by Schweizer Fia
published on 19. February 2024
Die erste Sprache wird geerbt. Die Muttersprache, die Meersprache. Das Sprachmeer. Die erste Geschichte wird geerbt. Die Art des Geschichtenerzählens. Eine Geschichte die fesselt. Geschichten, die die Realität formen, die verändert oder verschwiegen werden. Worte, Fetzen, Treibgut. Ein Körper ohne Sprache.
Im ersten Teil von Blutbuch schreibt Kim de l’Horizon über all das. Es geht auch um den Versuch, eine Sprache für den eigenen Körper, für die eigene Geschichte zu finden. Es wird gekämpft mit und gegen die Muttersprache, dieses Meer, in dem mensch zu ertrinken droht.
Den vielleicht grössten Unterschied zwischen Mensch und Tier macht das Geschichtenerzählen. Alle Menschen erzählen Geschichten. Seit wir eine Sprache gefunden und begonnen haben, sie zu vererben, sind Worte die Träger von Geschichten. Nur Geschichten sind fähig, Gesellschaften zu konstruieren, Religionen aufzubauen und Menschen zusammenzubringen. Geschichten finden Gründe, an etwas zu glauben, finden Erklärungen für Unerklärliches und behaupten zu wissen, wer wir sind und wer wir sein sollen. Kim de l’Horizon spricht darüber, wie Geschichten unsere Realität verändern. Dass wir die Welt durch unsere Geschichten hindurch wahrnehmen. Ich glaube, dass die Dinge, die wir uns erzählen und die uns erzählt werden, uns formen und bestimmen, woran wir glauben. Geschichten haben unglaubliche Macht. Wie schon ein Jedi-Meister wusste: «Your focus changes your reality.» Worauf fokussieren wir uns, welche Geschichte erzählen wir mit so grosser Intensität, dass wir sie zu glauben beginnen? Laut Starhawk kann mensch sich aus einer Geschichte befreien, indem er eine andere erzählt, bis er und die Welt sie glaubt.
Aber was ist, wenn es keine Sprache für die eigene Geschichte gibt? Wenn die geerbte Sprache eine Zweierreihe ist und mensch nicht hindurch kann. Was, wenn die Meersprache stumm bleibt, sobald mensch die eigene Geschichte erzählen will? Wenn dieses Sprachmeer kein Zuhause, sondern eine Drohung ist: «Ich bin alles, was du hast, um deine Realität zu verändern. Wenn du es nicht schaffst, dich in mir auszudrücken, ertrinkst du.» Ertrinkt mensch dann? Das Ich in Blutbuch findet eine andere Lösung. Es beginnt zu schreiben. Es schreibt in einer Sprache, die wenig Platz bietet und sucht nach einer Fremdsprache. Kämmt durch das Vererbte, weigert sich zu erben und schwimmt. Kim de l’Horizon bezeichnet das Schreiben als etwas Flüssiges, eine Wellenlinie. Vielleicht eine Möglichkeit, im Sprachmeer das Schwimmen zu lernen.
Der Vater des Ichs erzählt seine Geschichten mehrmals. Immer und immer wieder. Die zentralen Teile der Geschichten verändern sich nicht, denen ist mensch ausgeliefert. Aber die Ränder ändern. An diesen Rändern wird vielleicht gerade am meisten über den Erzähler preisgegeben: Die kleinen Verschiebungen, was (absichtlich) vergessen wird und was hinzugefügt. Dort ist mensch wirklich Erzähler*in und wird nicht von der Geschichte erzählt. Dem Peer seine Geschichten sind nicht abgeschlossen, nicht fortlegbar, es sind nahe, lebendige Erinnerungen, die sich weiterentwickeln. Sie fliessen.
Und dann ist da noch das Verschwiegene, eine ganz andere Geschichte. Manche Dinge sind geschehen, obwohl sie verschwiegen werden. Schweigen ist nicht gleich Vergessen. Beeinflusst das Verschwiegene uns nicht genauso wie das Erzählte? Kim de l’Horizon schreibt dazu: «Was ich nicht erzähle, isst mich.» Das Ich beginnt, die Geschichten zusammenzutragen, obwohl es das Erzählen in der Regel vermeidet.
Erinnerungen und Geschichten sind so sehr Teil unseres Menschseins, dass das Vergessen ein unheimlicher Einschnitt ist. Als die Grossmeer beginnt zu vergessen, fängt das Ich an zu erzählen. Schwemmholz, Erinnerungen, Bruchstücke, Kauderwelsch: Die Wellenlinie des Schreibens verbindet sie zu einer Geschichte.