by Moritz Frischkorn
published on 14. September 2023
Moritz Frischkorn: Sehr geehrter Herr Knutti, Sie sind einer der Leitautoren des Vierten und Fünften Sachstandsberichts des jährlich tagenden IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change) und ein ausgewiesener Experte für die Entwicklung von Klimaszenarien und -projektionen. Sie haben sich in ihrer Funktion als Wissenschaftler immer wieder öffentlich geäussert, auf Twitter, im Radio und im Fernsehen, so z.B. in Bezug auf die Eidgenössische Abstimmung zum CO2-Gesetz und zum Klimaschutzgesetz. Woher kommt der Impuls, öffentlich und mit Bezug auf politische Fragen Stellung zu beziehen?
Reto Knutti: Die Wissenschaft hat die Aufgabe – neben der Ausbildung – Forschung zu betreiben und Lösungen für gesellschaftliche Probleme bereitzustellen. Es gibt Bereiche, wo das relativ Grundlagen-lastig ist, oder unpolitisch. Und dann gibt es Bereiche, wo die Forschung direkt in die politische Debatte hineinläuft. Klima und Energie sind solche Bereiche, aber nicht die einzigen, auch die Digitalisierung, public health, etc. Ich bin der Überzeugung, dass es in diesen Bereichen mehr braucht als Zahlen. Wenn man den Leuten einfach einen Haufen Zahlen gibt, dann sind sie verloren. Die Leute brauchen jemanden, der diesen Zahlen synthetisiert, Kontext liefert, und erklärt, wie man auf diese Zahlen reagieren könnte. Was könnten gesellschaftlich-politische Reaktionen darauf sein? Wie könnte man diese Probleme lösen? Die Wissenschaft kann das nicht entscheiden, dafür hat sie die Legitimation nicht, dafür gibt es eine Demokratie. Aber sie kann zeigen, welche Szenarien zu welchen Zielen führen und welche nicht.
Wir beobachten ja zum Teil ziemlich aufgeladene Debatten, mit Fake News und ChatGPT. Es geht dabei um mehr als nur Fakten. Ich habe das Gefühl, in vielen Bereichen der Gesellschaft ist heute gar nicht mehr die Frage, was ist oder was nicht ist, sondern es ist einfach egal. Trump hat das sicherlich salonfähig gemacht, dass man sich gar nicht mehr die Frage stellt, ob etwas stimmt oder nicht. Also: Jede und jeder baut sich seine Welt zusammen, wie er oder sie sie gerne hätte. Der Unterschied zwischen Fakten und Meinungen verschwimmt total. Und da braucht es Expert*innen, die sagen: Das stimmt, und das wiederum stimmt nicht. Diese Rolle finde ich ganz entscheidend und das habe ich mir zur Aufgabe gemacht, mit allen den Nebenwirkungen, die das mit sich bringt.
MF: Wir beschäftigen uns in der Inszenierung von Leben des Galilei von Bertolt Brecht mit ganz ähnlichen Fragen, nämlich: Was ist die gesellschaftliche Verantwortung der Wissenschaft? Wie stark sollen sie sich zu gesellschaftlichen und politischen Themen äussern und wo bestehen Grenzen für Äusserungen von Wissenschaftler*innen?
RK: Die Grenze liegt dort, wo es darum geht, zu entscheiden. Die Wissenschaft kann eigentlich nur mögliche Antworten aufzeigen, mit Kosten, Nutzen, Risiken und Nebenwirkungen. Aber die Entscheidung, die muss in der Gesellschaft passieren, in einem demokratischen Prozess. Ottmar Edenhofer vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung hat das mal mit einer Karte verglichen und gesagt, die Wissenschaft ist ein map-maker und die Entscheidungsträger*in ist der navigator. Also der eine zeichnet die Karte, und der andere entscheidet, wo das Ziel ist und wo man durchläuft auf der Karte. Die Wissenschaft versucht diese Karte so genau wie möglich zu machen, z.B. da hat es einen Wasserfall, vielleicht einen Felsen... Irgendjemand muss dann aber sagen: Okay, dorthin gehen wir. Idealerweise würde natürlich die Person, die entscheidet, wohin man geht, mit der Person sprechen, die die Karte gezeichnet hat und nachfragen: Ja, Moment mal, denkst du der Wasserfall ist gefährlich, oder nicht?
MF: Könnte man dann sagen: Immer dann, wenn Wissenschaftler*innen besonders laut in der Öffentlichkeit sprechen, zeigt sich ein Entscheidungsdefizit?
RK: Das können verschiedene Gründe sein, warum es laut wird. Es kann sein, dass es entweder zeitlich sehr akut ist, es drängt, oder es kann sein, dass die Entscheidungsträger*innen und oder die Gesellschaft die Problematik nicht verstanden haben. Und dann braucht es mehr Engagement. Es kann aber auch sein, dass die Wissenschaft vielleicht gar nicht so laut wäre, aber das Ganze in einer medialen Debatte wahnsinnig aufgeheizt wird. Man muss ganz klar sagen: Was wir effektiv äussern und formulieren ist das eine, und das andere ist, was die Medien, Twitter und andere soziale Medien daraus machen. Und da ergibt sich manchmal eine Eigendynamik, die schwierig zu kontrollieren ist, da kann man noch so freundlich und differenziert formulieren. Da kommt dann die Weltwoche auf der einen Seite und Extinction Rebellion auf der anderen Seite und dann gibt es ein bisschen Feuerwerk. Das hat nicht unbedingt immer damit zu tun, dass die Wissenschaft laut sein will, sondern vielleicht mehr damit, um was es geht und wie viel Geld auf dem Spiel steht.
MF: Der historische Galileo Galilei kämpft gegen die Kirche und den Vatikan, die ein überholtes geozentrisches Weltbild vertreten: Mit welchen gesellschaftlichen Beharrungskräften sind Klimaforschende heute konfrontiert?
RK: Bei Galilei geht es ja zunächst um die Frage: Was ist die naturwissenschaftliche Faktenlage? Es geht dann erst in einem zweiten Schritt um die gesellschaftlichen Konsequenzen. Diese erste Frage hatten wir im Klima vor 20 Jahren: Gibt es einen Klimawandel und ist der Mensch verantwortlich? Heute ist der Streit um den Klimawandel nicht mehr eine Frage darüber, ob es den Klimawandel gibt und ob er menschengemacht ist. Es ist die Frage von: Was tun wir? Wie tun wir's, und wer zahlt? Und das ist dann wirklich eine unmittelbar gesellschaftlich relevante Frage, weil die Menschen ihre Art zu leben verändern müssen. Ich habe es einmal ein wenig provokativ formuliert, als ich gesagt habe, der Mensch sei ein bisschen dumm, faul, egoistisch und kurzsichtig. Natürlich ist er nicht generell dumm, aber er versteht die Komplexität, Dringlichkeit und Tragweite seines Handelns nicht immer. Und er ist ein bisschen faul in dem Sinne, dass er ungerne auf seine Privilegien verzichtet und lieber an sich selber denkt als an das langfristige Wohl der ganzen Welt. Und das kreiert Widerstand, weil der Mensch sich in seinem Verhalten ein bisschen verändern müsste. Und viele wollen das nicht. Oft ist Klimaschutz dann so eine Frage von Freiheit des Individuums versus Rolle des Staates. Und das gibt dann eine sehr unangenehme Rechts-Links Spaltung der Gesellschaft, obwohl ja eigentlich eine funktionierende Umwelt keine Rechts-Links Frage sein sollte. Wir brauchen alle sauberes Wasser. In diesem Sinne sollte die natürliche Grundlage unseres Planeten keine politische Sache sein. Aber sie ist es eben doch.
MF: Eines der zentralen Themen in der Deutung des Stücks von Brecht ist die Frage nach dem Widerruf von Galilei: Ist dieser als strategisches Manöver zu werten, so dass der Titelheld die Arbeit an seinem Hauptwerk, den Discorsi, beenden kann, oder ist es ein Verrat am gesellschaftlichen Aufbruch gegen die Kirche, als dessen Galionsfigur Galilei angesehen wird? Wie strategisch operieren Sie in der Frage, inwiefern und wann Sie sich zu gesellschaftlichen Themen öffentlich äussern?
RK: Ich glaube, da gibt es Parallelen und Unterschiede. Was wir nicht tun, das ist, zu lügen, nur um zu überleben. Das tun wir nicht. Alles, was ich sage, ist so, wie es ist. Und es ist zu 100 % ehrlich. Ich verheimliche nichts. Ich beschönige nichts. Das ist unsere Verantwortung gegenüber dem wissenschaftlichen Prozess, dass wir sagen, wie die Dinge sind. In diesem Sinne ist es anders als bei Galilei. Aber was natürlich ähnlich ist, ist die Frage: Wie kann man jetzt mit diesem Wissen etwas bewegen? Und dann kommt es durchaus darauf an, wie man es sagt und wem man es sagt und zu welchem Zeitpunkt man etwas sagt. Und wenn man in einem politischen Prozess etwas bewegen will, zum Beispiel, dann muss man sich gut überlegen, wie man das verpackt und wer der Absender ist. Es macht einen Unterschied, ob ich als Physiker etwas sage oder ob die Organisation Protect Our Winters das gleiche sagt. Es gibt auch Kirchen, die etwas sagen könnten. Es gibt also verschiedene Akteur*innen, die auf verschiedenen Ebenen etwas einbringen könnten. Das ist ein bisschen wie Schachspielen, da muss man durchaus versuchen, zu überlegen, was ist jetzt strategisch vielleicht günstig? Meine Erfahrung ist, dass man die Menschen nicht bewegt, indem man sagt, die Welt gehe unter. Man bewegt sie auch nicht unbedingt, indem man mit dem Finger auf sie zeigt und sagt, Du bist ein schlechter Mensch, Du darfst alles nicht. Das kreiert nur Ablehnung und Hilflosigkeit. Stattdessen muss man die Leute an die Hand nehmen und sagen: Schau, das ist alles ein Problem. Aber da gibt eine Lösung, zu der du beitragen kannst, das wäre eigentlich ganz positiv. Wenn dieser Brückenschlag gelingt, dann sind die Leute plötzlich bereit, das zu tun. Dann wird es spannend. Wenn dieses positive Framing, wie man so schön sagt, reinkommt, dann ist es normalerweise viel effektiver, als wenn man es nur negativ macht. Ich glaube, es braucht das Negative schon ein bisschen zum Aufrütteln, aber dann braucht es eben auch die Alternativen dazu.
MF: Da ist dann, nebenbei, vielleicht die Kunst wieder gefragt?
RK: Absolut. Ich habe schon lange gesagt, dass es ein Problem ist, dass fast nur die Naturwissenschaften diese ganze Kommunikation machen. Es bräuchte viel diversere Botschaften. Es braucht aber auch diverse Botschafterinnen und Botschafter. Möglicherweise kann eine andere Person in einem anderen Medium die gleichen Fakten viel effektiver transportieren, als es ein trockener Physiker kann.
MF: In einem SRF-Interview vom Mai 2021 erzählen Sie davon, dass Sie eigentlich ein schüchternes Kind gewesen wären, dass auch ihr Doktorvater ihnen von öffentlichen Positionierungen abgeraten hätte, dass also die öffentliche Äusserung zu politischen Themen für Sie ein Lernprozess gewesen sei. Wie ist dieser Lernprozess vonstattengegangen?
RK: Früher hat man sehr deutlich gesagt: Die Wissenschaft produziert die Zahlen und die Politik entscheidet. Also quasi, und um an das Bild von oben anzuschliessen: Wir zeichnen die Karten und dann wird die Karte kommentarlos oder sogar ohne Legende was die Symbole bedeuten, an das Bundesamt oder an den Bundesrat geschickt und fertig. Man geht dann davon aus, dass die schon verstehen, was diese Karte zeigt, und das dann schon gut machen. Diese strikte Trennung von Fakten und Politik, die war lange eigentlich sehr ausgeprägt. Das ist vielleicht auch ein Resultat vom IPCC, d.h. dem internationalen Klimarat, wo es ganz klar immer hiess: Ihr dürft nicht Politik vorschreiben, die Länder wollen das nicht. Bis man irgendwann gemerkt hat, vielleicht geht es so nicht. Und ich bin überzeugt, dass es so nicht geht. Die Politik und die Gesellschaft verstehen die Karte nicht, wenn man ihnen die Karte nicht erklärt. Das war auch bei COVID so. Man kann eine Kurve zeichnen mit COVID-Fallzahlen, aber das heisst noch lange nicht, dass der Herr Berset dann weiss, was wir tun sollen. Sondern irgendjemand muss dann Szenarien vorschlagen - entweder das oder das oder das und das kombiniert. Das ist dann ein vieldimensionaler Prozess. Und ich bin überzeugt, dass die Wissenschaft Teil von diesem Prozess sein muss. Es kann nicht sein, dass Interessensvertreter*innen von Gastrosuisse und der Bauernverband dabei sind, und die Wissenschaft nicht, obwohl sie viel mehr davon versteht. Zur Frage: Ja, ich war ein schüchternes Kind. Aber man lernt im Leben.
MF: In Ihrer Arbeit in und mit der Öffentlichkeit, so scheint es mir, sind eine ganze Reihe von Fähigkeiten gefragt – z.B. die Fähigkeiten unterschiedliche Akteur*innen zu vernetzen, Argumente von Affekten zu trennen, vorsichtig und konstruktiv zu formulieren, usw. – die erst mal nichts mit den Fähigkeiten zu tun, die man als Physiker*in braucht. Haben Sie sich diese Fähigkeiten nebenbei angeeignet?
RK: Ja, das stimmt, diese Fähigkeiten hat man nicht automatisch. Und das ist vielleicht auch okay für viele Naturwissenschaftler*innen. Aber wenn man sich in einer öffentlichen Debatte bewegt, dann braucht es diese Fähigkeiten. Man kann sie erlernen. Und ich habe gemerkt, dass ich mindestens so viel bewegen kann, wenn ich mich in diesem öffentlichen Raum bewege, wie wenn ich «nur» Wissenschaft betreibe. Ich wäre immer noch ganz, ganz, ganz schlecht im Theater oder Improvisationstheater. Das würde ich gar nicht gerne tun. Aber wenn es um mein Fachgebiet geht, bei dem ich Bescheid weiss und Argumente habe, da kann ich mich inzwischen gut bewegen.
MF: Am Ende von Brechts Stück ist der Titelheld Galileo Galilei ein gebrochener Mann. Er ist verzweifelt darüber, nicht genug für den gesellschaftlichen Wandel hin zu einer gerechteren Gesellschaft getan zu haben. Kennen Sie dieses Gefühl, vielleicht nicht genug für den Erhalt einer bewohnbaren Erde getan zu haben?
RK: Ja, das Gefühl hat man schon. Ich habe zwei Kinder und frage mich manchmal: Wie werden diese Kinder noch leben? Oder die darauffolgende Generation? Und man hinterfragt sich immer wieder, ob man es richtig macht, ob man es besser hätte machen können. Es gibt Leute, die daran zerbrechen. Ich hoffe, dass ich das nicht tue, und glaube, einen guten Weg gefunden zu haben. Es gibt dieses Zitat des deutschen Soziologen Max Weber, der einmal gesagt hat: Politik ist das lange Bohren harter Bretter. Es ist einfach so, dass es eine Reihe von gesellschaftlich schwierigen Themen gibt – u.a. auch die Frage von Einkommensverteilung, von Gleichheit, von Gender, von Migrationspolitik, usw. – wo man nie eine vollständige Lösung findet. Man kann einfach nur versuchen, weiter zu arbeiten. Da geht es drei Schritte vorwärts und zwei zurück. Manchmal geht auch lange, lange gar nichts. Plötzlich öffnet sich dann irgendwo ein Fenster, und dann sieht man: Aha, jetzt gibt es einen Moment, um vielleicht einen Schritt weiterzukommen. Man darf sich nicht frustrieren lassen durch all das, was nicht geht, sondern muss einfach immer wieder weiterkämpfen. Es steht zu viel auf dem Spiel, als dass man nichts tun könnte. Die Option wäre, einfach aufzugeben und ein gebrochener Mann zu sein. Aber dann habe ich auch nichts bewegt. Also arbeiten wir weiter, im Wissen, dass man die Welt alleine sowieso nicht retten kann. Aber ich kann vielleicht sagen, ich habe irgendwo ein bisschen beigetragen.