Female Rage und Weizentacos
Der Erfahrungsbericht zum ersten Livestream von Medea* in einer Inszenierung von Leonie Böhm
von Charlotte Theile
erschienen am 24. März 2021
Donnerstagabend, mein Freund hat Tacos mit Erbsenproteinhack bereitet.
Ich war den ganzen Tag in Videokonferenzen, jetzt kann ich aufs Sofa fallen und diese wunderbaren kleinen Teigfladen zusammenrollen. Ich bin glücklich, allerdings nur kurz.
FEMALE RAGE habe ich meinem Freund angekündigt, es ist ein Thema über das wir in letzter Zeit immer wieder sprechen. Wieso dürfen Frauen nicht wütend sein? Beziehungsweise: was passiert mit ihnen, wenn sie sich wehren, wenn sie laut werden oder ihren Unmut sonst wie öffentlich machen? Gibt es in unserer Gesellschaft überhaupt eine wütende Frau, die zum Vorbild taugt? Eine, die wir nicht total peinlich, hässlich und deplatziert finden? Ich muss auf meinen Puls achten, denke ich mir an der Stelle oft, Argumente werden nicht besser, wenn man die Lautstärke aufdreht. Ist das schon TONE POLICING mit mir selber oder ganz normale Freundlichkeit, die allen Menschen gut zu Gesicht steht?
Auf dem Bildschirm erscheint eine Frau, Leonie Böhm, die zu Medea Sternchen (geschrieben Medea*) einlädt. Es ist das erste Mal, dass dieses Stück digital übertragen wird, die Regisseurin hofft, es werde funktionieren. Spoiler: Es funktioniert ausgezeichnet.
Die beiden Schauspieler*innen, die sich bald darauf stöhnend aus einem Berg weisser Leintücher schälen, sind vom ersten Moment an so präsent, dass wir vergessen, in unsere Tacos zu beissen. “Habt ihr Nüsschen?” fragt Medea, und weil sie mich dabei so intensiv anschaut, fühle ich schon jetzt einiges. Verbundenheit mit dieser Figur, die da so verloren im weissen Nebelland herumsteht. Ausserdem eine Spannung, ein ungutes Gefühl. Es ist gleich so, dass sich die Schauspielerin, Maja Beckmann, die da ja eigentlich noch sie selbst und nicht Medea ist, schon in einem Modus von Verzweiflung und Auflösung befindet. Ich kann meinen Blick nicht abwenden von dieser Frau. Die Kamera glücklicherweise auch nicht.
Es könnte also sein, dass wir an diesem Abend eine Antwort bekommen auf die Frage, die mir im Deutschunterricht in der Oberstufe eher süffisant-voyeuristisch präsentiert wurde. Warum rastet diese Frau so aus? Weil sie geisteskrank ist, bananas, besessen von Hass auf Jason, der getan hat, was man eben manchmal so tut als Mensch: sich jemand neuen suchen?
Eine Frau, die das anrichtet, was wir bis heute etwa einmal die Woche in der Rubrik Vermischtes lesen - ein Familiendrama. Nur, dass es nicht Familiendrama heisst, wenn eine Frau tötet. “Unvorstellbares Grauen” schreiben die Zeitungen dann. Und, natürlich: Mord.
Medea, die Frau, die Jason den grosstmöglichen Schmerz zufügt, indem sie seine Erben umbringt, wird an diesem Donnerstag als Mensch gezeigt. Als Frau, die trotz fluoreszierend blauem Makeup normal aussieht. Älter als 22, wirres Haar, ein Flackern in den Augen, im Gesicht Lachfalten und Falten, die ernster aussehen. Eine Frau, die immer wieder versucht, sich selbst einzufangen, ihren Shit together zu bekommen, wie man so sagt. Doch es gelingt nicht. Obwohl sie sich sehr anmutig bemüht, verschmilzt sie nicht mit den Kissen unter sich. Auch viele andere Fassaden, an denen sie sich versucht, zerbröckeln unter ihrem Schmerz. Ihre Wut ist körperlich spürbar, sie bahnt sich ihren Weg. Je stärker sie versucht, sie zu unterdrücken, desto höher schlagen die Wellen.
Johannes, der am Klavier sitzt und sie mit einfühlsamer, gewaltiger Musik und mit Worten begleitet, sagt das, was ein empathischer Mensch angesichts von so viel Schmerz eben sagt. Er ist da, er versteht, aber es wird ihm hin und wieder auch zu viel, ist ja nicht sein Schmerz. Und: Dabei sein, wie jemand anderes leidet, das ist auch schwer.
Zwischendurch wird es lustig, regenbogenfarben, absurd. Medea erzählt, wie sie zur Abwechslung mal ihre Mutter gebären wollte, sie dann aber doch als Miniatur in sich eingeschlossen hat. Wir lachen, jetzt gehen auch wieder ein paar Bissen Erbsenprotein. Johannes und Medea singen auf dem Klavier-Boot von der Liebe, kurzer contemporary Covid-Moment, einatmen, ausatmen.
Wir wissen ja, was folgen muss. Medea ist Medea und Medea rastet aus und bringt Tod und Verderben. Ich ertappe mich bei dem Gedanken, dass ich diese Figur verdammt nochmal nicht hassen möchte und spiele mit dem Gedanken, den Laptop zuzuklappen. Ich mag keine Katastrophen. Ich will, dass Medea mit dem Sternchen auch die Macht bekommt, ihre Wut anders zu nutzen, gegen ein System zum Beispiel, in dem Frauen so sehr von ihren Männern abhängig sind, dass sich das Aussortiert-und-mit-einer-Jüngeren-ersetzt-werden wie das Ende von allem anfühlt. In einer besseren Welt könnte es ja sein, dass Medea ohne Jason viel besser dran wäre, dass das Leben für sie ein erfülltes Single-Life oder eine neue Liebe bereit hält.
Doch das ist Quatsch. Medea ist nicht einfach genervt von den widrigen Umständen, die das Leben Frauen bis heute bietet. Medea ist eine “in tiefster Seele gekränkte Frau”. Sie kämpft mit Ängsten, die viel grösser sind als sie selbst, der Druck, der auf ihr lastet, ist zu viel, um ihn mit einem guten Coaching abzuschütteln. Sie ist, am Schluss, ein Stier mit rauchenden Nüstern, wütend, bebend, von niemandem beherrscht, erst recht nicht von ihr selbst.
Mein Freund und ich starren in den Bildschirm, unfähig, uns zu bewegen. Mit etwas zittrigen Fingern notiere ich die drei Ängste, die Medea beschreibt: Dass ich nicht reiche, dass ihr mich verurteilt, dass ich nichts bedeute. Ich denke, eine von diesen drei Ängsten spürt vielleicht jeder Mensch so tief in sich, dass an diesem Punkt eine Verletzbarkeit liegt, die gefährlich werden kann. Ich nehme mir vor, meinen Freund zu fragen, ob er das auch denkt.
Der Abspann läuft. Auf dem Display sehe ich, dass immer noch fast alle der 350 Zuschauer*innen den Stream laufen lassen. Am Schluss übernimmt das Schauspielhaus für uns die Aufgabe, die sich gerade zu schwierig anfühlt: abschalten, loslassen, weiter gehen.