by Fabienne Amlinger
published on 14. March 2023
«Liebe» – das ist das ganz grosse Gefühl. Über keines ist mehr geschrieben, öfters gesungen, mehr philosophiert worden und keines trifft uns mit wuchtigerer Kraft. Trotz ihrer Vielfältigkeit – denken wir nur an die Liebe zu Freund*innen, Musik, Hobbies oder zur Natur – begegnet sie uns meist in ihrer bekanntesten Form, der romantischen Liebe. Wie in anderen westlichen Gesellschaften, die bis heute dem Phantasma der romantischen Liebe nachhängen, weckt sie auch hier gewohnte Assoziationen: Zwei Menschen zelebrieren das Eins-Sein, schwören sich Treue, wachsen miteinander und aneinander, schenken sich gegenseitig Verständnis und Verlässlichkeit. Zwei Menschen befreien sich in Leidenschaft von der Einsamkeit. Mag dieses Ideal einer romantischen Liebesbeziehung im Leben vieler Menschen durchaus eine mehr oder weniger lange Episode ausfüllen, zeigt sie sich auf Dauer aber als unrealistische Überhöhung der Liebe.
Wie, so lässt sich anknüpfend fragen, leben denn die Menschen hier, in der Schweiz, ihre Liebesbeziehungen? Vorweggenommen kann schon mal, dass die Zweierbeziehung nach wie vor äusserst beliebt und in Form einer Gemeinschaft zwischen einer Frau und einem Mann dominant ist. Gemäss neusten Zahlen des Bundesamtes für Statistik leben drei Viertel der 18- bis 80-Jährigen in einer Beziehung und die meisten dieser Paare führen einen gemeinsamen Haushalt. In dieser Gruppe geniesst die Ehe eine hohe Attraktivität. So sind vier Fünftel aller Personen verheiratet, die in einer Hetero-Beziehung zusammenwohnen. Obschon das eheliche Zusammenleben nach wie vor die weitverbreitetste Partnerschaftsform ist, ging hinsichtlich Ehe und auch Scheidungen in den letzten fünfzig Jahren ein bemerkenswerter Wandel vonstatten: Menschen heiraten in der Schweiz aktuell deutlich weniger oft und scheiden sich doppelt so häufig als noch 1970. Mit rund zwei Scheidungen auf fünf Ehen liegt die Schweiz international verglichen damit im Mittelfeld. Ist der Ehe die Romantik abhandengekommen, sind die Leute weniger beziehungsfähig oder aber ist es ihnen heutzutage leichter möglich, sich aus nicht mehr gewollten Bindungen zu lösen? Das sind Fragen, die umtreiben und für hitzige Diskussionen sorgen. Tatsache ist jedenfalls, dass vielen Ehen romantische Gefühle und Vorstellungen zugrunde liegen, dieselben am «schönsten Tag des Lebens» zelebriert werden und dass dann doch in vielen Fällen spätestens nach einigen Jahren nicht mehr viel davon übrigbleibt. Davon zeugen nicht nur die Scheidungszahlen, sondern ähnliches zeigt sich auch bei unverheirateten Paaren. Selbst bei solchen, die in einer intakten Ehe oder ohne Trauschein zusammenleben, verflüchtigt sich die Romantik meistens mit der Zeit.
Worin liegt das Problem, mag sich so manche*r fragen, und warum klappt es mit der Romantik auf die Dauer so selten? Um das zu beantworten, ist es wichtig, die Verknüpfung von Inhalt und Form – sprich von romantischer Liebe mit der Ehe oder beständigen Paarbeziehungen – genauer anzuschauen. Das Konzept der romantischen Liebesbeziehung, in dem Partnerschaft und romantische Gefühle eng und dauerhaft aneinandergekoppelt sind, ist historisch betrachtet jung. In der westlichen Welt kam es erst vor ungefähr 250 Jahren im Übergang von der traditionellen zur modernen Gesellschaft auf. Die Institution Ehe gab es auch schon zuvor. Allerdings entsprach diese einer Zweck-, Vernunft- oder Solidargemeinschaft und basierte nicht auf gegenseitiger, romantischer Liebe. In der Vormoderne wurden Eheleute durchaus angehalten, sich zu lieben. Das Paar wählte sich jedoch nicht aufgrund der gegenseitigen Liebe. Die Idee also, dass die Liebe zwischen zwei Menschen vor der Heirat entflammt, durch die Eheschliessung quasi besiegelt wird und die beiden Eheleute anschliessend in romantischer Liebe verbunden sind, bis dass der Tod sie scheidet, entwickelte sich erst im 19. Jahrhundert.
Dass sich dieses Ideal der romantischen Liebe, vor allem verknüpft mit der Ehe, bis heute ziemlich zäh hält, erschwert die kritische Einsicht, dass der «Bund fürs Leben» doch auch ein starkes Abhängigkeitsgefüge begründet. Ökonomische Angewiesenheit, Machtmissbrauch oder psychische, physische und sexuelle Gewalt sind Phänomene, die in vielen Ehen anzutreffen sind. Überraschend ist das nicht, stehen die politischen und wirtschaftlichen Strukturen einer Gesellschaft sowie deren Geschlechterordnung doch in einer gegenseitigen Wechselwirkung mit der zivilrechtlichen Institution Ehe, die hierzulande bis 2021 explizit auf der Geschlechterdifferenz basierte. Die Schweiz hat diesbezüglich einige besonders bemerkenswerte Eigenheiten aufzuweisen: Beispielsweise trat erst 1988 das neue Eherecht in Kraft, das die rechtliche Gleichstellung von Frau und Mann bezweckte – das Ziel wurde nicht erreicht, aber doch eine deutliche Besserstellung der Ehefrau errungen. Zuvor definierte das Gesetz die Rollenaufteilung in der Ehe analog der bürgerlichen Geschlechterordnung. Der Ehemann galt als Familienoberhaupt, die Gattin war ihm untergeordnet. Sie durfte ohne Einwilligung ihres Mannes keiner Erwerbsarbeit nachgehen, kein eigenes Konto eröffnen oder sich eines grösseren medizinischen Eingriffs unterziehen.
Die Liste an rechtlich festgeschriebenen Ungleichheiten und Ungeheuerlichkeiten im Eheverhältnis war damit aber noch nicht beendet. Etwa war Vergewaltigung in der Ehe bis 1992 nicht strafbar. Frauen galten vor dem Recht (und in vielen Köpfen) also nur als Opfer einer Vergewaltigung, wenn sie nicht mit dem Täter verheiratet waren. Erst seit 2004 wird die Tat von Amtes wegen und nicht mehr bloss auf Antrag hin geahndet. Sich aus einer Ehe zu lösen, gestaltet sich zudem mitunter äusserst schwierig. Bis im Jahr 2000 konnten sich Eheleute nur scheiden, wenn ein triftiger Grund vorlag. Galt schliesslich die Frau als «schuldig», verlor sie den Anspruch auf Unterhaltsleistungen. Seit Kurzem haben Mütter bei einer Scheidung nicht mehr automatisch Anrecht auf Unterhaltszahlungen. In einer gleichberechtigten Gesellschaft, so die Argumentation, können diese einer Erwerbsarbeit nachgehen und selber für den Unterhalt sorgen. Die Begründung ist allerdings problematisch. Denn solange nach wie vor Lohnungleichheit zwischen den Geschlechtern herrscht, sich Frauen grossmehrheitlich um den Haushalt und die Kinder kümmern, eine gleichberechtigte Elternzeit fehlt und es an Kinderbetreuungseinrichtungen mangelt – um nur einige geschlechtsspezifische Ungleichheiten aufzuzählen –, ist eine Gesellschaft nicht gleichgestellt. Entsprechend bleiben in vielen Ehen und Paarbeziehungen Benachteiligung und Abhängigkeiten weiterbestehen – und dem Staat kommt die Ehe als Entlastungsinstitution für seine Versäumnisse zugute.
Solange das Ideal der romantischen Liebe jedoch über der Zweierbeziehung schwebt, ist es schwierig, mit sachlicher Analyse diese Aspekte in den Blick zu bekommen, über sie zu sprechen und Veränderung anzustossen. Allerdings, und das darf nicht übersehen werden, ist Wandel bereits da. Während sich viele weiterhin am Prinzip der romantischen, monogamen Partner*innenschaft orientieren, sind Konzepte anderer Liebesbeziehungsformen keine Randerscheinung mehr. Polyamorie, offene Beziehung, Freund*innenschaft+ oder LAT-Beziehungen werden inzwischen häufiger gelebt und öffentlicher verhandelt als auch schon. Grund genug also, um den in Ehe, Paarbeziehung und generell in der Gesellschaft noch immer stark verankerten Mythos der romantischen Liebe zu dekonstruieren. Grund auch, um offen zu werden gegenüber der vielseitigen Gestaltbarkeit von unterschiedlichen Liebesbeziehungsformen. Grund, um über die Liebe an sich nachzudenken.