by Philine Erni
published on 07. May 2023
Die Disponent*innen jonglieren die Bedürfnisse von Intendanz, Ensemble, Technik, Betriebsrat und bis zur Spielzeitplanung. «Wir Disponent*innen haben den Überblick und keine Angst vor all diesen Dingen», so ein Fazit aus der Standortbestimmung am Samstag. Aber: das Risiko zur Überlastung ist hoch. Grundsätzliche Dinge wie Einhaltung der gesetzlichen Arbeitszeit müssen erst noch ermöglicht werden.
Am Sonntagmorgen füllt sich die Schiffbau-Box dementsprechend recht schnell: Nachdem es am Vortag neben der Standortbestimmung auch um Diversität oder theaterspezifische Software-Lösungen ging, referieren Matthias Albold von Szene Schweiz und Lauren Schubbe, der Gewerkschaftssekretär der Genossenschaft deutscher Bühnenangehörigen (GDBA). Die beiden Gewerkschaften sind sich strukturell in einigem ähnlich, in einigem unterschiedlich – so viel ist (un)klar.
Auch klar: Arbeitsrecht ist sperrig und wahrscheinlich selten so komplex wie im Theater, wo je nach Grössenordnung bis zu 100 Berufe zusammenarbeiten, die zum Teil in individuellen Verträgen (nach gängigem Vertragsrecht), zum Teil in Gesamtarbeitsverträgen (GAV) für ganze Arbeitnehmer:innengruppen geregelt sind (z.B. künstlerisches Personal). Geprobt wird, wann geprobt werden muss – in den Wochen vor der Premiere sind das oft weit mehr als 39 bis 42 Stunden, deshalb sind die Gesamtarbeitsverträge sehr flexibel und vor allem arbeitgeber:innenfreundlich gestaltet, was auch mal Belastungsgrenzen strapaziert.
«Ihr gehört zu uns. Ihr seid Arbeitnehmer*innen», appelliert Albold an die Disponent*innen. Das stimmt. Sie haben Künstler*innenverträge (GAV Solo bzw. NV Bühne). Allerdings nehmen sie gegenüber dem Ensemble (Schauspiel, Soufflage, Inspizienz, Assistenzen) die Position der Arbeitgeber*innen ein und vertreten das Arbeitszeitgesetz sowie hausinterne Tarifverträge. Bei der Schaltzentrale Disposition laufen nicht nur alle Informationen zusammen, hier werden auch viele Probleme erkannt und gelöst.
Deshalb freute sich Lauren Schubbe auf den Austausch mit jenen Menschen, «die darunter zu leiden haben, was der Normalvertrag (NV Bühne) nicht regelt, aber auch darunter, was er regelt.» Dies nachdem am Dienstag in Deutschland die Verhandlungen abgebrochen wurden. Streitpunkt ist ein neues Arbeitszeitmodell für Vollzeitangestellte sowie die Einführung einer Teilzeitregelung. Aber was heisst denn Teilzeit für eine Schauspieler*in, die im Vollzeitvertrag maximal flexible Arbeitszeiten hat? Was sind beispielsweise 60% davon? Und überhaupt, was ist Arbeitszeit und was nicht? Hier stellen sich Fragen zum Textlernen im Tram, das Duschen nach der Vorstellung usw.
«Geballte Expertise zu dem, was gerade verhandelt wird»
Gestritten wird in Deutschland ausserdem über eine Vereinheitlichung der Regelungen für freie Tage und Ruhetage. In der Schweiz liegt aktuell eine Sonderregelung für Ruhezeiten dem Staatssekretariat für Wirtschaft SECO vor. Doch schon ein kurzer Einblick in Modelle, die aktuell in den Verbänden diskutiert werden, zeigt, dass Theorie und Praxis hier weit auseinander gehen.
«Klare Arbeitszeitregelungen führen zu weniger Begehrlichkeiten usw.»
Gelächter im Saal
«Mehr Regelmässigkeit und mehr Verlässlichkeit in der Planung heisst auch, dass ihr nicht von Tag zu Tag jonglieren müsst.»
«Ich habe eine grosse Bitte: nicht überregulieren!»
«Was passiert, wenn eine Regie etwas künstlerisch Besonderes machen will? Beispielsweise eine siebenstündige Inszenierung plant? Sieben Stunden proben geht laut ihrem Modell nicht.»
«Es soll nicht nur noch 120 Minuten Vorstellungen geben.»
«Wir produzieren Kunst, wir wollen keine gleichförmigen Brötchen backen.»
Angemessene, nicht zu hohe Hürden seien das Ziel. Solche Reaktionen machen deutlich,
«dass diese Modelle von Menschen gemacht werden, die nicht euren Job haben. Deshalb ist dieser Austausch so wichtig».
Wenn die Arbeitszeiten des künstlerischen Personals erfasst werden – was laut Arbeitsrecht eh geschehen müsste – inwieweit wird dieser Mehraufwand der Disponent*innen bedacht? Denn schon allein das Pensum der Disponent*innen selbst in «normale» Bürozeiten zu formen, sprich 39- bis 42-Stunden-Wochen, scheint in den momentanen Strukturen unmöglich. Was passiert beispielsweise mit dem Bereitschaftsdienst am Abend oder an Wochenenden und Feiertagen?
Das Theater Luzern berichtet von einer kantonal finanzierten Umstrukturierung, wo dank einer zusätzlichen Stelle und fixen spielfreien Tagen nun auch Freitage eingehalten werden können. Auch der Bereitschaftsdienst wird zu 25% mitverrechnet. «Ach, die Schweiz», murmelt es in der Reihe vor mir.
«Spielfreier Montag wird es bei uns nicht geben, schon allein aus wirtschaftlichen Interessen.»
«Allein die Dokumentationspflicht würde die Dispo immens komplexer machen. Diese Übergangsphase ist ein riskantes Spiel, welches auf dem Rücken der Kolleginnen ausgetragen wird, die alleine in den Künstlerischen Betriebsbüros (KBB) sitzen. Letztere setzen mit einer 39h/Woche ihr Haus irgendwann aufs Spiel.»
Eine kurze Umfrage im Saal zeigt, dass nicht wenige Theater nur eine Person im KBB haben. Diese notorische Unterbesetzung sei «fahrlässig», findet Albold. In der Privatwirtschaft würde keine derart wichtige Schnittstelle ohne Stellvertretung besetzt.
«Wenn das Theater nicht die Kapazitäten zur Verfügung stellt, ist das nicht die Verantwortung der:des einzelnen Arbeitnehmer:in.»
Leichter gesagt, als umgesetzt.
Da sie dadurch aber im Gegensatz zu anderen Interessensgruppen rein von der Anzahl relativ gering seien, wurden sie oft überhört.
«Wir kommen da nicht vor. Ich finde es erstmal positiv, dass wir heute mitgedacht werden, so wies nicht an jeder Stelle bisher getan wurde. Allerdings frage ich mich, was sind objektive Parameter, ab wann reden wir von Selbstausbeutung? Auch hier müsste eine Vergleichbarkeit hergestellt werden, ohne die Dinge zu überregulieren.»
Mangelnde Bereitschaft der Gesellschaft, Kultur zu finanzieren
«Dass wir auf uns selber aufpassen, ist sicher löblich und richtig und sozial wichtig. Aber das Problem sitzt viel tiefer. Gedeckeltes Budget. Grundsatzgespräch mit Politik: Kultur braucht mehr Geld.»
Besonders prekär ist die Lage aktuell am Theater Görlitz-Zittau, das wegen Energiekosten- und Mindestgagenerhöhung aktuell kurz vor der Insolvenz steht. Der politische Wille wäre da, die Entscheider*innen sind auf der Seite des Theaters, aber es gibt keine kommunalen Mittel, um die Mehrkosten zu tragen.
«Da braucht es einen öffentlichen Diskurs, was man sich wirklich leisten will.»
«Aber das löst die brennenden Fragen der aktuellen Spielzeit nicht.»
«Solange der Leistungsauftrag erfüllt wird und es keiner mitkriegt, sind alle happy, dass es läuft.»
«Die Belastungsgrenzen sind sehr hoch, aber wenn das Individuum für weniger Geld dann doch noch mehr Output ermöglicht, wird sich nichts ändern.»
«Man findet halt immer ein*e Sänger*in, die die Partie noch günstiger singt. Beim KBB-Personal oder Inspizient*innen wird’s schon schwieriger.»
Geschlossen wird die Diskussion mit der Frage, was denn die Bedürfnisse der Disponent*innen selbst seien?
«Also individuell, nicht jene der Disposition?»
«Dass ein neues Arbeitszeitmodell nicht wieder kurz vor der Sommerpause kommt, so dass man dann in der Sommerpause alle Pläne umschreiben muss. Die Häuser haben eine langfristige Planung, d.h. zwei Jahre und mehr. Da wird nicht innerhalb von einer Woche alles neu geplant. Dieser Ausnahmezustand während Corona soll sich nicht wiederholen.»
Unterbrochen von der Mittagspause verschoben sich die Gespräche in die Kantine und ins Schiffbaufoyer, wo weiter Wissen und Erfahrungen ausgetauscht wurden. Von grossen und kleinen Häusern, Oper und Schauspiel, aus Deutschland, Österreich und der Schweiz.
Nachhaltigkeit auf und hinter der Bühne
Nach einer Suppe folgt das nächste grosse Thema, das die grossen und kleinen Bühnen gerade umtreibt: Nachhaltigkeit. Obschon die Fragen, die uns aktuell beschäftigen, bereits vor 100 Jahren in ersten Zeitungsartikeln formuliert waren, wie Moritz Jäger von der Unternehmensberatung tsuku in seinem Vortrag betont. Spätestens ab den 1970er/80er Jahren wurden Szenarien skizziert, die nun eintreffen.[1] Hätten wir das früher schon gewusst, gilt also nicht.
Jäger berät gemeinsam mit Gabi Hildesheimer aktuell das Schauspielhaus Zürich: In ersten Experimenten wurde beispielsweise Sonne, los jetzt von Elfride Jelinek in der Regie von Nicolas Stemann nicht nur thematisch der Nachhaltigkeit verschrieben. Doch für eine wirklich nachhaltige Produktion war man auch hier zu spät dran. Gäste ware schon gebucht, die zum Teil eingeflogen werden. Da sind die angesetzten Doppelvorstellungen, dann eher Schönheitskorrektur. Weitere Massnahmen, um die Produktion «so nachhaltig wie möglich» zu gestalten, waren das Runterdrehen der Heizung im Proberaum, das Recyclen des Materials für die Kostüme oder ein neues Lastenfahrrad. Aktuell arbeitet eine Gruppe von sechs Freiwilligen am Schauspielhaus mit Jäger und Hildesheimer zum Thema.
«Es kann nicht sein, dass dies einfach Freiwilligenarbeit bleibt.»
«Nachhaltigkeit kostet nicht viel. Wir müssen einfach überlegen, wie man es schafft, Strategien/Lösungen zu finden, aus bewährtem auszusteigen. Und die Dinge neu zu denken.»
Durch die fehlenden Mittel, sei das Theater Görlitz-Zittau sicher nachhaltiger im Umgang mit seinen Ressourcen als viele andere besser subventionierte Häuser, wirft die Disponent*in zynisch ein. Hier werde schon lange jedes Bühnenbild recycelt und so weiter…
Aus jenen Theatern, die bereits erste Ökobilanzen vorliegen haben, wird berichtet, die Mobilität rund 37% der Emissionen ausmache – wobei es hier grösstenteils um die Mobilität des Publikums geht. Weitere grosse Posten seien Heizung und Strom.
«Unsanierte Häuser sind Teil des Problems.»
«Wie soll ich einen nachhaltigen Spielplan machen mit ausgelagerter Probebühne? Chor und Orchester fahren immer hin und her. Ebenso die Bühnenbilder. Wo soll das hinführen?»
«Stagione-Theater wäre für Bühnenbild und Technik am nachhaltigsten.»
«Auch eine Bauteilbörse ist schon in der Mache. Aber das ist ein immenser Organisationsaufwand.»
Das Aalto-Theater berichtet, dass dort mit der neuen Intendanz vier zusätzliche Ensemblemitglieder angestellt würden, was die Disposition und auch die Mobilitätsfrage extrem entlastet: weniger Reisen, weniger Hotelbuchungen, mehr Verfügbarkeit.
Würden Theater keine Gäste mehr engagieren, wäre der Belastungsgrenze ihrer Disponent*innen und der Nachhaltigkeit geholfen.
Postskriptum
Um 15 Uhr löste sich das Plenum dann schnell auf: Während die einen Disponent*innen mit diesen Fragen und Erkenntnissen auf eine Seerundfahrt gehen, lassen sich andere durch den Schiffbau oder durch die Oper führen, schauen sich Riesenhaft in Mittelerde oder The Romeo an, oder machen einen Ausflug zu Zigi Rauschenberg ins Mode-Archiv, mit Robert Zähringer ins Niederdorf oder degustieren Wein auf der Probebühne 3.
Und beim gemeinsamen Abendessen im Schiffbau-Foyer wurde bereits darüber spekuliert, was die «andere Seite», nämlich Michael Schröder und Roman Steiner vom Deutschen beziehungsweise Schweizer Bühnenverband, am Montagmorgen zu den abgebrochenen Verhandlungen in Deutschland ergänzen würden.
[1] Siehe auch Club of Rome: Grenzen des Wachstums (1973)