Tender Talk Nr. 4
Annie Sprinkle, Beth Stephens und
Mithu M. Sanyal

Wie fühlt es sich an, mit der Erde verheiratet zu sein? Annie Sprinkle und Beth Stephens wissen es: Die beiden Künstler*innen und Gründer*innen des Ecosex Movement haben Planet Earth vor ein paar Jahren das Ja-Wort gegeben und führen seitdem eine künstlerische Liebesbeziehung mit der Natur – queer-feministisch, post-humanistisch, ökologisch, verspielt und voller Humor. Im Tender Talk #4 trifft das Duo auf ihre langjährige Freundin und Denkerin in crime, die Kulturwissenschaftlerin, Journalistin und Autorin Mithu M. Sanyal, die gerade mit ihrem ersten Roman «Identitti» und einem furiosen Ritt durch europäische Identitätspolitiken mitten ins Herz der Zeit trifft. Wir veröffentlichen an dieser Stelle die Aufzeichnung des Tender Talks und stellen ihr einen Erfahrungsbericht von Talaya Schmid zur Seite.

Content Warning: Im Tender Talk und Text werden unter anderem Beobachtungen zum Thema "Vergewaltigung" angestellt. 


von Talaya Schmid
erschienen am 31. März 2021

Lick a Tree and Masturbate

Ich war verlockt, es bei diesem Satz zu belassen: «Lick a tree and masturbate» – das Wichtigste in Kürze! Aber meine Freundinnen haben mir davon abgeraten. Deshalb folgt noch die lange Version meines Textes.

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Mit Annie Sprinkle, Beth Stephens und Mithu Sanyal treffen drei meiner Idole aufeinander: Annie war Sexarbeiterin, hat einen Bachelor in Fotografie und einen Doktortitel in Human Sexuality gemacht, weil sie im akademischen Kontext als Sexarbeiterin selber über ihresgleichen schreiben, ihren Raum einfordern wollte. Annie performte die legendäre Public Cervix Announcement, in der ihr Besucher*innen mit einem Spekulum und einer Taschenlampe in die Vagina gucken und ihren Muttermund entdecken konnten. Beth leitet den Studiengang Kunst an der University of California in Santa Cruz und ist multimediale Künstlerin. Vor über 20 Jahren trafen sich Annie und Beth Stephens, seither performen die beiden im Kunstkontext, z.B. an der documenta 14. Hier lernte ich die beiden kennen, als ich an ihrer Performance Free Sidewalk Sex Clinic mitwirkte. Annie und Beth sind miteinander, mit dem Meer, dem Mond und einigen anderen nicht-menschlichen Elementen unserer Erde verheiratet. Und sie sind die Begründerinnen des «Ecosexual Movement.»

Mithu Sanyal hat das für mich bahnbrechende Buch geschrieben über die Kulturgeschichte des Abendlandes – anhand der Darstellung des weiblichen Genitales: Vulva – Das unsichtbare Geschlecht. Seither weiss ich, dass die Vulva ist, was ich bis anhin Vagina nannte. Dass der Begriff «cunt» sich von queen, country und kin (Sippe/Verwandtschaft) ableitet. Und dass es die Sheela-na-gig gibt, die kraftvolle Darstellung einer alten Frau, die mit weit gespreizten Beinen ihre Vulva präsentiert und somit Dämonen fernhält.

Annie, Beth und Mithu sind überwältigende Fra:uen [1] im besten Sinne des Wortes und wegweisend sowohl für meine feministische, künstlerische Praxis als auch für meine sexuelle Emanzipation.

Trotz grosser Vorfreude darüber dieses Gespräch schriftlich zu begleiten, machte mich das Setting des Tender Talks als «First Date» – wie mir vom Schauspielhaus mitgeteilt wurde – nervös. Ein erstes Date finde ich schon per se stressig: Auf der Suche nach geteilten Interessen und Haltungen interessiert man*frau sich – oder versucht es zumindest für die Dauer des Dates – für das, was das Gegenüber erzählt und knüpft bemüht da an, wo frau*man kann. Ich muss schmunzeln, weil mir Anna Rosenwassers Kommentar zum Tender Talk zwischen Laurie Penny und Black Cracker in den Sinn kommt: Sie beschreibt das durch Körpersprache manifestierte gegenseitige Wohlwollen als «Nick-Spiel», das «nahezu ausser Kontrolle» gerät. Ein erstes Date also, aber vor Publikum und via Zoom in einer Zeit, in der Grenzen zwischen professionellem Leben und Privatem verschwimmen, in der unser Horizont sich auf unser Wohnzimmer begrenzt und ich Sehnsucht habe nach Weite, nach Abenteuer und Glamour. Stattdessen finde ich mich seit einem Jahr im immer gleichen Einheitsbrei wieder: Mein Sofa ist mein Arbeitsplatz, ist mein Club, ist meine Chill- und Sex-Zone und jetzt auch mein Theater. Und nun gucke ich von meinem Wohnzimmer aus ins Wohnzimmer, Arbeitszimmer bzw. auf die temporäre Bühne von Ikonen der Kunst, der Emanzipation, des Feminismus: Mithu links auf einer Couch sitzend. Annie und Beth auf Stühlen nebeneinander, im Hintergrund ihr hungriger Hund Butch auf dem Sofa, der pünktlich nach einer Stunde durch Bellen das Ende des Gesprächs einfordern wird. Los geht's:

Ausnahmsweise kennen sich die drei Menschen in diesem Tender Talk bereits. Ich bin erleichtert. Obwohl sie sich schon lange nicht mehr gesehen haben, helfen die gemeinsamen Erfahrungen und das gegenseitige Interesse an den sich inhaltlich überschneidenden Arbeiten, unmittelbar in die gemeinsamen Themen einzutauchen: «If it doesn't work out with your new book you can become a porn star! » schlägt Annie vor, denn Mithus neues Buch Identitti ist soeben erschienen. «Rocks are ecosexy, like you Mithu. You're ecosexy.» Alle lachen. Die Atmosphäre ist heiter. Der Einstieg gelungen.

«People who believe that sex should only be between a married man and a women, they have a hard time with our work.» Beth Stephens

Über Liebe, Sex und Lust zu sprechen, sei immer noch ein grösseres Tabu als über Gewalt und Kriege zu sprechen und zu forschen, sagt Annie und schlürft aus ihrer Tasse auf der in schwarzen Lettern «Peace» steht. Auch mir wird immer wieder geraten, mich mit etwas Anderem (z.B. mit Artensterben!) auseinanderzusetzen statt mit Sexualität, Lust und Pornografie, um meinen Ruf nicht zu ruinieren. Artensterben – vielleicht, wenn ich es mit Ecosexuality verbinde? Der Grundgedanke davon ist, dass Menschen Teil der Natur sind, weil wir aus denselben Elementen bestehen. Aber wir grenzen uns ab von der Natur und von anderen Menschen indem wir in starren Kategorien denken.

«Humans are raping earth, that's why we have climate change.» Beth Stephens

Mithu sei mit dem Satz «be careful» aufgewachsen: Mit der Aufforderung, nicht Opfer sexueller Gewalt zu werden. Eine Angst, die viele Frauen begleitet und die sich kürzlich im Hashtag #textmewhenyougethome manifestiert hat – als Reaktion auf den Mord an Sarah Everard durch einen Polizisten in London. Wie wär's, wenn wir Kindern, statt sie vor Menschen zu warnen, beibringen würden, sie sollen einander nichts Böses tun?

Der Tender Talk thematisiert Vergewaltigung und Mithu erzählt, wie das binäre Denken diesbezüglich nicht mit ihren feministischen Werten vereinbar sei: Über Vergewaltigung wird in Form von zwei Gendern gesprochen, wobei es von Anfang an klar ist, wer Täter («aktiver Mann») und wer Opfer ist («passive Frau»). Diese Denkweise widerspricht der Überzeugung von Mithu, die ein viel breiteres Spektrum an Genders kennt, in dem Menschen nicht von Beginn an starren Rollen zugeordnet werden. In Mithus Feminismus gibt es «typisch weiblich» oder «typisch männlich» nicht. Wie falsch diese Unterteilung ist, zeigt sich auch heute noch im Strafrecht der Schweiz, wo nur «Penis-in-Vagina-Penetration» als Vergewaltigung gilt und folglich nur Menschen mit Penis Vergewaltiger sein können. Für die als Frauen sozialisierten Menschen gilt die gesellschaftliche Erwartung, dass sie nach einer Vergewaltigung bis ans Lebensende traumatisiert sind bzw. zu sein haben. Das macht es schwierig zu heilen. Warum wiederholen wir diese Erzählungen, die uns nicht stärken, uns nicht empowern? Und welche Konsequenzen tragen wir als Individuen und als Gesellschaft davon? Diese Fragen waren Anlass für Mithu, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen und das Buch Vergewaltigung zu verfassen.

Sprüche wie «benimm dich nicht wie ein Mädchen», sprich: «sei ein Mann, denn Männer sind besser als Frauen», oder «sei kein Beta-Mann» also «sei stärker, erfolgreicher, dominanter als andere Männer»: Solche patriarchalen Denk- und Verhaltensweisen machen es vor allem für als Männer sozialisierte Menschen schwierig, Empathie zu entwickeln für andere – und nachsichtsvoll, liebevoll zu sein mit sich selber, sich sogenannte «Schwächen» zuzugestehen. Dabei können wir uns gegenseitig dabei unterstützen, Mitgefühl für andere und eigene Verletzlichkeit zu zeigen. Dasselbe gilt für unsere Umwelt: Sie nicht auszubeuten und zu missbrauchen und stattdessen empathisch und rücksichtsvoll zu handeln.

Wir müssen darüber sprechen, was wir wollen, nicht bloss darüber, was wir nicht wollen, und – um es mit Annies Worten zu sagen – «Pleasure Activists» werden. Weil wir «das Böse» (auch in uns selber) nicht loswerden können, gehe es darum herauszufinden, wie wir heilen und in einer gesunden Gesellschaft miteinander leben können. Denn binäres Denken in Form von «gut» und «böse» bringt uns auch hier nicht weiter, sondern stellt eine Form der Kontrolle dar. Ausserdem kann auch die Natur grausam sein, fügt Beth hinzu: «A wave can come and take you!» und weil wir Teil der Natur sind, sollen wir alles was dazu gehört als Element von uns anerkennen und annehmen, ohne es als «gut» oder «schlecht» zu werten – sondern ecosexuell sein! Und Liebe radikal teilen!

«And I would love to one day have the conversation with you about pleasure activism and the sacred prostitute and an extremely sexpositive perspective on that topic (of rape) that I would be really afraid to have publicly, honestly.» Annie Sprinkle

Der Tender Talk nimmt eine neue Wendung und Mithu, Beth und Annie kommen auf People of Color zu sprechen. Offenbar gelten an verschiedenen Orten unterschiedliche Ansichten darüber, wer als PoC wahrgenommen wird. Annie erwähnt die «one-drop rule» in den Staaten, wonach eine Person, auch wenn nur ein*e entfernte*r Verwandte*r vor Generationen Schwarz war, als Schwarz oder PoC gilt. Nebst der Hautfarbe gehe es dabei vor allem um Machtpositionen. Dann sprechen die drei über Cultural Appropriation und Grosszügigkeit. Es fällt der Vergleich zur westlichen Kunstwelt, die lange von weissen Männern bestimmt wurde: Die These wird geäussert, dass sich die weisse, männliche Kunstwelt immer noch ausschliesslich selber reproduzieren würde, wenn nicht ebendiese Männer begonnen hätten, auch Werke von Fra:uen, POCs und Minderheiten zu zeigen. Weil diese Menschen die Plattform nicht hatten um es selber zu tun. Aber ich meine: Fra:uen, PoCs und Minderheiten haben hart dafür gekämpft sichtbar zu werden, gehört zu werden, den ihnen zustehenden Raum zu bekommen. Und ohne das Einfordern unserer Rechte sähe es nicht anders aus als noch vor kurzem – und der Weg zur Gleichberechtigung ist noch ein langer.

«It is more difficult to make people come together in more complex configurations, so that everyone gets what they need rather than there just being one thrust, one way, one money shot, because it's harder to control that. And (...) these different systems where control is not the goal, or being right is not the goal, but where everyone can be right, and everyone can be wrong is ok – it's much more difficult to handle that.» Beth Stephens

Nach einer langen Diskussion endet der Tender Talk mit einem rührenden Moment gegenseitiger Liebesbekenntnisse: Mithu dankt Annie und Beth für ihren Aktivismus und ihre Arbeit, die das Schaffen von Mithu seit Anbeginn inspiriert und beeinflusst hat. Annie und Beth danken Mithu dafür, wie sie zu so vielen ihrer Performances kam und ihnen ein Gefühl der Sicherheit gab: «Thank you for holding the space for us.»

In der Fragerunde geht es dann unter anderem darum, dass wir Selbstliebe zelebrieren, wenn wir masturbieren. Dass die Luft unsere Lungen penetriert, wenn wir atmen und weil wir alle eins sind, das Universums durch jede*n einzelne*n von uns «pleasure», Lust, empfindet. Ein Hohelied auf die Masturbation.

Hug a tree (...) and really give yourself to that tree, press your body against it, smell it, lick it.» Annie Sprinkle

Und nachdem Fadrina Arpagaus, die Gastgeberin des Schauspielhaus, uns verabschiedet und allen einen schönen Tag und ganz viel Liebe wünscht, ergänzt Mithu energisch:

«...and masturbate!!! I learned this from you, Beth and Annie.» Mithu Sanyal

Ja, masturbieren tut gut und ich bin beglückt und inspiriert nach diesem Tender Talk. Weil die drei Personen sich schon kannten, habe ich keine bemühten Annäherungsversuche miterlebt, sondern konnte mit ihnen direkt in die Materie eintauchen. Somit war es von Beginn an ein tiefgründiger, gelungener Tender Talk ohne die Stressfaktoren von einem ersten Date und ich habe gesehen, wie auch Diskussionen rund um Tabus und bedrückende Themen «tender» geführt werden können.

Reading List


Mein Text ist entstanden aus dem Austausch mit meinen Freund*innen. Ein besonders grosser Dank geht an Angela Gallati, Jenny Rieger und Simona Schmidt. Und an Angie Walti, Karla Gutierrez, Cendrine Schmid und Flavia da Costa: Danke für's dabei sein, für eure engagierten und kritischen Stimmen, für eure Unterstützung und Freundschaft! I love you!

[1] Ich schreibe vereinfachend «Männer« wenn ich Menschen mit Penis meine und «Frauen» wenn ich Menschen mit Vulven meine. Der Doppelpunkt im Wort Fra:u und Ma:nn verweist darauf, dass es mehr als zwei Geschlechter gibt und dass Gender sozial konstruiert wird.