Artistik der Unbewegtheit
von Georg Dickmann
erschienen am 14. Oktober 2020
„Der wahre Akrobat ist ein Akrobat der Unbewegtheit.“
(Gilles Deleuze, Logik der Sensation)
Karl Marx skizzierte in seiner 1843/44 erschienen Schrift Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie mit der Behauptung Religion sei „das Opium des Volkes“[1] nicht nur eine ideologiekritische Analyse von Religion, sondern ruft im gleichen Zuge auch einen drogensemantischen Kurzschluss von Pharmaka und Gesellschaft hervor. Seine drogenkundliche Lesart der Moderne kehrt heute scheinbar unter anderen toxischen Vorzeichen zurück und lässt eine pharmapolitische Gegenwart jenseits eines religiösen Gehalts hervortreten.
Man denke an Paul B. Preciados Theorie eines „Pharmapornografischen Regimes“[2] oder Laurent de Sutters Begriffs des „Narkokapitalismus“[3], mit dem die beiden Theoretiker*innen die Zusammenhänge von Biopolitik und Pharmazeutik innerhalb spätkapitalistischer Gesellschaften untersuchen. Während Preciado sich mit dem Verhältnis von Macht und Pharmakologie im Kontext einer queeren Genealogie des Hormons beschäftigt und in ihrer Analyse an der Frage interessiert ist, wie der Einzel- oder auch Bevölkerungskörper unter Einwirkung von Pharmazeutika beschleunigt und regiert wird, zentriert sich Sutters Beitrag um narkotische, betäubende und sedierende Mittel, die eine starke Sensibilität zu unterbinden suchen. Dadurch zeigt Sutters Untersuchung die anästhetische Kehrseite einer pharmazeutischen Biopolitik, die, nicht auf die, wie Rosi Braidotti bezugnehmend auf die Droge schreibt „[…] Erhöhung der eigenen Affekttemperatur“[4] abzielt, sondern auf ihre Abkühlung, die letztlich zu einem allgemeinen und sozio-kulturellen Schlafwandeln führt.
Unter diesen Voraussetzungen wird das Opium der Gegenwart selbst zum „Opium des Volkes“. Denn die minutiöse pharmazeutische Regulierung der Körper, sowie das damit einhergehende private Medikamenten-Management, erzeugt neue neurochemisch organisierte Subjektivierungsweisen, die jede*n auf diesem Planeten betreffen. Anhand der Opioid Krise der USA wird dies auf tödliche Art und Weise deutlich. Die flächendeckende Vermarktung von Oxicontin, sowie die damit in Verbindung stehenden Todesfälle durch den Missbrauch dieses Präparats, zeichnen ein dystopisches Bild pharmazeutischer Biopolitik.[5]
Otessa Moshfegh entwirft in „Mein Jahr der Ruhe und Entspannung“ eine Figur, die sich innerhalb dieser pharma- bzw. narkopolitischen Klammer häuslich eingerichtet hat. Auf der Schwelle von Beschleunigung und Sedierung, zwischen der Horizontalen im Bett und den wenigen vertikalen Momenten, in denen sie bemerkt, dass ihr Körper ein schlafwandlerisches Eigenleben führt. Literaturgeschichtlich ist sie mit den passiven, gehemmten und deaktivierten Figuren wie Gonscharows „Oblomow“, Melvilles „Bartleby“ oder Sontags „Alice im Bett“ in bester Gesellschaft. Innerhalb des Romans frönt sie jedoch ihren Solipsismus im Schlaf, der ihr „Freiheit und Macht“ über das sinnentleerte Vakuum der von außen glitzernden und von innen modernden New Yorker Oberflächen verleiht. Jede Adressierung und die Wiederangliederungsversuche an die glamouröse Schweinwelt durch ihre Freundin Reva schlagen fehl. Mit dem auf Dauerhaft gestellten Modus des Rückzugs, richtet sich die unvoluntaristische Antiheldin in einem Limbus der Ziel- und Zwecklosigkeit ein. Es scheint so als ob sie sich mittels diverser Substanzen auf den Nullpunkt der Wahrnehmung zu befördern versucht, um von da aus den Imperativ der Produktivität auf die Probe zu stellen. Dies zeichnet sich bereits in ihrem Verhältnis zu ihrem Job in einer Kunstgalerie an New Yorks Upper East Side ab, der sie anwidert und von dem sie letztlich, wohl zu Recht, gefeuert wird. Die Protagonistin ist die Doppelgängerin „Bartlebys“: eine Figur negativer Potenz, die in ihrem Bett ein absolutes Nichts kreiert, das weder Null noch Eins ist. Ihre, um es mit Gilles Deleuze formulieren, „Artistik der Unbewegtheit“[6] ist eine „erschöpfte“ Macht, die jegliche Aktion deaktiviert. Bei Deleuze heißt auch „Erschöpft sein heißt vielmehr als ermüdet sein“[7]. Müdigkeit und Erschöpfung unterscheiden sich somit anhand ihres progressiven Potentials. Während die Unterbrechung des Schlafes das Vermögen des*r Ermüdeten* wieder herstellt, um ihn*sie wieder produktiv zu machen, unterbricht die Erschöpfung Handlungsfähigkeit. Es ist ein konstitutives Unvermögen, das, wie es die Protagonistin des Romans mittels diverser Psychopharmaka einübt, das bipolare Kalkül von Aktivität und Passivität unterläuft, um sich in einer indifferenten betäubten Zone des Halbschlafs zurückzuziehen.
Moshfegh zeichnet die Gegenwart als die Ära des Anästhetischen nach und bedient sich in ihrer literarischen Kritik konsequent des pharmakon-Prinzips: In der richtigen Dosierung ist die Droge ein Heilmittel, in der falschen ein Gift, wodurch die Protagonistin des Romans Feuer mit Feuer zu bekämpfen versucht. Einer hyperkinetischen und zugleich dumpfen Welt setzt sie nicht die Handlung und den blanken Aktivismus entgegen, sondern radikale Passivität, die letztlich doch in eine chemisch induzierte Selbstoptimierung zu kippen droht, wenn es heißt: „Wenn ich so weitermachte, dachte ich, würde ich völlig verschwinden und in neuer Form wieder auftauchen.“ Der Schlaf: (K)ein Aussen des Systems.
[1] Karl Marx: Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, in: Deutsch-Französische Jahrbücher, 1844, S. 71.
[2] Vgl. Paul B. Preciado: Testo Junkie. Sex, Drogen und Biopolitik in der Ära der Pharmapornografie, 2016.
[3] Vgl. Laurent de Sutter: Narcocapitalism. Life in the Age of Anaesthesia, 2017.
[4] Rosi Braidotti: Politik der Affirmation, 2018, S. 30.
[5] Vgl. dazu Beth Macy: Dopesick: Dealers, Doctors, and the Drug Company that Addicted America, 2018.
[6] Vgl. Gilles Deleuze: Francis Bacon. Logik der Sensation, 1995.
[7] Gilles Deleuze: Erschöpft, in: Samuel Beckett: Quadrat. Geister-Trio, …nur noch Gewölk …, Nacht und Träume, Stücke für das Fernsehen,1996, S. 51.