by Dominik Gross
published on 13. May 2024
Die Neutralität gehöre zur DNA der Schweiz, heisst es oft. «Mache Dich im Ausland nie mit einer Sache gemein, aber Geschäfte mit Allen», lautet ihr Code.
Dank ihr darf die Schweiz in der Welt bis heute eine spezielle politische Rolle spielen. Sie darf Vermittlerin in Konflikten sein und “Hostcountry” des IKRK und der UNO. Sie ist also gewissermassen die Gastgeberin institutionalisierter Menschlichkeit. Im spektakulärsten Fall darf sie sogar Gipfeltreffen organisieren. Mit solchen werden nicht nur der Hotellerie in Genf, Lugano, Davos oder auf dem Bürgenstock gute Dienste erwiesen. Wenn sich ein wenig weltläufiger Tessiner Arzt oder eine unscheinbare Walliser Jurist:in zwischen die globale Politprominenz stellen dürfen, erreichen auch Bundesrät:innen einmal planetare Sichtbarkeit. Damit lässt sich viel Swissness in die Welt hinausschicken, also den Tourismus fördern.
Womit wir beim Geschäft wären. Auch in diesem ergatterte sich die Schweiz unter Einsatz ihrer Neutralität aussergewöhnliche Rollen. Seit 1848 hielt sie sich mit ihr aus allen Kriegen heraus. Davon, aber auch von den Kriegen selbst profitierte der Finanzplatz und die Maschinen- bzw. die Waffenindustrie. Ende der 1970er Jahre machte der US-Amerikaner Marc Rich von Zug aus Ölgeschäfte mit dem islamischen Regime im Iran. Die USA wollten ihn stoppen, sie hatten nach der islamischen Revolution harte Wirtschaftssanktionen gegen den Iran verhängt. Darauf rechtfertigte die Zuger Kantonsregierung ihr Nichteinschreiten mit der Schweizer Neutralität. Richs Zuger Firma heisst heute Glencore und ist die drittgrösste Rohstoffhändlerin der Welt (hinter Vitol und Trafigura, die auch in der Schweiz sitzen) und der Kanton Zug einer ihrer wichtigsten Rohstoffhandelsplätze. Er ist auch der grösste Nettozahler im eidgenössischen Finanzausgleich.
Die Neutralität als Doppelhelix zahlte sich für die Schweiz also lange aus. Seit dem Ende des Kalten Krieges kommt es allerdings öfters zu Kommunikations- bzw. Rechtfertigungspannen. Zuletzt 2022, als es nach dem russischen Überfall auf die Ukraine darum ging, die Vermögen russischer Oligarchen einzufrieren, um deren Mitfinanzierung von Putins Krieg zu verhindern. Auch nach zwei Jahren ukrainischem Widerstand hat es die Schweiz - immer noch der grösste Offshore-Finanzplatz der Welt - nicht geschafft, genau dies sicherzustellen. Es zeigt sich einmal mehr: Wer das Geschäft mit den Parias dieser Welt nicht unterlässt, schlägt sich ex negativo auf deren Seite.
Solches könnten wir in Zukunft verhindern, in dem die Schweiz ihr Geschäftsmodell an den Maximen der internationalen Organisationen ausrichtet, die sie beherbergt. Menschlichkeit ist universell, also auch neutral: Wer sich für alle einsetzt, schlägt sich nie auf eine Seite. Wir müssten eine (Aussen-)Wirtschaftspolitik entwickeln, die den Menschenrechten zum Durchbruch verhilft. So müsste die Schweiz ihre Rohstoffhändler dazu verpflichten, ihren Bergbauarbeiter:innen überall auf der Welt faire und gute Arbeitsbedingungen zu garantieren und ihre Banken dazu, kein Geld von Schurken zu verwalten und stets zum Wohle des Planeten zu investieren. Die Schweiz müsste dafür sorgen, dass ihre multinationalen Konzerne dort Steuern zahlen, wo sie ihre Gewinne erwirtschaften und nicht dort, wo die Steuern am tiefsten sind (in Zug). So könnten auch in Sambia oder Kambodscha gute Schulen und Spitäler gebaut werden.