by Vasco Boenisch
published on 08. March 2023

Nichts.

Scheinbar nichts.

Etwas Licht, ein Raum, Menschen, die sich versammeln. Menschen, die sich begegnen. Das Natürlichste von der Welt. Einer steht auf und erzählt eine Geschichte. Die anderen hören zu.

Mehr nicht.

Es hat uns gefehlt. Wir haben es vermisst, und an diesem Abend wird es noch oft gehen um das, was fehlt, um Lücken, die das Leben reisst, ums Vermissen, ebenso wie ums Vermeiden. Was fehlt? Wer? Und was braucht es manchmal, um eine Lücke zu schliessen, um neu anzufangen.

Einer steht auf und erzählt eine Geschichte. Die anderen hören zu.

Und der eine ist nicht allein. Der eine sind vier. Und es ist seine, ihre Geschichte. Und sie erzählen davon, als läge das alles weit zurück und als wäre das gerade jetzt.

So wie Dante sich 1293 hinsetzte und zu schreiben begann, insgesamt zwei Jahre lang. Wie er viele Seiten und Blätter ordnete, die er weit davor verfasst hatte, als seine grosse Liebe noch lebte, als er ihr zu Ehren Gedichte und Lieder schrieb, die aber verklausuliert waren, die nie ihren Namen nannten und die er nun endlich ordnen, einordnen, offenbaren und erklären will. Sich erklären will, öffentlich. Erklären, was damals geschah, mit ihm geschah.

Um das zu verstehen, müssen wir nicht wissen, wer Dante war, Dante Alighieri. Wir können einfach seiner Geschichte zuhören und uns wiederfinden in ihr. Und sie weiterdenken. Natürlich ist es spannend, sich zu vertiefen in biografische, historische, allegorische Verästelungen seines Lebens und seines Werkes, und es wäre gelogen zu behaupten, wir hätten dies für diese Aufführung nicht getan. «Aber während die Wissenschaft versucht herauszufinden, herauszulesen, was in einem Text steht, ist unsere einzige Aufgabe als Künstler*innen, etwas in den Text hineinzulesen, was wir daraus machen wollen.» Regisseur Christopher Rüping interessiert nicht eine Adaption von Dantes Das neue Leben oder Dantes Göttlicher Komödie, sondern die Beschäftigung mit bestimmten Themen, heute, jetzt. Sie sind der Impuls, der Ausgangspunkt. «Und manchmal findet man Stoffe, die ihre ganz eigene Zeit haben, und daraus entstehen Spannung und Kraft gegenüber den eigenen Fragen. Dies ist hier der Fall.»

Dante also. Der Jahrtausenddichter. Jedenfalls vom westlichen, europäischen Standpunkt aus. Der Mann, der sich selbst zu Lebzeiten schon ein (literarisches) Denkmal setzte und dem die Nachwelt bis heute Kränze flicht, ihn auf (sehr reale) Sockel stellt, Strassen, Plätze nach ihm benennt – weil er ihre, also unsre, Kultur wie kein anderer beeinflusst hat. Dante mit seiner überbordenden Vorstellung von Hölle, Fegefeuer und Paradies. Dante mit seiner Reform der literarischen Sprache. Dante, der sich alle künstlerische Freiheit nahm und seine Erfindungen uns, bis heute, als Inspiration und Material hinterlassen hat, sodass sich Künstler*innen noch immer, wieder und wieder, neu auf ihn beziehen, wofür diese Inszenierung, im 700. Jahr seines Todes, nur eines von vielen Beispielen ist.

Wer Dante kennt, kennt ihn als Autor der Göttlichen Komödie. Drei Bücher, 100 Kapitel, also Gesänge, 14.233 Verse. Sie haben ihn unsterblich gemacht (selbst wenn die meisten Menschen ihre Lektüre nach dem ersten Teil, dem Inferno, erschöpft abbrechen). Doch Dante hätte diese, seine Göttliche Komödie nicht schreiben können, wäre da nicht jene junge Frau gewesen, von der er in Das neue Leben erzählt. Anders zugespitzt: Dante schrieb die Göttliche Komödie nur, weil er mit jener Frau und mit sich noch eine Rechnung offen hatte. So betrachtet, ein Wahnsinn: Wegen der unerfüllten Liebe eines jungen Florentiner Dichters entsteht das wohl wichtigste Buch der westlichen Kulturgeschichte nach der Bibel.

Aber das ist tatsächlich Stoff für die Geschichtsforschung und Literaturwissenschaft. Genauso die Frage, wer jene junge Frau wirklich war – die Dante mit diesen Worten einführt: «die glorreiche Herrin meines Herzens, die von vielen, die nicht wussten, wie man sie nennen solle, Beatrice genannt wurde». Beatrice. Wörtlich übersetzt: die Seligmachende. Und als solche wird sie von Dante auch beschrieben, verherrlicht, idealisiert. Beatrice ist für ihn die Offenbarung des Heils. All sein Überhöhen rückt sie in den Stand einer Gottheit. Das mag Dantes allegorischem Konzept geschuldet sein, es mag der Tradition der ritterlichen Minnedichtung entstammen (wir befinden uns seinerzeit schliesslich noch im Mittelalter), es mag aber auch das extreme Schwärmen eines unerfahrenen, über beide Ohren verknallten Jungen sein – oder von allem etwas. So, wie Dante die Geschichte erzählt, traf er Beatrice mit neun Jahren, und seitdem war es um ihn geschehen. Er liefert keine psychologische Erklärung, wie ein Neunjähriger derart nachhaltig von einem gleichaltrigen Mädchen entflammt sein kann, aber schildert nachdrücklich, wie Beatrices Anblick ihm nicht nur den Kopf, sondern regelrecht den ganzen Körper verdreht. Er ist liebeskrank, Leid und Leidenschaft gehen fliessend ineinander über, verkörpert im Liebesgott Amor, der ihm von Zeit zu Zeit erscheint, mal furchterregend, mal väterlich.

Diese Liebe zu Beatrice bleibt unerwidert. Sie bleibt sogar unentdeckt. Und das ist das Aufregende, Aufreibende, Berührende daran. Der reale Dante verfasste und veröffentlichte bereits als junger Mann Liebesgedichte; das belegen Briefwechsel mit Dichterkollegen, die seine Verse interpretierten, kommentierten und schliesslich auch in Literatenkreisen bekannt machten. «Aber diese Lyrik war bedeutungsoffen», erklärt der Literaturwissenschaftler Karl Philipp Ellerbrock. Sie war allgemein, nicht konkret, nicht explizit. «In Das neue Leben setzt Dante Alighieri diese Gedichte und Lieder nun durch seine Rahmenerzählung in einen neuen Kontext.» Erst im Nachhinein deklariert Dante, als Hauptfigur seines eigenen Buches, die frühen Gedichte zu Gedichten auf Beatrice.

Er zielt auf die grosse Wirkung. Nicht in Latein, der Gelehrtensprache, sondern im Volgare, einer Art Alltagsitalienisch, verfasst er Das neue Leben, die Vita Nova (die man daher inzwischen eher als Vita Nuova betitelt), damit möglichst viele Menschen ihn lesen und verstehen konnten, insbesondere Frauen, die kaum Zugang zur lateinischen Sprache hatten. Diesem Prinzip auch später treu bleibend, legte Dante den Grundstein für die Etablierung einer literarischen Volkssprache, die schliesslich auch Boccaccio, Petrarca oder Machiavelli übernahmen. Im Neuen Leben formt Dante noch dazu eine neue literarische Gattung, den Dolce stil novo (süsser neuer Stil). Dieser entwickelte sich aus der Troubadourdichtung und zelebriert die Innenschau des Dichters, der die Wirkung weiblicher Schönheit auf seine Seele detailliert beschreibt, verbunden mit der Überhöhung der Liebe zur göttlichen Kraft, in paradiesischen Metaphern. Tatsächlich soll Dante der Erste gewesen sein, der für eine geliebte Frau das Wort «Engel» gebrauchte. Und noch etwas, von heute aus vielleicht etwas holprig Anmutendes praktiziert Dante: Nicht nur, dass er seine Sonette und Lieder einleitet und berichtet, nach welchen Ereignissen und aus welchen Beweggründen er sie verfasste, er liefert im Anschluss auch noch penible Gedichtinterpretationen nach: «Dieses Sonett besteht aus zwei Teilen, in deren erstem ich grüsse und Antwort erbitte und in deren zweitem ich erkläre, worauf geantwortet werden soll. Der zweite Teil beginnt mit den Worten …» – wie in einem Schulaufsatz, um auch ja die Bedeutung seiner Lyrik jedermann und jederfrau verständlich zu machen. Dante will mit der Vita Nova Zeugnis ablegen. Er hat, im wahrsten Sinne des Wortes, etwas auf dem Herzen.

Was Dante erzählt, ist die Geschichte einer grossen von ihm selbst verheimlichten, von ihm selbst aktiv verhinderten Liebe. Er schafft es nicht, sich Beatrice zu nähern, zu gewaltig wirft es ihn aus der Bahn, die Leute lachen schon – also beobachtet er sie nur von fern. Er produziert Liebesgedichte und Liebeslieder noch und nöcher – aber traut sich nicht, sie ihr zu schicken. Er erfindet Tarnbeziehungen zu so genannten Schutzschild-Frauen, «donna schermo», die er augenscheinlich anhimmelt und denen er, unaufrichtig, Gedichte widmet – um von seiner wahren Liebe zu Beatrice abzulenken.

Warum tut er das?

Weil er Angst hat. Angst, verletzt zu werden. Durch Zurückweisung, durch Spott. Weil er Angst vor der Wahrheit hat – was würde Beatrice ihm antworten? Und was würden die anderen daraufhin sagen? Dante riskiert ausdrücklich keine Verletzung, indem er sich nicht offenbart. Für Dante gibt es nur die Liebe in Gedanken. «Erfrischend an diesem Verhalten, an der Idee, finde ich, vielleicht auch gerade aus der Erfahrung der Isolation in der Pandemie heraus, dass diese Liebe in Gedanken vielleicht auch reicht. Dass man nicht immer alles besitzen muss, dass man nicht immer aus allem, auch aus der Liebe, ein Produkt machen muss», sagt Christopher Rüping.

So kann man letztlich Dantes Entschluss auch als ebensolchen bewerten, also nicht als Reaktion, als Furcht. Sondern als bewusste Entscheidung aus Überzeugung: Diese Liebe als besonders zu bewahren, indem man sie nicht zu leben versucht. Sie gewissermassen nicht in die Niederungen des Alltags hinabzieht. Sie gross, übergross zu belassen, perfekt, statt sie gewöhnlich und klein zu machen. Dann ist die Liebe in Gedanken kein Kompromiss, sondern Kraft. Die idealisierte Liebe und die gelebte Liebe entsprechen gegensätzlichen, widerstreitenden Lebenseinstellungen. Dazwischen entsteht Spannung.

Aus Dante Entschluss ergibt sich noch etwas anderes, auf der nicht privaten Ebene: Weil seine Liebe zu Beatrice nicht vollzogen wird, kann diese Liebe in den Bereich des Unsterblichen gelangen – und sich dort halten. Andernfalls wäre diese Liebe für die Menschheit nicht unsterblich. «Die Idee von Romeo und Julia funktioniert auch nicht im Reihenhaus», vergleicht es Christopher Rüping. «Romeo und Julia funktioniert nur als unerlöste, ungelebte Liebe.»

Also noch einmal: Warum tut Dante das? Nicht nur Dante, der Mensch, sondern auch Dante, der Dichter? Weil er daraus Inspiration schöpft. Nur solange seine Liebe unerreicht bleibt, kann er über sie schreiben.

Dantes letzte Worte im Neuen Leben sind diese: «Nach dem vorherigen Sonett hatte ich eine wunderbare Erscheinung, in der ich Dinge sah, die mich den Entschluss fassen liessen, so lange nichts weiter mehr über diese Selige zu sagen, bis ich in würdigerer Weise von ihr berichten könnte. Dahin zu gelangen, bemühe ich mich nun nach Kräften, so wie sie es wahrlich weiss. Und wenn es denn der Wille dessen ist, auf den hin alle Dinge leben, dass mein Erdendasein noch einige Jahre dauere, so hoffe ich, über sie noch zu dichten, wie noch nie über irgendeine gedichtet worden ist. Und sodann möge es ihm, dem Herrn der Huld, noch gefallen, dass meine Seele dahin schweben kann, wo sie den Glanz ihrer Herrin, der seligen Beatrice, schauen kann, welche strahlend in das Antlitz dessen schaut, der gepriesen werde von Ewigkeit zu Ewigkeit.» – Aus dem Rückblick betrachtet, ist dies wohl einer der genialsten Cliffhanger der Literaturgeschichte, selbst wenn Dante damals noch nicht diese konkreten Absichten hatte: Er verspricht, erst wieder über Beatrice zu schreiben, wenn er für sie, die Grossartige, die wirklich würdigen Worte fände. Darum will er sich bemühen. Und wenn er damit erfolgreich war, über Beatrice in nie gesehener Form zu dichten, dann sei er bereit zu sterben, in der Hoffnung, im Himmel Beatrice wieder zu begegnen.

Und fast genau das erfüllt sich Dante zwölf Jahre später, wenn er beginnt, seine Göttliche Komödie zu verfassen, zirka 1306, an der er bis 1321 arbeiten und in der er Beatrice ein literarisches Denkmal setzen wird: als diejenige, die ihn beruft, durch Hölle und Fegefeuer zu gehen, um ihn selbst daraufhin, als Botin Gottes, in höchsten Himmelssphären durchs Paradies zu führen. So ist tatsächlich «noch nie über irgendeine gedichtet worden». Und wenn Dante sich nicht den Wunsch hätte erfüllen wollen, Beatrice zumindest in der Fiktion einmal zu begegnen, dann gäbe es Die Göttliche Komödie nicht. Wenn Dante Beatrice seine Liebe gestanden hätte, gäbe es Die Göttliche Komödie nicht.

Die Inszenierung besteht aus drei Teilen – die wie tektonische Platten ineinandergeschoben sind, einander emotional überlagern. Der erste erzählt Das neue Leben. Dieses Büchlein, das sich gar nicht klar einordnen lässt: Ist es Psycho-Biografie, Roman der Liebe oder Gedichtsammlung? Auffällig ist schon hier Dantes mystische Zahlengläubigkeit. Während er später akkurat die drei Teile der Göttlichen Komödie in jeweils 33 Gesänge gliedern wird, drei als Symbol der göttlichen Dreifaltigkeit, so fokussiert er sich im Neuen Leben auf die Neun als leitendes Symbol: dreimal drei. Mit neun Jahren erblickt er Beatrice, neun Jahre später trifft er sie wieder, es sind mal die neunte Stunde, in der ihm etwas widerfährt, mal neun Tage, die er erkrankt. Und wer mag, entdeckt in der lateinischen Schreibweise des Namens BEATRIX natürlich am Ende auch eine römische neun. Später werden es neun Kreise sein, die Dante in der Hölle durchschreitet, und der anschliessende Läuterungsberg teilt sich in zwei Vorstufen und sieben Terrassen. Auch das Paradies besteht bei Dante aus neun Himmelsphären. Kosmologie und Spiritualität gehen Hand in Hand. Und natürlich mutet das schicksalsgläubige Beschwören der Neun im Neuen Leben (Vita Nova, lateinisch neun: novem) mitunter auch etwas gewollt, skurril an. Eine Liedanzeigetafel, wie man sie aus Kirchen kennt, greift die Neun-Gläubigkeit auf der Bühne spielerisch auf.

Es wird nicht versucht, darüber hinwegzutäuschen, dass dieser Text und diese Sprache fremd sind für uns heutzutage, für die Schauspieler*innen wie für das Publikum. Wir nähern uns langsam an. An den Text. Und auch aneinander. «Theater zu spielen ist nach dieser langen Pause und auch unter den aktuell noch geltenden Bedingungen immer noch nicht normal», sagt Christopher Rüping. «Deshalb möchte ich auf Augenhöhe mit dem Publikum in dieses Erlebnis Theater wieder einsteigen, gerade nicht überwältigend, effektvoll, sondern bescheiden, unplugged.» So kann sich nach und nach ein persönlicher Bezug zu dem Text, zu der Geschichte entwickeln, ein Abgleichen mit dem eigenen Leben, ein Mitfühlen. Genau so, wie es den Spieler*innen geht. Inszenierungen von Christopher Rüping zeichnen sich gerade dadurch aus, dass die Spielenden einander und dem Publikum frei begegnen können. Dabei gelingen ihm ebenso zarte wie emotional überschwängliche Arbeiten, die ihn, geboren 1985, zu einem der momentan prägendsten Regisseur*innen im deutschsprachigen Theater gemacht haben. Gerade erst ist er, zum wiederholten Mal, von der Fachpresse zum Regisseur des Jahres gewählt worden.

Bescheiden, unplugged, so begeben sich an diesem Abend alle gemeinsam auf einen Trip. Erst einmal durch die Gefühlswelt eines jungen Menschen und seiner Liebe in Gedanken. Unplugged ist dabei auch das musikalische Konzept. Der Pianist Paul Hankinson arrangiert buchstäblich mit unsichtbarer Hand, wenn er den canzoni d’amore, den Liebesliedern, Leben einhaucht und das Klavier zum autonomen Mitspieler macht, zum treuen, manchmal auch eigensinnigen Begleiter Dantes. Fast wie ein Mensch, der sein eigenes Gedächtnis und seine eigenen Absichten hat. Liebeslieder an sich, auch die von Dante in der Vita Nova veröffentlichten, zielen ja immer darauf ab, individuelle Gefühle zu kollektivieren, sie in einem gemeinsamen Erleben zu teilen, zum Nachfühlen zu vergrössern und regelrecht wegzuschenken. Wir kennen hierfür viele ikonische Lovesongs, die mit dem 20. Jahrhundert in unser globales Gedächtnis eingezogen sind. Sie vertreten in dieser Aufführung nicht nur das Gefühl einer Generation, sondern eben jenen Wunsch nach geteilter Gemeinsamkeit. Und ihre Lyrics fügen sich in die Dante’sche Narration und spielen sie weiter. Ein Abschiedslied (von Whitney Houston). Ein Liebeskummer-Song (von Britney Spears). Eine Treue-Beschwörungsode (von Meat Loaf), die sorgfältig unterscheidet zwischen dem, was man tun wird und was gerade nicht, alles für die Liebe. Oder schliesslich die verzweifelte Offenbarung eines jungen, dichtenden Menschen (Natasha Bedingfield) beim Versuch, die richtigen Worte für das richtige Gefühl zu finden: I love you, I love you, I love you.

Am Ende, nachdem Dante im Fiebertraum sowohl den apokalyptischen Untergang der Welt als auch Beatrices und seinen eigenen Tod vorausgesehen hat, fasst er sich ein Herz, ebendieses endlich zu öffnen. Doch in die Planung seines Liebesgedichts platzt jäh die Nachricht: Beatrice ist gestorben, tatsächlich. Der «grimme Tod», einst von Dante als «Vater aller Leiden» bös besungen, hat gesiegt. Hat Dante das Wertvollste geraubt. Zu früh geraubt. Mit 24 Jahren. Hat sein Herz zerrissen, sein Leben aufgerissen. Die Lücke klafft.

Wie geht man mit solchen Leerstellen um? Wie verkraftet man sie? Das Unerträgliche des Schmerzes, des Verlustes? Wie schafft man es wieder da raus?

Fragen wie diese standen am Anfang dieser Theaterproduktion und leiteten uns zu Dantes Geschichte.

Wie geht man damit um, dass man etwas nicht gemacht hat?

Wenn Beatrice stirbt, rasen Dantes Gedanken: Wir müssen doch noch … reden, uns küssen, miteinander schlafen, streiten, ein Haus bauen, einen Hund kaufen, Kinder kriegen, uns wiedersehen.

Zu spät. «Weil es nicht auszuhalten ist, im Leben eine Begegnung verpasst zu haben, gibt es, nicht nur für Dante, den Glauben an das Jenseits: um das nachzuholen», sagt Christopher Rüping. Dabei verstummt Dante erst einmal. «Tatsächlich beschäftigte sich Dante nach Vollendung der Vita Nova längere Zeit nicht mit Beatrice», erklärt die Literaturwissenschaftlerin Franziska Meier. Dante war verheiratet, Vater von vier Kindern, studierte philosophische und naturwissenschaftliche Fragen, stieg in die Florentiner Politik ein, wurde verbannt, zum Tode verurteilt und war schliesslich fern seiner Heimatstadt und seiner Familie auf der Flucht. Er machte «Welterfahrungen» (Meier), ehe er zu seinem grossen literarischen Werk ansetzte.

Und liess sich dann darin, als Protagonist seiner eigenen Dichtung, auf Beatrices Wunsch, als Busse für sein Leben von Vergil in die Hölle hinab und den Läuterungsberg hinauf führen, die Qualen der Sündigen bezeugend, mitleidend, den Gestank ertragend, mehrfach selbst kollabierend. Ehe er Aussicht auf eine Wiederbegegnung mit Beatrice haben könnte.

Trauern, leiden, sich wie in einen Kokon zurückziehen oder sich mühsam dem ausliefern, was andere von einem erwarten – diese Reaktionen kennen wir aus unseren Leben. Der zweite Teil der Inszenierung zeigt ebendiese Aufgaben: wenn man so will, als Weg durchs Inferno und Purgatorium, oder auch einfach als Form der Selbstbestrafung. Wie geht man damit um, dass man etwas verpasst, etwas nicht gemacht hat? Kostümbildnerin Lene Schwind findet für diese Anstrengungen fantastische Formen und Gestalten, auch von Dantes Höllenstrafen inspiriert. Komponist Jonas Holle taucht die Trauernden ein in eine mitreissende, suggestive Klangflut, definitely plugged. Und Bühnenbildner Peter Baur lässt tiefe Nacht und gleissendes Licht einander umkreisen, im ewigen Pendeln der Zeit auf der Spiralbahn Richtung Ausweglosigkeit. Hölle, Fegefeuer, zweimal neun Kreise, zweimal neun Minuten, oder doch eine Ewigkeit? Dantes Reise hat eine neue Stufe erreicht. Der Widerstand gegen den Tod und der Kampf mit ihm lagen von Anbeginn unter allem. Jetzt aber senkt sich die Unausweichlichkeit der Zeitläufte, die Schwerkraft direkt in den Raum, und egal, was du vielleicht noch sagen wolltest, gegen die Zeit gibt es kein Ankommen. Und du weisst das, und diese Hölle ist dir vertraut. Unser Trip führt uns in einen Zustand, durch den man durchmuss. Erst danach können die vier Menschen auf der Bühne, diese vier Seelen in Dantes Brust, wieder über Beatrice sprechen.

In der Göttlichen Komödie ist Dantes Weg fast auf die Stunde genau nachvollziehbar. Am Karfreitag des Jahres 1300 kommt er, der 35-Jährige, auf der Mitte seines Lebenswegs (denn seinerzeit betrug die symbolische Lebenserwartung 70 Jahre), von ebendiesem Lebensweg ab, sieht sich bedroht von Leopard (Symbol der Wollust), Löwe (Hochmut) und Wolf (Habgier) und flüchtet sich in einen Wald, aus dem er nur herausfindet, weil ihn Vergil an der Hand und direkt in die Hölle führt. Am Karsamstag beginnen die zwei ihren Abstieg zum eiskalten Erdmittelpunkt, in dem Satan steckt, um am Ostersonntag bereits auf der anderen Seite des Globus mit dem Aufstieg auf den Läuterungsberg zu beginnen. Hoch geht es bekanntlich schwerer als runter, weshalb dieser Reiseteil vier Tage in Anspruch nimmt, ehe sie das irdische Paradies erreichen – in dem erstmals Beatrice in Erscheinung tritt: verborgen hinter einem Schleier, den Blick nicht auf Dante richtend, aber bereits von so unbeschreiblicher Schönheit, dass es dem Verliebten fast die Sprache verschlägt. Am Donnerstag der Osterwoche, nachdem Dante gebüsst und im Fluss des Vergessens gebadet hat, führt ihn Beatrice durch das himmlische Paradies bis zu Gott, der als ewige Bewegung aus Licht und Liebe beschrieben wird. Im gesamten Himmel verbringt Dante nur wenige Stunden, dann schickt ihn Beatrice zurück auf die Erde.

Fast dreissig Jahre konnten sich die Leser*innen fragen, wie Beatrice denn auf Dante reagieren würde – und so wie er selbst sie sich jetzt erfindet, geht sie erst mal streng mit ihm ins Gericht, mit ihm und seinen Sünden auf Erden. Die Beatrice der Göttlichen Komödie tritt überlegen auf, schulmeisterlich, hart wie ein Richter, arrogant wie ein junger Schriftsteller, penetrant wie ein Beichtvater und pädagogisch übermächtig «wie ein Admiral, der Schiffe inspiziert», wie Dante schreibt. Und wie eine Mutter, die ihr Kind schimpft. Mutter, Lehrerin, Geliebte und Anwältin bei Gott – Dantes Beatrice hat viele Projektionen zu schultern. Sie gibt ihm Ermahnung und Trost, theologische und kosmologische Erklärungen, grenzenlose Schönheit und Fürsprache. Diese Beatrice ist überhöht, natürlich spricht Dante mit ihr nicht über seine Liebe, er fragt sie stattdessen nach dem Grund der Mondflecken. Und nach dem Aufbau des Universums, nach den Erscheinungen der Himmelsphäre. Sie nennt ihn «Waldbewohner» und trägt ihm auf, zurückzukehren und sein Buch zu schreiben, um vom Paradies zu künden. Dann entschwebt sie auf ihren Himmelsthron.

Von heute aus dürfen wir uns durchaus fragen, wer hier eigentlich wen wozu benötigt, ja gebraucht: Braucht Beatrice Dante, um unsterblich zu werden? Braucht Dante Beatrice, um unsterblich zu werden?

Kommt Beatrice, um Dante zu retten, oder findet Dante Beatrice, um gerettet zu werden? Plötzlich ist sie da. Im dritten Teil: Beatrice. Beatrice! Beatrice?

Beatrice.

Die Sublimierung ist vorbei. Die Begegnung findet statt. Mit Haut und Haaren und Herz und Verstand. Viviane De Muynck ist Beatrice. Die Grand Dame des europäischen Theaters. Ein Leben auf der Bühne, vor der Kamera, ein Leben im Scheinwerferlicht. Ihr Leben, ihr Körper, ihr Geist jetzt im Licht des Dante’schen Paradieses. Und vier junge Menschen vor ihr: William Cooper, Anna Drexler, Damian Rebgetz, Anne Rietmeijer. Lebenswege und Lebenserfahrungen begegnen sich. Fragen und Antworten. Und Gegenfragen. Zwei Generationen, zwei Perspektiven auf das, was das Leben ist.

War. Sein kann.

Noch sein kann.

Und was es nicht gewesen ist.

Auf die Lücken, die gerissen wurden. Auf den Schmerz, den Verlust. Auf das Neuanfangen.

In dieser Geschichte gibt es viele Neuanfänge. Ein neues Leben beginnt für Dante, als er Beatrice erstmals erblickt. Als sie stirbt, muss er wieder neu anfangen. Wenn er sie im Paradies trifft, ist es wie eine neue, zweite Chance. Und wenn sie ihn wegschickt, wieder Abschied, wieder Neubeginn.

«Sich selbst zu lieben und sich selbst zu vergeben, das ist das Schwierigste im Leben», hat Viviane De Muynck auf einer Probe konstatiert. Ihre Beatrice hat die Lektionen des Lebens gelernt. Und sie ist damit noch nicht fertig. Sie ist noch in Bewegung. Das macht sie leicht. Auch im Schmerz. Und das kann Dante von ihr lernen.

Ein Anfang der Schauspielerei soll vor vielen hundert Jahren darin gelegen haben, dass Reisende zu Menschen kamen, denen gerade ein*e Angehörige*r verstorben war. Sie liessen sich erzählen, wer diese Person gewesen war. Darauf eigneten sie sich das Wesen dieses Menschen an, traten in Verwandlung auf, und die Angehörigen konnten nun zu dieser Person sprechen, als wäre der Mensch wieder lebendig. So liess sich all das fragen und sagen, was zu Lebzeiten verpasst worden war.

Unsere Beatrice ist keine sphärische Erscheinung. Unsere Beatrice ist lebendig. Auch nur ein Mensch. Und das ist gut. Sie weiss: Die Angst vor dem Tod ist die Angst vor dem Leben. Und die Angst vor dem Leben ist die Angst vor dem Tod. Manche bleiben. Manche gehen. Gehen weiter.

Wie geht man damit um, dass man etwas nicht gemacht hat?

«Leben mit dem, was ist. Aushalten, dass nicht geworden ist, was nicht war.» Sagt Beatrice. Und der Regisseur, der ihr diesen Satz in den Mund gelegt hat, ergänzt: «Wenn wir an den Lücken, die das Leben reisst, verzweifeln und nicht die nächste Lücke riskieren, dann ist es vorbei.»

So sucht dieser Abend, nach all dem Schwärmen und Zurückschrecken, dem Widerstreben und Davonfliegen, dem Verzichten und Verlieren und Verpassen und Verschmerzen, dieses eine: Trost.

Nicht allein sein. Wieder zusammen sein. Wieder zusammenfinden können. Dinge beim Namen nennen. Wissen, es überstanden zu haben. Noch da sein. Und wenn wir wollen, immer, immer wieder neu anfangen.

Diese Hoffnung ist nicht naiv. Wir wissen, die Hoffnung auf das Gute, das Gutwerden, kostet nicht weniger als alles.

So steht es bei T.S. Eliot (auch ein grosser Dante-Kenner). Und was dort auch steht: Wir lassen niemals vom Entdecken.

«Es werden immer alle Dinge scheitern, zerbrechen, irgendwann», meint Christoper Rüping, «aber deshalb muss man die Zeit nutzen.»

Der Trip ist vorüber. Die Saaltüren offen. Die Wege offen.

Nicht mehr. Nicht weniger.

Nicht weniger als alles.