühne über den Krieg spricht, ist es oft sehr lustig und komödiantisch, wir benutzen viele Schimpfwörter und machen uns über die Situation lustig. Wir haben z.B. ein Stück über einen russischen Soldaten, der der Haussklave einer ukrainischen Familie ist, und das ist so lustig, dass das Publikum nicht aufhört zu lachen. In Westeuropa könnte ich solche Witze nicht machen, das würde einfach nicht gehen.

KD: Yana, wir sind vor einem Jahr an dich herangetreten mit der Frage, ob du Interesse hättest, Sophokles’ Antigone im Pfauen zu inszenieren. Du hast eine Nacht darüber nachgedacht und uns dann ein Gegenangebot gemacht ... Könntest du diesen Prozess aus deiner Sicht beschreiben und wie es schliesslich dazu kam, dass Stas jetzt hier bei uns sitzt und in wenigen Wochen Premiere hat?

YANA ROSS: Es war ein sehr besonderer Moment, vor einem Jahr. Künstlerisch fühlte ich mich wie gelähmt. Noch eine Woche vor dem 24. Februar habe ich einen Workshop für Reigen abgehalten, und bereits dort hatten wir sehr intensive Diskussionen. In Reigen arbeiteten wir mit der finnischen Schriftstellerin Sofi Oksanen zusammen, die eine Szene über einen Trollsoldaten, über Desinformation und hybriden Krieg geschrieben hatte. Wir kamen sehr nah an sehr heisse Themen heran, und in gewisser Weise hatten wir das Gefühl, dass sich etwas anbahnte. Gleichzeitig war es für mich auch sehr seltsam, in diesem Moment in der Schweiz zu sein. Ich war wie gelähmt von dem schieren Horror dessen, was ich auf ukrainischem Boden geschehen sah, und dann war ich gelähmt von der reaktionslosen Stille in der Schweiz. Niemand kümmerte sich darum. In den ersten fünf Tagen nach der Eskalation des Kriegs gab es keine Reaktion von Schweizer Seite. Während die EU eine starke Position einnahm, schwieg die Schweiz. Was mich noch mehr schockierte: Die Schweizer Presse druckte die Schlagzeilen führender russischer Zeitungen Wort für Wort nach. Ich meine wirklich wörtlich. Was auch immer die russische Presse sagte, die Schweizer Presse sagte das Gleiche. Das war erschreckend und lähmend, ich hatte das Bedürfnis, etwas zu tun. Es kam mir in den Sinn, dass ich als eine einzelne Person, als eine Art einzelne Soldatin in der Schweiz, einer anderen einzelnen Person, einem anderen einzelnen Soldaten in der Ukraine helfen könnte. Wenig später habt ihr dann angerufen und mich gebeten, Antigone zu machen. Ich habe mich daraufhin an mein Netzwerk gewandt mit der Information, dass ich ukrainische Regisseur*innen suche, die meine Position übernehmen und Antigone am Schauspielhaus inszenieren könnten. Mein Gedanke war sehr praktisch: Ich wollte, dass jemand aus der Ukraine weiterhin Theater machen kann und ausserdem die finanziellen Mittel zum Leben hat. Und ich war sehr erleichtert, dass ihr meinen Vorschlag angenommen habt. Ich sehe viel guten Willen in der westlichen Öffentlichkeit, aber sehr wenig praktisches Handeln. Dieser Schritt, die Inszenierung an einen ukrainischen Künstler abzugeben, war im Vergleich zu vielem, was in der Schweiz an Unterstützung geleistet wird, unglaublich real und hatte auch nichts mit Ästhetik oder Kunst zu tun. Es hatte mit Menschlichkeit zu tun.

SZ: Am Ende hast du, Yana, mit deiner Geste viel mehr als nur einen «einzelnen Soldaten» unterstützt, denn nicht nur ich bin aus der Ukraine, sondern auch unser Autor, Pavlo, dann unser Komponist, Bohdan Lysenko, die Schauspielerin Vitalina Bibliv, mit der wir in Zürich gedreht haben, und auch unser Übersetzer, Sebastian Anton. Und du hast auch den Kontakt zu meiner Kollegin Tamara Trunova vom Left Bank Theater hergestellt, deren Stück Bad Roads im Dezember 2022 im Pfauen zu sehen war, und sie an ein Theater in Schweden vermittelt, wo sie jetzt als Regisseurin arbeitet. Deine Unterstützung ist für mich unglaublich, Yana!



KD: Pavlo, in Sophokles’ Antigone treten sich unvereinbare philosophische Prinzipien gegenüber, verkörpert durch Antigone respektive ihren Onkel Kreon. Es geht um Fragen der Moral und darum, wie und ob widersprüchliche Axiome nebeneinander existieren können. Wie würdest Du den Grundkonflikt beschreiben, der deine Antigone in Butscha durchzieht?

PAVLO ARIE: Ich habe mich zunächst gefragt, was genau für Sophokles wichtig war und auch für andere Autor*innen, die eine Antigone geschrieben haben, zum Beispiel für Jean Anouilh. In allen Antigones geht es meiner Meinung nach in erster Linie um Menschen, die Macht haben und darum, wie sie mit ihr umgehen. Für mich war aber weniger die Position des Mächtigen selbst interessant als die der Ohnmächtigen, also von Antigone. Die Darstellung von Macht als solche hat mich nicht so sehr interessiert wie vielmehr die Frage, wie unterschiedliche Menschen in unterschiedlichen Lebensrealitäten mit den Konsequenzen der Machtausübung eines Einzelnen umgehen. Ich wollte nicht die böse, diktatorische Macht darstellen, also die russische Position. Die hat etwas absolut Unmoralisches für mich, weil sie auf einer unendlichen Lüge gebaut ist, für die sich aber niemand schämt. Im Gegenteil, alle wissen von der Lüge, auch alle Gesprächspartner*innen, und trotzdem geht die Lüge weiter, als sei nichts gewesen. Der deutsche Nazismus der 1930er- und 1940er-Jahre war ehrlicher, denn die Nationalsozialist*innen haben unverblümt ausgesprochen, was sie vorhatten, und haben entsprechend gehandelt. Das Böse war das Böse und versteckte sich nicht. Die heutige Doppelmoral kreiert ein Labyrinth aus Lüge und Wahrheit, in dem sich niemand mehr auskennt. Und ich frage mich, wie man gegen diese Entwicklung ankämpfen kann. Was soll man sagen? Antigone ist für mich vor allem eine Frau, die Nein sagt. Sie macht nicht mit, passt sich nicht an, geht nicht den einfachen Weg. Die verschiedenen Frauen in Antigone in Butscha sind für mich Vorbilder des Widerstands, jede auf ihre eigene Art. Auch wir müssen lernen, Nein zu sagen. Wir dürfen nicht in der Doppelmoral verharren, in der wir vielleicht aufgewachsen sind, sondern wir können unsere Moral weiterentwickeln. Moral kann man lernen. Seit der Postmoderne denken wir, wir durchschauen alles, kennen die Abgründe des Guten und die Gründe für das Böse, wir denken, dass wir wissen, was böse am Guten und gut am Bösen ist. Wir denken nicht einmal mehr in Begriffen wie Gut und Böse. Ich glaube, das ist ein Problem. Ich will wissen, was gut ist und was böse ist. Ich will mich entscheiden für eine Seite, am besten für die gute.

KD: Yana, ich möchte anknüpfen an das, was Pavlo gesagt hat. Auch du sprichst, wenn du über Russland und die Ukraine redest, in sehr klaren moralischen Kategorien ohne jede pragmatische Komponente. Während viele in der Schweiz und generell in Westeuropa um ständige Differenzierung bemüht sind und versuchen, Ereignisse und Menschen in ihrer Widersprüchlichkeit zu beschreiben, bist du sehr klar in deinem Urteil und duldest keine Differenzierung. Schwächen der lange demokratische Frieden im Westen und die Möglichkeit, die Dinge ständig von allen Seiten zu betrachten, unseren moralischen Kompass?

YR: Das ist die Eine-Million-Dollar-Frage, Katinka …

KD: Ja, ich weiss... Als die bekannte ukrainische Autorin Oksana Sabuschko Anfang 2023 im Schauspielhaus zu Gast war, habe ich ihr die gleiche Frage gestellt. Vielleicht kannst du, die sich gut im Westen, aber auch gut in Osteuropa und Russland auskennt, uns helfen, diese Frage anzugehen?

YR: Der Schock, den Putin und der Krieg dem Westen am 24. Februar 2022 zugefügt haben, war ein erzwungener Weckruf. Natürlich gab es viel Schönfärberei, viel Propaganda, systemische, imperialistische Propaganda, die in den letzten 30 Jahren von Russland nach Europa gekommen ist. Aber welche Propaganda auch immer erfolgreich war, welche wirtschaftlichen und anderen Abhängigkeiten sich entwickelt hatten, sie kamen am 24. Februar zum Stillstand, als hätte jemand im Zug die Notbremse gezogen. Und jetzt gilt es eben, Geduld zu haben und Verantwortung zu übernehmen, indem man Fehler eingesteht. Das wird einige Zeit dauern, aber ich denke, es ist unumgänglich, vor allem auf politischer Ebene. Für die intellektuelle, künstlerische und akademische Gemeinschaft im Westen ist es hingegen eine viel schwierigere Frage. Die Geschichte hat gezeigt, wie unglaublich passiv unser Milieu ist, wie konformistisch, wie schnell es manövriert und es sich bequem macht. Wir müssen die Alarmglocken weiter läuten lassen!

SZ: Ich möchte deinen Gedanken durch ein kleines Beispiel ergänzen. Ich habe eine Freundin, der ein grosses europäisches Opernhaus vorschlug, eine Oper zu inszenieren. Gleichzeitig baten sie einen russischen Dirigenten, die Aufführung zu dirigieren, einen «guten Russen», wie wir in der Ukraine sagen. Viele Menschen im Westen wollen Ukrainer*innen und Russ*innen zusammenzubringen, um eine Art Friedensgespräch auf kultureller Ebene zu führen. Natürlich lehnte meine Freundin das Angebot ab. Die Oper hat das nicht begriffen und es brauchte viele Gespräche, bevor sie ihren Standpunkt verstanden. Für uns fühlt es sich heute an wie in den 1930er-Jahren in Deutschland. Es ist, als ob man 1939 eine jüdische Regisseurin und einen deutschen Dirigenten zusammenbringen wollte. Für mich fühlt sich das genauso an. Viele westliche Leute können das nicht verstehen und sagen dann: Na ja, es ist nicht wirklich wie in den 1930er-Jahren, du übertreibst. Aber wenn man diese Fotos sieht, wenn man diese Massengräber und andere Grausamkeiten sieht, wie kann man da nicht die Verbindung herstellen? Und zwar nicht nur zum faschistischen Deutschland, sondern auch zu den Massakern Stalins in den 1930er- und 40er-Jahren in der Ukraine unter der Besatzung der UdSSR. Der heutige Krieg in der Ukraine ist nicht nur eine Frage der Gegenwart, sondern eine Frage der Geschichte. Unsere Geschichte und ihre enorme Gewalt sind bis heute in der Ukraine nicht verarbeitet worden, denn das Raubtier Russland war immer anwesend und hat uns gehindert, unsere eigene Geschichte zu verarbeiten.

KD: Antigone von Sophokles ist ein Stück, das kurz nach dem Ende eines Kriegs spielt, in dem es einen Sieger und einen Verlierer gibt und in dem die Menschen versuchen, wieder eine Moral sowie eine Nachkriegsordnung aufzubauen. Antigone in Butscha hingegen spielt mitten im Krieg, die Kämpfe sind noch nicht vorbei. Wie Pavlo gerade sagte, stellt eure Inszenierung ganz andere Fragen als Sophokles. Kannst du, Stas, die Konflikte beschreiben, die unsere Schweizer Kriegsreporterin verfolgen, wenn sie nach Butscha reist und aus ihrem Alltag direkt in die Schrecken des Kriegs geworfen wird? Womit hat sie zu kämpfen – in Butscha, aber auch zu Hause?

SZ: Ich bin froh, dass unser Stück in der privaten Sphäre angesiedelt ist und nicht in der politischen Sphäre der früheren Antigone. Ich denke, im Privaten spiegelt sich auf einer anderen Ebene, was in der Politik und im Militär vor sich geht. Ich finde es interessant, in eine Familie hineinzuzoomen, in eine bestimmte Beziehung, die auf den ersten Blick nicht so sehr von den Geschehnissen in der Ukraine betroffen ist. Unsere kleinen privaten Probleme verschwinden nicht einfach, nur weil ein Krieg ausgebrochen ist. Die Frage zum Beispiel, ob man ein Kind haben will oder nicht, ist wichtig, trotz des Krieges. Ich bin mit all diesen US-amerikanischen Seifenopern wie Melrose Place oder Beverly Hill 90210 aufgewachsen. Diese Serien zeigten ein perfektes Leben, in dem Arbeit das Wichtigste war. Es war wichtig, produktiv und effizient zu sein. Niemand in diesen Serien dachte daran, ein Kind zu bekommen. Lange Zeit hatte ich diese kapitalistische Ideologie tief in meinem Kopf und handelte entsprechend. Erst als ich älter wurde, begann ich mich zu fragen, was wirklich wichtig ist. Wer wird bei mir sein, wenn ich verzweifelt und traurig bin? Oder in den glücklichsten Momenten meines Lebens? Viele Menschen wollen aus verschiedenen Gründen keine Kinder haben; andere würden gerne ein Kind haben, bis sie feststellen, dass sie nicht schwanger werden können. Diese Probleme interessieren mich. Als ich die Schauspieler*innen Michael Neuenschwander, Matthias Neukirch, Karin Pfammatter und Lena Schwarz kennenlernte und ihre wunderbare psychologische Intelligenz verstand, beschloss ich sofort, hier weiterzugehen. Auf der einen Seite die Frau im Westen, die kein Kind will und der eine Scheidung bevorsteht auf der anderen Seite die Frau in der Ukraine, die ihr Kind und ihren Mann verloren hat. Das schafft einen Kontrast, der mich sehr berührt. Ich bin sicher, die Leute werden sagen: Ach, das ist doch nicht Antigone, tsssss. Und natürlich: Es ist nicht Antigone, ja! Wir sind in einer anderen Zeit, in einem anderen Krieg, wir haben andere Fragen. Aber dennoch können wir uns mit dieser griechischen Heldin identifizieren, die sich Kinder wünschte, sich aber eine andere Aufgabe gegeben hat.

KD: Im letzten Jahr bist du viel in Westeuropa unterwegs gewesen, jetzt bist du seit zwei Monaten in der Schweiz. Angesichts all der anderen Länder, die du im letzten Jahr bereist hast: Wie würdest du die Einstellung der Schweizer*innen zur Ukraine beschreiben?

SZ: Schlafend. Schlafend und träumend. Und das ist für mich in Ordnung. Zu Beginn meiner Arbeit ausserhalb der Ukraine habe ich beschlossen, mich nicht daran zu stören, wenn die Leute meine Dringlichkeit nicht teilen. Wer bin ich, dass ich sagen kann, dass meine Realität gültiger ist als deine? Was kann ich machen, wenn die Menschen weder Verbindungen noch Erfahrungen mit der Ukraine haben? Ich kann sie nicht zwingen, für die Ukraine einzutreten und meine Angst und meine Leidenschaft zu teilen. Aber ich habe das Gefühl, dass in der Schweiz das Wissen und das Bewusstsein über die Ukraine und die Auswirkungen des Kriegs weniger entwickelt sind als in anderen europäischen Ländern. Aber auch das ist für mich in Ordnung.

KD: Pavlo, auch du bist ein im Exil arbeitender Ukrainer und wirst durch den Blick von aussen, durch unseren Blick unfreiwillig zu einer Art Stellvertreter der gesamten Ukraine. Wie gelingt es dir, diese Zuschreibung als «ukrainischer Autor» mit deinem künstlerischen Bedürfnis zu vereinbaren, über menschliche Beziehungen zu schreiben, mit Sprache zu arbeiten und den für dein Schreiben so wichtigen Humor nicht zu verlieren? Wie schaffst du die Brücke zwischen der zugeschriebenen Identität und deinem ureigenen künstlerischen Wollen, das über die Ukraine hinausgeht?

PA: Zunächst mal empfinde ich diese Zuschreibung in erster Linie als grosse Verantwortung und grossen Druck. Ich habe das Gefühl, ich dürfe keine Fehler machen und keine Gefühle zeigen. Ich muss tausendmal nachdenken, bevor ich etwas sage. Dazu kommt, dass ich die Zuschreibung gar nicht unbedingt als solche empfinde. Die ukrainischen Themen sind das, was mich im Moment am meisten umtreibt, ich kann eh an nichts anderes denken. Das heisst aber nicht, dass ich dann automatisch über die Ukraine als solche sprechen muss. Wenn ich über grosse Dinge sprechen will, kann ich das eh nur anhand von kleinen Dingen tun. Ich kann über eine Figur sprechen, über ihren Schmerz, über ihren Humor, ihre Missgeschicke, ihre Sehnsüchte. Wenn ich Glück habe, gelingt es mir, durch diese einfache Figur etwas Wichtiges und Grosses zu sagen. Anders geht es heute auch nicht, Pathos funktioniert nicht mehr. Wir müssen auf andere Weise zum Gehirn und zum Herzen der Menschen durchdringen. Und je besser ich eine Geschichte erzähle, desto höher ist die Chance, dass sie gehört wird und berührt. Natürlich machen wir zurzeit sehr viel Dokumentartheater, unsere Realität erzählt im Moment einfach viel mehr als irgendeine Fiktion. Auch in Antigone in Butscha arbeite ich viel mit echten Ereignissen und Erlebnissen, mit echten Geschichten, die mir selbst passiert sind oder mir erzählt wurden. Vor meinen Augen entstehen daraus echte Menschen, die etwas erlebt haben und deren Sprecher ich bin. Ich bin kein Repräsentant der Ukraine, sondern nur von ein paar einzelnen Menschen aus der Ukraine, in diesem Moment heute. Und gleichzeitig muss ich meine Perspektive umdrehen, denn unsere Antigone in Butscha spielt eben nicht nur in Butscha, sondern auch in der Schweiz und es geht auch um ganz klassische Beziehungsprobleme. Auch diese Perspektive versuche ich einzunehmen, mich in sie hineinzuversetzen. Das ist nicht ganz einfach, denn es ist eine andere Mentalität, es sind andere Geschichten, es ist eine andere Situation in der Zeit. Ich versuche durch Empathie einen Zugang zu diesen anderen Geschichten und Gefühlen zu bekommen. Empathie ist für mich sowieso der Schlüssel. Egal was du machst, du musst immer bereit sein, deine Empathie zur Verfügung zu stellen, damit du dein Gegenüber nicht nur rational verstehst, sondern auch sein oder ihr Fühlen.