by Benjamin von Blomberg
published on 17. May 2022
Benjamin von Blomberg: Wahrscheinlich eine überflüssige Frage und dennoch: Würdest du dich eigentlich eine Feministin nennen?
Mithu Sanyal: Natürlich würde ich mich als Feministin bezeichnen! Feminismus – es gibt ja viele Feminismen, bedeutet für mich das Fenster, durch das ich politisiert worden bin. In meiner Jugend habe ich viele Dinge eindeutig als Sexismus identifiziert, wo ich heute sagen würde, das war blütenreiner Rassismus. Es ist trotzdem hilfreich, weil Unterdrückungsmechanismen ganz viele strukturelle Ähnlichkeiten haben, indem sie sagen, das eine ist die Norm, das andere ist die Abweichung und die Abweichung muss sich an die Norm anpassen. Ein Problem ist, dass wir immer denken, Feminismus – weil das Wort «feminin» oder «Femina» drin ist, – bezieht sich nur auf Frauen oder die Befreiung der Frauen. Meine Definition von Feminismus ist, dass Feminismus Gleichberechtigung für alle bedeutet.
BVB: Worin liegt das Versprechen eines «Feminismus für alle»? Der Gedanke, dass auch der Mann unter dem Patriarchat leidet, hat ja eine nach wie vor ungeheure Ausstrahlung –
MS: Das Versprechen wäre, dass wir alle das für uns Richtige aus der vollen Palette des Menschlich-Seins auswählen können. Die ganzen unsichtbaren Unterdrückungsmechanismen von Männern im Patriarchat, sind auch, dass wir Männern und Jungen den Zugang zu ihrer eigenen Empathie mit sich selbst erschweren. Es ist tatsächlich so: Je weniger Männer in Kontakt mit ihren eigenen Bedürfnissen sind, desto schwieriger können sie Frauen verstehen, die über ihre Bedürfnisse sprechen. Es ist zwar richtig, dass Männer im Patriarchat in den oberen Chefetagen immer noch die Mehrheit stellen, aber gleichzeitig sind viel mehr Männer von Obdachlosigkeit, Alkoholismus und Inhaftierungen betroffen. Das heisst, Männer sind gleichzeitig auch die absoluten Verlierer des Patriarchats, und das sehen wir viel weniger. Die typische Form von Männlichkeit und die typische Form von Weiblichkeit, wie wir sie zum Beispiel in Fernsehserien vorgeführt bekommen, ist ja nicht «Weiblichkeit» und «Männlichkeit», sondern sind soziale Pathologien. Bei der überangepassten Frau, die sich nur Gedanken um andere macht und hofft, allen zu gefallen, erkennen wir, dass das eine gesellschaftliche Verkrüppelung ist, eine seelische Verstümmelung, und dass man da viel machen muss. Aber Männer, die das Weinstein-Syndrom haben, sind genauso gesellschaftliche Pathologien. Das ist nicht, was alle Männer wollen und sich super damit fühlen, sondern das ist genauso eine Form von krankhafter Männlichkeit. Der Feminismus hat Männern unglaublich viel zu bieten. Man muss unterscheiden zwischen dem, was ich als Feminismus wahrnehme, und dem, wie es in den Massenmedien kolportiert wird.
BVB: Findest du Männer und ihre Probleme kommen im öffentlichen Diskurs nicht genug vor – haben Männer ein Lobbyproblem?
MS: Natürlich haben Männer kein grundsätzliches Lobbyproblem. Viele Probleme von Männern werden extrem ernst genommen; aber es kommt darauf an, wohin wir schauen; Männer haben an den Punkten, wo sie von hegemonialer Männlichkeit abweichen, Lobbyprobleme. Dort wo sie sagen, «Wir werden auch Opfer von sexualisierter Gewalt» oder «Es ist für uns nicht einfach, Väter zu sein». Das ist aber nicht wegen den Feministinnen, sondern weil wir als Gesellschaft enorme Probleme haben, diese Abweichungen in unser Bild von Männlichkeit einzuordnen und wir dazu neigen, diese mundtot zu machen. Frauen haben lange darum gekämpft, dass wahrgenommen wird, an welchen Punkten sie strukturell gesellschaftlich diskriminiert werden – und da gibt es diese grosse Angst, wenn wir auch Männer in ihrer Verletzlichkeit, als Opfer von Diskriminierung wahrnehmen, dass daraus dann der Schluss gezogen wird: Ach, wenn alle diskriminiert werden, dann ist das ja normal und man muss nichts gegen machen. Dabei ist das Gegenteil der Fall: Es gibt geschlechtsspezifische Diskriminierung, die sehr unterschiedlich ist, je nachdem, auf welcher Seite des Gender-Spektrums man verortet wird, und es gibt Diskriminierungen, die uns alle in der selben Form treffen. Das sollte uns sensibel für die Unterdrückungserfahrungen anderer Menschen machen, da ein System an einer Stelle zu ändern immer auch Auswirkungen auf das ganze System hat.
BVB: Im Zentrum von «Der Vater» geht es auch um einen bestimmten Vaterschaftsbegriff. Es geht um einen Ehestreit oder «Kampf der Geschlechter» wie das Strindberg nennt, und zentral darin werden der Zugriff auf das Kind, die Erziehung und die Entscheidungsbefugnis verhandelt. Du sagst, dass wir im deutschen Recht hinsichtlich des Umgangs mit Vätern gegenüber europäischen Rechten zurückstehen. Kannst du das ausführen?
MS: Es ist in Deutschland so, dass, wenn ich schwanger werde, bin ich automatisch natürlich die Mutter des Kindes. Anerkennt der Vater die Vaterschaft bevor das Kind auf die Welt kommt, hat er mit das Sorgerecht. Wenn der Vater aber erst nach Geburt des Kindes die Vaterschaft anerkennt, muss ich als Mutter ganz lange zustimmen, dass er mit das Sorgerecht bekommt. Was ich politisch richtig finde ist, dass Väter inzwischen das Sorgerecht einklagen können. De facto ist es aber relativ schwierig. Wenn es gut läuft, ist das gemeinsame Sorgerecht egal, wenn es schlecht läuft, kann es an den Situationen relativ wenig ändern. Männer werden als Väter als die Eltern zweiter Klasse adressiert. Die Väter sind diejenigen, die den Frauen helfen, die mit dem Handtuch bereitstehen, wenn die Frau das Babybad macht. Aber selbstständig Vater sein, da gibt es relativ wenig gesellschaftliche Narrative zu. In Deutschland ist es nach wie vor so, dass, wenn ich aufs Klo gehe in einem Restaurant, dann ist auf der Frauentoilette der Wickeltisch. So, was mache ich als alleinerziehender Vater? Gehe ich dann ins Frauenklo, werde ich blöd angeguckt. Nun wollte ich zufällig Kinder haben, aber ich weiss auch, wie belastend das für Freundinnen von mir ist, die kein Kind möchten. Sie werden trotzdem immer als potentielle Mütter adressiert. Die meisten Männer, die ich kenne, sind in dem Moment Vater geworden als ihre Freundin schwanger war oder das Kind auf die Welt gekommen ist. Frauen haben also dreissig Jahre Vorsprung, sich mit dem Gedanken des Elternwerdens auseinanderzusetzen. Es ist auch so, dass es für Männer juristisch schwieriger ist, Elternzeit zu bekommen. Die Firmen sind viel weniger offen dafür, weil der Gedanke fremder ist. Es ist aber total gemein, dass wir den jungen Männern sagen: «Ihr nehmt euch keine Elternzeit, ihr seid nicht emanzipiert genug», da wird ein strukturelles Problem individualisiert. Auch wenn die Väter Elternzeit nehmen und zuhause sind, sind sie am Spielplatz die Aussenseiter. Gesellschaftlich ist der Gedanke immer noch: Das Kind gehört zur Mutter.
BVB: Das andere Thema, was zur Zeit gesellschaftlich breit diskutiert wird, ist die Frage, inwieweit es notwendig ist, Sexualität stärker Regeln zu unterwerfen, und sexuelle Begegnungen zum Schutze – zumal der Frauen – zu organisieren. Die anderen sagen, Sexualität existiert erst durch die Freiheit, sie lebt davon, dass man immer wieder gemeinsam neu verhandelt, wo die Grenzen sind. Wie lässt sich dieser Wunsch nach Entfaltungsmöglichkeiten mit dem Streben nach Regulierung kombinieren?
MS: Es gibt keine Objektivität, es gibt Intersubjektivität, und Respekt spielt dabei eine ganz grosse Rolle. Im Moment verschieben sich sexuelle Normen und das ist gut. Ganz viele der Angeklagten bei den MeToo-Vorfällen haben gesagt: «Das war damals halt normal», das stimmt. Es war normal in dem Sinne, dass alle das gemacht haben. Es war nicht richtig, aber es hatte eine Normalität, doch Normalitäten verschieben sich. Dadurch verändern sich die Räume, auch die narrativen, in denen wir uns bewegen. Mir geht es in erster Linie darum, dass Leute mit sich selbst in Kontakt kommen. Je besser Menschen mit sich selbst in Kontakt sind, desto leichter fällt es ihnen auch, mitzubekommen, was Bedürfnisse und Grenzen von anderen Menschen sind, als auch sie zu respektieren oder ein Nein nicht als eine Zerstörung der eigenen Persönlichkeit wahrzunehmen, sondern als Information. Das macht den Umgang miteinander auch einfacher. Ich hatte mit meinem Partner immer Streit, wenn ich krank war. Er war davon genervt, und ich fand die Reaktion unfair, bis ich gemerkt habe: Er konnte selbst nicht sagen, was er brauchte und fand es nicht fair, dass ich das konnte. Im Stile von «Ich krieg nie was, wenn ich krank bin, und jetzt muss ich der auch noch einen Tee machen». Die Lösung ist nicht, dass wir alle den Mund nicht aufkriegen dürfen, sondern die Lösung ist natürlich, Tee für alle. Aber es ist dann unfair zu sagen, «Sag doch einfach was du möchtest», es gibt strukturelle Gründe, warum Männer schlechter über ihre Bedürfnisse reden können, oder schlechter mitbekommen, was ihre Bedürfnisse sind. Wenn Männer nun aber mehr auf ihre Bedürfnisse achten dürfen, wird es ihnen auch umso leichter fallen, auf die Grenzen von Frauen zu achten.
BVB: Ziel müsste also sein, dass man miteinander verhandelt, wie die Rollen verteilt werden und das jenseits von Zuschreibungen, Identitäten und Geschlechtern. Wie betrachtest du die Entwicklung der MeToo-Bewegung hin zu der Time’s Up-Bewegung? Hast du das Gefühl, dass da eine Chance läge, das zu einer kollektiven, auch antipatriarchalen, vielleicht sogar antikapitalistischen Bewegung wachsen zu lassen?
MS: Für mich war es eine grosse Erleichterung, dass wir nicht mehr nur darüber reden, dass Sex das Schlimmste ist, was Frauen passieren kann, sondern dass Sexismus Teil eines grösseren Systems ist. Der Kapitalismus wird mitgedacht. Es gibt ganz prekäre Arbeitsverhältnisse, und da wissen wir, gibt es viel mehr Grenzüberschreitungen, auch sexuelle, und das eine und das andere gehört zusammen. Darum müssen wir auch über Dinge wie Arbeitssicherheit, Einkommen, vielleicht auch über das bedingungslose Grundeinkommen reden. Ich fände das total sinnvoll! Sheryl Sandberg hat mal so schön gesagt: «Natürlich haben junge Frauen Angst davor, sexistisch behandelt zu werden, aber die grösste Angst, die sie haben, ist, dass sie keinen Job bekommen». Wir reden sowieso immer unglaublich sexistisch, als gäbe es nur Beziehungen zwischen Männern und Frauen, es gibt auch andere. Und auch da soll es Grenzüberschreitungen gegeben haben. Zu sagen, «Bitte werdet alle bessere Menschen», ist eine schwierige Forderung, aber zu fragen, «Wie ist es mit Arbeitssicherheit?», das kann man politisch durchsetzen. Es gibt ganz viele Konzepte, wo das bedingungslose Grundeinkommen durchgerechnet wurde, das ist eine reale politische Forderung.