by Shqipe Sylejmani
published on 14. March 2023
«Bis man die Brücke überquert, nennt man den Bären Onkel», sagt die kleine Schwester und erklärt: «Bis man die Brücke überquert, provoziert man den Bären nicht!» Man nennt ihn liebevoll Onkel, um ihn zu zähmen. Im Theaterstück Ich chan es Zündhölzli azünde symbolisiert dieser Bär den Anstand, die Bodenständigkeit und Höflichkeit unserer Schweizer Gesellschaft. Doch was passiert, wenn man den Bären erzürnt?
Ich chan es Zündhölzli azünde ist nicht die bequeme und erheiternde Ode an das Werk Mani Matters, wie es der Titel andeutet. Das Theaterstück geleitet ein Thema in den Vordergrund, das in unserer Gesellschaft, die des obengenannten Bären, für gerümpfte Nasen sorgt: Wut. Dabei fängt alles in einer vermeintlich behaglichen Situation an: Yalaz Çavuşoǧlu, Studentin und Dolmetscherin für das Amt für Migration (SEM), vertritt in der Podiumsdiskussion «Zündstoffe – Stadtgespräche mit Zürcher» mit dem Thema «Wänn gaht Protest zwiit?» ihre aktivistische Aktion. In der Runde treffen auch die Herren Adrian «Ädu» Brie, ein Jugendsozialarbeiter und der Umweltaktivist Thomas Wagner auf den Moderator Thomas Zürcher.
Schnell entfacht ein Feuer, als die gestandenen Herren sich über Yalaz beugen und ganz mansplaining-like erörtern, wie unüberlegt, egoistisch und nachhallend ihre Aktion gewesen sei. Sie habe wissen müssen, dass sie nicht einfach Gedichte vor den Wohnhäusern ihrer Arbeitskolleg:innen des Amts für Migration (SEM) hätte vorlesen dürfen, erst recht nicht, um auf ach solch groteske Art und Weise die Privatsphäre dieser mit ihren Worten aus Verzweiflung zu filmen und veröffentlichen. Die mediale Rüge, die ihr nun sogar ihre Arbeitsstelle kosten könnte, sei zurecht über sie ergossen worden.
Yalaz beginnt ihre Sätze in der Höflichkeitsform, doch Thomas Zürcher kommt ihr gern zuvor, als er mehr als kläglich daran scheitert, ihren Nachnamen korrekt auszusprechen. Er überrumpelt seine Talkgästin und erlaubt sich ihr das «Du» anzuwerfen, während er den respektvollen Umgang für seine männlichen Gäste in der Höflichkeitsform «Sie» vorbehält. Während «der alte, weisse Mann», wie sich der Deutsche Klimaaktivist Thomas Wagner selbst nennt, befreit fühlt, Yalaz die Worte in den Mund zu legen, kocht die Suppe der Anklagen brodelnd weiter.
Yalaz glänzt mit diplomatisch artikulierter Aufklärungsarbeit, erklärt und erläutert - doch vergebens. In diesen Momenten fühlt man sich der Hauptfigur des Theaterstücks besonders nahe – diesen Schmerz kennen wir. Diese Verzweiflung, die Zerrissenheit und die Stimmen, die dann überhand gewinnen, über das Handeln und Sprechen. Die Stimmen, die Warnungen aussprechen über die Folgen eines vermeintlichen Ausrasters. Die Stimmen, die um Zurückhaltung ermahnen. Doch Yalaz Stimmen haben genug:
«Du Sohn von einem Esel – du söl esek!», ruft eine der vier lautstarken Stimmen in Yalaz und die Gestalten nehmen Form an. «Bis man die Brücke überquert, nennt man den Bären Onkel», erklärt die Stimme ihrer Schwester nun: «Weisst du, wie du das Image aller Kurdinnen beeinflusst mit deinen Tiraden? Wir können uns das nicht leisten! Wir haben nicht einmal den Schweizer Pass!», erklärt sie und appelliert an das Gewissen Yalaz. Fragen, die viele von uns sich immer wieder in der Schweiz stellen müssen.
Ein Diskussionssturm führt Yalaz in eine Welt, in der sie am Ende ihrer Wut die Freiheit schenkt. Yalaz führt den Zorn bis in ihr Innerstes und fragt dort ihren Vater, ob sie es nicht wert gewesen seien, dass er sich gewehrt hätte, als er selbst aus der Schweiz ausgeschafft worden war. Es ist der Höhepunkt der Verzweiflung, des Schmerzes – und der Wut, die nun aus Yalaz herausströmt. Endlich.
Das Autor*innen-Duo Fatima Moumouni und Laurin Buser schaffen es, mit Ich chan es Zündhölzli azünde eine Welt zu offenbaren, die den Alltag vieler Menschen in der Schweiz darstellt. Entblössung durch Offenlegung der Wut ist eine instrumentalisierte Gewalt gegen Frauen und Minderheiten, die in der Schweiz unter den Teppich der höflichen Zurückhaltung und Diplomatie gekehrt werden. Das Werk der Autor*innen bestärkt uns in der gesunden Auseinandersetzung mit unserer Wut, der eingeschränkten Entfaltung unserer Gesellschaft aufgrund am Leben erhaltener Normen, die letztlich nur eine Klasse befähigen, weiterhin diskriminierende Muster auszuleben. Ein Spiegel, den wir als Schweiz nicht gern vorgehalten erhalten, der jedoch die Thematik widerspiegelt, die viele zu spüren scheinen: Dass wir noch heute Gast sein sollen und uns wie Gäste zu verhalten haben.
Die Worte von Yalaz hallen mir noch heute nach: «Du bist hier Gast ist in meiner Sprache keine Beleidigung.»