by Leila Vidal-Sephiha
published on 27. June 2023
Leila Vidal-Sephiha: Welche Beziehung hast du zu Arthur Schnitzler und seinem Werk?
Mikhail Durnenkov: Reigen ist eines der ersten hochkonzeptionellen Stücke der neuen Zeit. Die Struktur des Stücks dient als Leitfaden für die Gedanken des Autors, sie dient seiner Vorstellung von der Zyklizität der Ungleichheit. Aber gleichzeitig ist es Schnitzler gelungen, eine lebensnahe Qualität zu bewahren. Und das ist selten bei Werken mit Konzept. Für mich ist es das Wertvollste an dem Stück - in jeder Kurzgeschichte, zwischen den Zeilen, in den Pausen, im Fluss der Zeit, steckt eine Wahrheit, die der Autor gesehen hat. Sie einzufangen war meine Herausforderung, als ich darüber nachdachte, wie mein Dialog mit dem Autor aussehen würde. Ich glaube, dass diese Fragen rund um die Geschlechtsbeziehungen sehr wichtig und aktuell sind. Die Fragen, die Schnitzler damals aufgeworfen hat erneut zu reflektieren, scheint mir richtig.
Leila Vidal-Sephiha: Was ist dieser neue Punkt für dich?
Mikhail Durnenkov: Ich glaube, dass die Familienbeziehungen, die Beziehungen zwischen Frauen und Männern sowie die Rolle des sozialen Status vor dem Hintergrund des aktuellen Weltgeschehen, wie #MeToo, Cancel Culture oder dem Diskurs über Vergewaltigung und Missbrauch fordern, dass wir neu reflektieren, was heute Geschlecht bedeutet. Dass wir es neu verstehen und aktualisieren. Die Gesellschaft hat sich geändert, die Rolle des*der Künstler*in ist es diese Veränderung zu reflektieren.
Leila Vidal-Sephiha: Was war die grösste Herausforderung beim Umschreiben der Szene? Du hast sie ja sogar zweimal umgeschrieben!
Mikhail Durnenkov: Ich bin Yana Ross zutiefst dankbar, dass ich die Möglichkeit hatte, die Szene umzuschreiben. Tatsächlich hatte ich in meiner ersten Version noch in einer anderen Welt gelebt und ehrlich versucht, diese Genfer-Beziehungen, die Beziehung zwischen Frau und Mann in der heutigen Welt neu zu denken. Nach dem 24. Februar wurde mir sehr klar, dass es für mich derzeit keine anderen Themen geben kann als den Krieg. Deshalb habe ich als Yana mich angerufen hat und gesagt hat, dass es die Möglichkeit gäbe, das Stück umzuschreiben, diese Möglichkeit auch sofort wahrgenommen.
Leila Vidal-Sephiha: Welche Aussagen oder Referenzen waren dir in diesem neuen Kontext wichtig von Schnitzler beizubehalten? Und was wolltest du anfügen?
Mikhail Durnenkov: In der zweiten Version der Szene sind nur noch wenige Gedanken zu Schnitzler erhalten, die ich ursprünglich hatte. Trotzdem sind für mich seine Themen sehr relevant, weil sie auch mich, also mich persönlich sowie die Welt, in der ich lebe betreffen.
Leila Vidal-Sephiha: Was willst du diesem westeuropäischen Publikum wie in Salzburg oder Zürich mitteilen?
Mikhail Durnenkov: Weisst du, das hat für mich mit der Frage zu tun, ob Kunst überhaupt etwas verändern kann, ob sie ein transformatives Potential hat. Die letzten Jahre habe ich mich damit vertröstet, dass ich damit, was ich schreibe, was ich sage, einen Einfluss auf die Gesellschaft habe und sie irgendwie ändern kann. Als der Krieg ausbrach war er für mich auch mit einer riesigen Enttäuschung verbunden, mit dem Verlust des Glaubens, dass Kunst tatsächlich etwas verändern kann. Und doch ist es kein Anlass für mich zu schweigen. Mir scheint es, dass die Mächte, die diesen Krieg entfesselt haben, genau dieses Schweigen für sich nutzen und deswegen ist es wichtig weiterzusprechen und seine Position laut zu äussern. Auch für die Menschen, die heute nicht sprechen können, beispielsweise in Russland. Als ich bereits in Helsinki war, wohin ich jetzt ausgewandert bin, habe ich einen Post auf Facebook abgesetzt, dass ich das ukrainische Militär in ihrem Widerstand gegen die russische Invasion unterstütze. Danach habe ich tausende von Zuschriften erhalten von Russ*innen, die sich bei mir für diese Äusserung bedankt haben. Ich war verblüfft, denn ich kannte diese Menschen nicht, aber scheinbar habe ich etwas gesagt, wozu ich die Möglichkeit habe und sie nicht.
Leila Vidal-Sephiha: Wie war es für dich in diesem Kontext dieser neun anderen Autor*innen mit ihren verschiedenen Themen zu arbeiten?
Mikhail Durnenkov: Mir scheint dieses Projekt sehr wichtig. Die Inszenierung bildet eine Pluralität der Meinungen ab, dadurch dass verschiedene Autor*innen ihre persönliche Geschichten eingebracht haben und über ihren persönlichen Schmerz gesprochen haben. Dass gibt uns eine Vorstellung einer Welt, die aus mehr besteht als aus zwei Polen, die mehr ist als nur schwarz-weiss. Wenn Kunst gegen Entmenschlichung kämpft, wenn sie als komplex verstanden und die Menschen als unterschiedlich betrachtet werden, dann ist es wichtig und richtig. Diese Polyphonie findet sich in dieser Inszenierung.
Leila Vidal-Sephiha: Gibt es eine Frage, die du gerne gestellt bekommen würdest?
Mikhail Durnenkov: Gute Frage, ich weiss es nicht. Vielleicht ist es die Frage, welche Rolle ich hier spielen könnte, in Salzburg oder vor dem österreichischen Publikum? In dieser Situation bin ich ein Fragment, dass etwas aus Russland mitbringt, eine Person, die aus Russland kommt. Also eine Art Bericht für Menschen, die diesen Krieg und die Situation in Russland vor allem medial verfolgen und ein dementsprechendes Bild haben. Ich weiss, dass es solange der Krieg andauert schwierig ist, Menschen zu sehen oder den Menschen zu sehen auf der anderen Seite der Front, aber ich bin überzeugt, dass es diesen Menschen gibt. Trotzdem ist es auch eine Frage, die eher für morgen angesagt ist. Und trotzdem scheint es mir angebracht, dass wir schon heute diese Gedanken machen müssen. Was müssen wir tun, wie können wir die Welt gestalten, sodass sich das, was sich heute ereignet nicht mehr wiederholt? Das wäre beispielsweise eine gute Frage!