Erinnerter Raum
Ein Gespräch mit Jonathan Mertz über die Bühne der Inszenierung Einfach das Ende der Welt von Christopher Rüping
von Mathis Neuhaus
erschienen am 02. Mai 2022
Mathis Neuhaus: Ich würde gerne einsteigen mit einem Zitat aus dem Programmheft, in dem Christopher sagt: «Die Bühne ist ein Erinnerungsraum und das Bühnenbild ein erinnerter Raum.» Welchen erinnerten Raum hat das Publikum in «Einfach das Ende der Welt» vor sich?
Jonathan Mertz: Im Theaterabend ist das der Raum, an den sich die von Benjamin verkörperte Figur als sein Zuhause erinnert. Es ist das Haus in dem er aufgewachsen ist. Wir haben uns bewusst dafür entschieden, im Vorfeld der Inszenierung und auch im Programmheft keinen Fokus darauf zu legen, dass dies die Räume meiner Kindheit sind, beziehungsweise dass dies die Wohnung ist, in der ich aufgewachsen bin. Die Räume meiner Kindheit in einer verdichteten und collagierten Form.
Mathis Neuhaus: Du nennst die Bühne einen collagierten Raum: wie ist der Prozess abgelaufen? Hast du deine eigenen Erinnerungen ernstgenommen? Mit deinen Eltern gesprochen? Fotos hervorgeholt?
Jonathan Mertz: Ich habe von meinen Erinnerungen ausgehend angefangen, diese Räume zu rekonstruieren. Bis zur Konzeptabgabe des Bühnenbilds im November 2019 basierte der Prozess nur darauf. Als es dann in die Details ging, habe ich auch auf Fotos zurückgegriffen. In den Fotoalben sind natürlich vorzugsweise immer Kinder, also meine Geschwister und ich, zu sehen, aber im Hintergrund kann man dann erahnen, dass ein Schrank an jenem Ort stand, ein Regal auf diese Art gefüllt war, die Wand eine bestimmte Farbe hatte und so weiter. Mein Opa hat bei Familienfesten, und eigentlich immer überall wo er war, seine Kamera mitlaufen lassen, da gibt es ganz tolle VHS-Kassetten. Eine davon habe ich zu meiner Konfirmation bekommen, auf der mein Leben bis zu dem Zeitpunkt aus seiner Perspektive zusammengeschnitten war. Das war auch eine gute Quelle, um nachzuvollziehen wie es aussah, als ich noch klein war. Und meine Mutter ist Künstlerin, Malerin. Unsere Wohnung war immer voll von ihrer Kunst. Gleichzeitig hat sie auch in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen die Wände neu gestrichen. Die Wohnung auf der Bühne ist nun relativ bunt; und das ist auch tatsächlich so. Ich musste dann Entscheidungen treffen darüber, welcher Zustand der Räume mir in meinen Erinnerungen am gegenwärtigsten erscheint.
Mathis Neuhaus: Noch ein Zitat aus dem Programmheft, in dem du sagst: «Persönliches in meine Arbeit zu überführen interessiert mich nicht per se, wenn das Persönliche aber, wie in diesem Fall, ein ästhetisches Werkzeug sein kann, das sich aus dem Stoff ergibt, benutze ich es gern.» Die Frage, die sich mir stellt: gab es Momente im Prozess, wo es zu persönlich wurde oder wo du dich bewusst für eine Manipulation der eigenen Erinnerungen entschieden hast?
Jonathan Mertz: Auf der einen Seite habe ich versucht, Manipulation zu vermeiden, so detailgetreu wie eben möglich zu arbeiten. Da musste ich mich zwangsläufig mit meiner Familie und meiner Geschichte auseinandersetzen. Auf der anderen Seite habe ich einige Details eingebaut, die nicht aus meiner Biografie stammen, sondern die Verbindung zwischen der Wohnung und dem was erzählt wird schärfen. Punkte, an denen es mir zu privat wurde und an denen ich gemerkt habe, ich reagiere unverhältnismässig emotional auf etwas, waren gerade die Punkte die ich gesucht habe. Ich denke, das macht diese Räume aus. Natürlich stelle ich dadurch nicht nur mich, sondern auch andere Menschen aus, was einen gewissen moralischen Konflikt in sich trägt.
Mathis Neuhaus: Es ist wichtig, die Befindlichkeiten anderer Personen ernst zu nehmen, die durch einen künstlerischen Akt exponiert werden. Ich denke an den Diskurs um Karl Ove Knausgård, ein Autor, der ebenfalls im Programmheft als Referenz auftaucht
Jonathan Mertz: Es gibt eine Frage, die ich an autobiographische Kunst stelle. Und zwar die Berücksichtigung der und Rücksicht auf die anderen Personen in der Geschichte. Was ich von mir preisgebe, darüber bin ich Herr. Aber ich gebe auch viel von meinen Eltern und deren Wohnung preis. Wie geht man damit um? Ich finde es wichtig, dass sich die Leute dazu verhalten können. Die Frage ist nicht wie etwas gezeigt wird, schliesslich geht es um meine Sicht und Wahrnehmung der Vergangenheit, sondern ob etwas gezeigt wird. Und da habe ich allen, die vorkommen, ein Vetorecht eingeräumt.
Mathis Neuhaus: Der Blick zurück ist oft ein nostalgischer. Welche konstruktiven Kräfte können in dieser Nostalgie trotzdem stecken?
Jonathan Mertz: Für mich ging es in dieser Arbeit um das Gegenteil. Inwieweit ist die Gegenwart und inwieweit bin ich als Bühnenbildner, als Künstler, als Mensch geprägt von dem, wo ich herkomme? Inwieweit kann ich mich frei davon verhalten? Ich habe eine ästhetische Vorbildung, der ich nachgehen oder gegen die ich mich wiedersetzen kann. Indem ich zum Beispiel sage: Auf keinen Fall möchte ich Kunst machen, die meiner Mutter gefallen würde. Beides ist super unfrei.
Mathis Neuhaus: Vielleicht können wir uns der Beantwortung dieser Frage auch durch das Nachdenken darüber nähern, was die Zusammenarbeit von dir und Christopher öfter zu prägen scheint. Ich denke an das Bühnenbild für «Trommeln in der Nacht», das ebenfalls ein vergangenes Ereignis imaginiert, nämlich die Uraufführung des Stückes aus dem Jahr 1922. Ist das Finden von Verbindungslinien zwischen Vergangenheit und Gegenwart für euch eine wichtige künstlerische Strategie?
Jonathan Mertz: Bei diesen zwei Arbeiten sind solche Verbindungen auf jeden Fall sichtbar und wichtig. Bei «Trommeln in der Nacht» sind wir von der Uraufführung ausgegangen, die genau wie unsere Inszenierung in den Münchner Kammerspielen stattgefunden hat. Ausgehend von den Fotos und mithilfe expressiver Aquarellentwürfe des Bühnenbildners der Uraufführung Otto Reigbert, haben wir die Bühne rekonstruiert. Der erste Akt findet in der Stube einer Familie statt, die ich so getreu wie möglich versucht habe, nachzubilden. Um diesen Prozess des Nachbildens visuell zu markieren, waren alle Tapeten und Oberflächen Fototapeten. Wir haben kleine 1:5 Modelle vom Bühnenbild nachgebaut, abfotografiert, grossgezogen und dann tapeziert. Im zweiten Akt fehlen dann zudem noch einige Elemente der Kulissen und so dekonstruiert sich die ganze Originalkulisse im Laufe des Abends hin zu einer leeren Bühne, die dann wiederum von grossen Leuchtskulpturen eingenommen wird. Säulen aus 120 Leuchtstoffröhren holen den gesamten Raum in die Gegenwart. Bei «Trommeln in der Nacht» war dieser Vorgang allerdings ein sehr theaterspezifischer, indem sich die Handlung des Stoffes und die Geschichte seiner Aufführungspraxis bespiegelt hat. In «Einfach das Ende der Welt» liegt das Erinnerte ausserhalb des Theaters und wir versuchen, dies in den Erinnerungsraum des Theaters zu überführen und dort zu bearbeiten.
Mathis Neuhaus: Deine Arbeit scheint immer wieder das Prozesshafte zu betonen; Dinge werden auf der Bühne aufgebaut, weggetragen, provisorisch positioniert. Wieso ist das so?
Jonathan Mertz: Das Bühnenbild ist ein Mittel, um die Geschichte zu erzählen. Ich suche eigentlich immer nach Möglichkeiten, wie man das Bühnenbild den Schauspieler*innen zur Verfügung stellen kann. Um den Theaterraum so umzudeuten und um darin die Geschichte passieren zu lassen. Das ist immer ein Prozess und hat auch immer mit Erinnerungen zu tun. Selbst, wenn es nicht so explizit gemacht wird wie in «Einfach das Ende der Welt». Wenn es zu Beginn einer Inszenierung ein Bühnenbild gibt und am Ende nicht mehr, oder andersherum, setzt sich im Kopf die Geschichte zusammen mit dem, wie es gestartet ist und mit dem was alles auf dem Weg bis zum Ende passiert ist. Und wenn ich am Ende auf eine völlig verwüstete Bühne schaue, klebt an dem Chaos die Geschichte, die mir gerade erzählt wurde. Das bereitet mir eine riesige Freude, vielleicht auch nicht nur deshalb.
Mathis Neuhaus: Ist die Betonung des Prozesses auch ein Schutz gegen Eindeutigkeiten?
Jonathan Mertz: Ich würde gar nicht sagen, dass ich Angst vor Eindeutigkeiten habe oder mich unbedingt davor schützen will. Es kann sein, dass das ein Effekt ist, der mit dem prozesshaften Arbeiten einhergeht. Aber ich habe eigentlich schon das Gefühl, das man ab und zu auch mal ein eindeutiges Statement setzen kann; dass das hilft.
Mathis Neuhaus: Die Halle vom Schiffbau ist sehr, sehr gross, trotzdem möchte ich die These aufstellen, dass dem Elternhaus immer auch etwas Klaustrophobisches anhaftet. Würdest du zustimmen?
Jonathan Mertz: Total. Ich glaube, das geht vielen Menschen so. Egal, wie positiv oder negativ das Elternhaus geprägt ist, wirft es einen oft zurück in eine kindliche Position gegen die man sich, oder ich mich auf jeden Fall, erstmal wehre. Das geht bei mir ganz viel von Gegenständen und Objekten aus, die mit Erinnerungen verbunden sind, in denen ich eben Kind war und in Abhängigkeit stand und in denen mir erklärt wurde, was gut und schlecht ist und so weiter. Und das ist natürlich dann erstmal eine Unfreiheit, die diese Objekte mit sich bringen und deswegen finde ich das Gefühl des Klaustrophobischen beschreibt es schon sehr gut.
Mathis Neuhaus: Habt ihr Möglichkeiten anderer, abstrakterer Darstellungen des «Zuhauses» diskutiert?
Jonathan Mertz: Ich habe im November 2019 das Konzept für diese Inszenierung gemacht und seitdem ist nochmal sehr viel passiert. Sowohl auf den Proben, als auch in der langen Pause zwischen der ersten abgebrochenen und zweiten Probenphase, als auch als wir die Proben wiederaufgenommen haben und die ganzen pandemiebedingten Auflagen miteinfliessen lassen mussten. Es gab viele Gedankensprünge, die eine Weiterentwicklung forcierten, aber trotzdem ist das alles auf der Basis des vor einem Jahr entstandenen Konzepts passiert. Wenn ich gedanklich bei dem Punkt der Premiere nochmal das ganze Konzept gemacht hätte, hätte ich sicherlich andere Entscheidungen getroffen. Auch wenn dieser Gedanke nicht in Frage stellt, was jetzt tatsächlich auf der Bühne zu sehen ist. Ich glaube, es war eine gute Entscheidung, so penibel und detailgetreu zu arbeiten, auch wenn mir als Künstler vielleicht eine grössere Abstraktion sonst näherliegt. Für mich wurde aber deswegen auch der Punkt in der Inszenierung, an dem alles abgebaut wird, immer wichtiger, um zu vermeiden, in eine Sackgasse zu laufen. Das bezieht sich auch nochmal auf deine frühere Frage, ob die Auseinandersetzung mit meiner persönlichen Vergangenheit manchmal schwierig war. Es gibt diese Auseinandersetzung, sie bildet gewissermassen die Basis, aber es gibt eben auch diesen klaren Moment, wo all das beiseite geräumt wird, um eine Begegnung im Hier und Jetzt zu ermöglichen.