Lehrer*innen im Theatergespräch:
Seluan Ajina

by Elsa Horstkötter
published on 06. May 2021

Seluan Ajina

Fächer: Deutsch

Unterrichtet seit: 2017

Traumberuf der Kindheit: Weiss ich das ehrlicherweise noch, wenn ich erwachsen bin?

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Wenn es Lehrer*innen gelingt, Jugendliche zum für sie scheinbar falschen Zeitpunkt an der richtigen Stelle abzuholen, ist das Gold wert. Ob Seluan Ajina ein solcher Lehrer ist, wissen wir und er nicht. Aber seine Lehrer*innen waren wohl, nach seinen Aussagen, manchmal ganze Goldbarren wert. Was machen diese Aha-Momente mit Schüler*innen und späteren Lehrer*innen? Ein Gespräch zu den Chancen dieser Beziehung. Und nebenbei ging es
natürlich viel um uns.

Q: Sie hatten leider in letzter Zeit coronabedingt nicht die Möglichkeit uns zu besuchen, sind uns aber seit 2016 sehr verbunden. Sowohl als Privatperson als auch mit Ihren Schulklassen sind Sie regelmässig unser Gast - nur für das Streaming konnten wir Sie nicht begeistern - verrät die Liste. Oder nur noch nicht?

A: Ja, Streaming hat für mich zu wenig mit einem Theaterbesuch zu tun. Ich schätze das Erlebnis vor Ort viel zu sehr, als dass ich mich auf Streaming einlassen kann. Vielleicht müsste ich da aus meiner Komfortzone heraus und es ausprobieren. Ich sehne jedenfalls sehr dem nächsten Besuch im Pfauen oder Schiffbau entgegen.

Q: Welcher Theaterbesuch ist Ihnen denn aus der Vor-Corona-Zeit besonders in Erinnerung geblieben?

A: Sicher Der Streik von Nicolas Stemann, das fand ich wirklich sagenhaft. Hamlet (2018) hat mich auch richtig mitgerissen und auch Der Mensch erscheint im Holozän von Alexander Giesche, das war der Hammer. Es ist schon so, dass ich mich stark an euch orientiere. Das schmeichelt jetzt, denn ich wähle mittlerweile sogar meine Lektüre mit den Klassen nach den Premieren vom Schauspielhaus aus. Meine Begründung ist irrational: Zum
einen gehe ich einfach gerne zu euch. Und zum anderen hat Schauspielhaus Zürich für mich etwas von: Wenn ins Theater, dann richtig. Ich will Faust bei euch sehen und nicht in einer Musical-Version. Rationaler wäre, ich sage: Ihr zeigt oft Kanon. Das stimmt zwar hinsichtlich meines Lehrplans, ist aber nicht so charmant.

Q: Das schmeichelt auf jeden Fall, vielen Dank. Ihr Kompliment lässt mich aber auch direkt rückfragen: Wir sehen ja nicht nur Ihre gebuchten Vorstellungen, sondern auch, dass bisher noch kein einziges theaterpädagogisches Angebot genutzt wurde. Gibt es dazu auch eine schmeichelnde Geschichte?

A: Das hat vermutlich auch viel mit meiner Komfortzone zu tun. Und ich möchte behaupten, dass ich mit dieser Komfortzone im Kollegium manchmal in guter Gesellschaft bin. Theaterpädagogik, da stelle ich mir Spiele vor, auf die ich keine Lust habe. Da soll ich dann in Rollen schlüpfen und aus mir herauskommen. Da sperrt sich etwas in mir, teilweise aus Scham und sicher aufgrund von falschen Vorurteilen.

Q: Interessant, dass Sie trotz fehlendem Erfahrungswert dann aber doch eine sehr genaue Vorstellung von theaterpädagogischen Angeboten zu haben scheinen?

A: Besser wäre es sicher, es auszuprobieren. Ich persönlich habe es am liebsten, wenn ich alles alleine machen kann. Ich nehme euer Angebot durchaus wahr und schätze es sehr, aber dennoch denke ich, ach, ich mach es lieber so, wie ich es mache. Das ist eine bequeme Haltung. Überspitzt formuliert eignet sich der Lehrerberuf sehr stark dafür, dass sich dort hochgradige Individualisten tummeln. Vielleicht möchte ich weniger nutzen und
stattdessen eher mit euch zusammenarbeiten. Das Angebot Partnerschule finde ich beispielsweise super, weil ich längerfristig mit euch kooperieren kann.

«Unabhängig von Familie, Gehalt, Sorgen, Leistungsdruck kann ich mich im Theater in einem wertfreien Raum darauf konzentrieren, was ich in einem Stück sehe. Das finde ich eine wertvolle Erfahrung.»

Q: Wie bereiten Sie Ihre Schulklasse auf den Theaterbesuch vor und wie gehen Sie zusammen mit dem Gesehenen um?

A: Was ich gerne mache, ist vor dem Besuch zu fragen, wie sie die Lektüre umsetzen würden. Bei «Andorra» haben wir das so gemacht. Da haben die Schüler*innen vor dem Besuch schon fast Inszenierungen gepitcht und danach haben wir geschaut, wie nah war das an den geäusserten Vorstellungen dran. Ich lege auch grossen Wert darauf, dass die Lektüre sitzt und sich die Schüler*innen länger damit auseinandergesetzt haben. Ich würde sagen, dass ein Theaterstück zwar auch ohne Textwissen funktionieren muss, aber es mit der vorherigen Lektüre ein nachhaltigeres Erlebnis werden kann. Es hat dann bereits eine Auseinandersetzung mit der Thematik gegeben, ich habe sozusagen dadurch einen kleinen Startvorsprung.

Ich denke, dass eine wichtige Erkenntnis ist, die im Alltag von meinen Schüler*innen sonst kaum eine Rolle spielt: Unabhängig von Familie, Gehalt, Sorgen oder Leistungsdruck, kann ich mich im Theater in einem wertfreien Raum darauf konzentrieren, was ich in einem Stück sehe. Das finde ich eine wertvolle Erfahrung und beobachte, dass insbesondere Schüler*innen, die noch nie im Theater waren und sich vorab mit dem Inhalt auseinandergesetzt haben, sich extrem auf den Abend freuen und begeistert sind. In der Regel werden die Erwartungen übertroffen.

Q: Sie unterrichten an der Berufsmaturitätsschule, Ausrichtung Gestaltung und Kunst. Der Schulstandort ist in Altstetten, während der andere Sitz der BMS nahe dem Bahnhof ist. Wäre es ein Vorurteil zu behaupten, dass das Interesse an Kunst und Literatur an Ihrem Standort höher ist?

A: Das ist naheliegend, oder? Ich habe am Anfang auch so gedacht, aber das ist viel zu einfach. Eventuell sind junge Menschen, die gestalterische Berufe wählen, eventuell kulturaffiner. Es hat aber auch in technischen Klassen Schüler*innen, die meine Inhalte aufsaugen wie ein Schwamm. Ein Vater eines Schülers der technischen Ausrichtung hat mir einmal geschrieben, er sei so begeistert, denn sein Sohn würde sich jetzt für Hamlet interessieren. Ich könnte bestätigen, dass man vielleicht öfter positiv überrascht wird, wenn man das Vorurteil ganz ausser Acht lässt und sich eher damit auseinandersetzt, welche Unterschiede zwischen BMS und Gymnasien hinsichtlich einer Kulturaffinität wirklich relevant sind. Viele Leute denken noch, dass Lehrlinge sich generell undifferenzierter mit Kultur auseinandersetzen. Kulturaffinität bedeutet aber nicht zuletzt, dass man z.B. in einem Elternhaus aufwächst, in dem Bücher zur Verfügung stehen oder Musik gehört wird. Mit einem solchen Hintergrund sind beispielsweise Aufnahmeprüfungen einfacher zu bestehen, weil Grundwissen von zuhause mitgebracht wird.

«Die meisten meiner Schüler*innen waren noch nie im Theater, am ehesten noch im Laientheater.»

Q: Was können Sie als Lehrperson zur Vereinfachung des Zugangs zu Kultur beitragen?

A: Ich habe die Möglichkeit, ein Türöffner zu sein. Ich kann meinen Schüler*innen diese neue Welt zeigen und ich sehe mich sehr gerne in dieser Position - das hat viel mit meinem beruflichen Selbstverständnis zu tun - sagen zu können: Schau, wir gehen jetzt ins Schauspielhaus und sitzen in der ersten Reihe.

Q: Weil Sie sich gerne, entschuldigung, in einer Gönner-Position sehen?

A: Nun, dass ich Lehrer geworden bin, hat sicher mit zwei, drei Lehrpersonen zu tun, die mir im richtigen Moment den notwendigen Schubs gaben. Wir sind mit der Schule auch ins Theater gegangen und ich hab das immer sehr genossen. Für mein jetziges Selbstverständnis ist das sehr wichtig, dass ich jungen Menschen solche Sachen zeigen oder ermöglichen kann. Die meisten meiner Schüler*innen waren noch nie im Theater, am ehesten noch im Laientheater.


Evaluation des Schauspielhaus Zürich

Q: Wie tragen wir dazu bei, dass sich Ihre Schüler*innen willkommen fühlen?

A: Mir ist aufgefallen, dass die neue Intendanz den Dialog sucht. Das finde ich sehr sinnvoll. Trotzdem merke ich, dass die gedanklichen Hürden noch hoch sind. Ich muss das beispielsweise immer wieder sagen, dass es günstige Tickets gibt. Das wissen meine Schüler*innen nicht. Diese unsichtbare Wand ist da und wird noch Arbeit beanspruchen. Zu viele kommen gar nicht erst auf die Idee, dass eine Jahreskarte fürs Theater erschwinglich ist, weil das nicht in der gleichen Lebenswelt passiert. Das könnte man eventuell noch deutlicher oder breiter kommunizieren.

Q: Werden wir in Ihren Augen den Erwartungen an ein Stadttheater gerecht?

A: Persönlich finde ich, dass ihr den Spagat zwischen Progressivität und Ansprüchen an ein Stadttheater sehr gut umsetzt. Den Intendanzwechsel merkt man auch hier deutlich und das trifft wahrscheinlich auch nicht immer nur auf offene Ohren, daher kann ich hier natürlich nur für mich sprechen. Generell hoffe ich als Lehrperson, dass Klassiker im Spielplan nicht zurückgehen.

Q: Für die kommende Spielzeit planen wir mehr Outreach-Projekte. Die Idee dahinter ist, dass wir nicht erwarten können, dass alle den Weg zu uns finden, deshalb kommen wir allen ein Stückchen entgegen. Wie finden Sie das?

A: Das fände ich super. Vielleicht lässt sich hier auch auf Ideen aufbauen, die bereits gut funktionieren. Zum Beispiel die Prozentzahlen von euch, dass Leute euch draussen finden, euch ansprechen können und dann mixen sie sich aus selbst gewählten Prozentzahlen, 70% Schmusi, 180% Gewalt etc., eine kleine Darbietung.

Q: Nun stellt sich die Frage: Was nehmen Sie aus einer Stunde Gespräch mit dem Schauspielhaus Zürich mit?

A: Mir ist noch mehr bewusst geworden, dass ein Schauspielhaus eine Institution ist, welche als Teil unserer Gesellschaft Verbindungen zu den Mitgliedern einer Gesellschaft herstellen kann und dies auch tut. Früher dachte ich immer, dass ich als Besucher eines Stücks eher eine passive Rolle einnehme — diese Haltung hat sich bei mir geändert. Ich sehe das Theater heute als ein Gegenüber, das mit mir in einem kommunikativen Verhältnis steht. So kann mich ein Stück fragen, kritisieren oder provozieren. Aber nicht nur eine Darbietung kann dies. Auch die Institution als solches — das Schauspielhaus — redet mit mir. Auf unterschiedlichen Kanälen. Ich sehe beispielsweise die grellen Poster in der Stadt, sie scheinen mit mir sprechen, mir etwas mitteilen zu wollen. Ich bin gedanklich bei der Institution, welche doch auf so vielen Ebenen teilnimmt am Diskurs dieser Stadt. Teilnehmen will. — Bürger, wie denkst du?