Mein Tag der Ruhe und Entspannung 2/3

by Mathis Neuhaus
published on 27. November 2020

Sich zurückziehen, aussteigen, pausieren, die Teilnahme verweigern. Für das, was man macht, wenn man nichts macht, gibt es viele Umschreibungen. Würdest du mehr schlafen, wenn du könntest? Oder weniger? Oder gar nicht? Wir haben drei Menschen 24 Stunden Zeit gegeben, um auf diese Fragen antworten zu finden. Allein, an einem geschützten, aber nicht gänzlich privaten Ort. Auf den Open Call via Instagram reagierte unter anderem Ilknur Bahadir, die als Schauspielerin und Regisseurin in Basel lebt. Im nachfolgenden Interview spricht sie über die Anziehungskraft des Bettes, Passivität und deren Folgen.

Mathis Neuhaus: Kannst du rekapitulieren, wie du deine Tage im Lockdown verbracht hast und wie du die Zeit empfunden hast?

Ilknur Bahadir: In der ersten Welle im Frühling habe ich die Situation als befreiend empfunden. Mit allen zusammen nichts zu müssen. Ich bin jemand, der schnell zu Sorge und zu Angst neigt, aber all das ist ausgeblieben. Mich kann man schnell irritieren und trotzdem stellte sich das Gefühl einer Aufgehobenheit ein, weil es alle betraf. Ich war kreativ und organisiert, was auch sehr viel mit meiner Tochter zu tun hatte. Sie ist, im Gegensatz zu mir, ein sehr strukturierter Charakter, hat sich auch an Tagen, an denen kein Onlineunterricht war, einen Wecker gestellt. Das hat mich mitgezogen. Ihre Strukturiertheit hat mich beschämt hinterlassen, wenn ich im Bett liegen geblieben bin und so waren wir eine produktive Wohngemeinschaft. Ich hatte auch keine beruflichen Sorgen, weil ich davon ausgegangen bin, dass der Zustand nur ein temporärer ist. Jetzt ist es anders: ich bin nervöser; immer länger beim Arbeitsamt und wissend, dass diese Unterstützung nur eine Unterstützung auf Zeit ist. Und ich kann mich momentan nirgendwo bewerben.

Mathis Neuhaus: Fällt es dir leicht, nichts zu tun?

Ilknur Bahadir: Schon, allerdings auch deswegen, weil ich viele Kanäle habe, um meine Interessen auch passiv zu bedienen. Mir ist nie langweilig. Aber nicht zu arbeiten und trotzdem Geld zu bekommen, ist für mich schrecklich. Ich arbeite gerne und es geht mir eigentlich immer gut, wenn ich viel arbeite. Und dieses Gefühl bleibt gerade aus. Ich geniesse die Ruhe und das Geld nicht, sondern fühle mich bisweilen genau deswegen schlecht.

Mathis Neuhaus: Bist du durch die Pandemie zu Schlüssen oder Erkenntnissen gekommen, was deine eigene Arbeit und künstlerische Praxis betrifft?

Ilknur Bahadir: Ich bin ohne die Struktur von Aussen eher verloren. Vielleicht hat das auch mit Disziplin zu tun. Ich bin jemand, die gerne für eine Gemeinschaft und ein Team da ist und in diesen Kontexten aufblüht. Nur für mich alleine in meinem Nest zu sein ist da schwieriger. Obwohl ich den temporären Rückzug auch liebe. ich brauche viel Rückzug, aber ohne die Begegnung mit anderen bin ich lost. Ich habe keine Zukunftspanik, aber es macht mich unglücklich. Ich fühle mich schlecht, Geld zu bekommen, ohne etwas dafür zu leisten.

Mathis Neuhaus: Wie erholst du dich?

Ilknur Bahadir: Sport hilft. Mein Schlaf ist nicht erholsam, weil ich in dieser Zeit viel verarbeite. Ich wache seit Monaten unentspannt auf. In den Pandemiemonaten scheint Erholung eher eine Zwangserholung zu sein was dazu führt, dass ich gar nicht erholt bin. Mein Körper ist nicht entspannt, mein Kopf auch nicht, mein Schlaf auch nicht. Erholung in einer Null-Zeit wie jetzt ist für mich schwer zu erreichen. Obwohl ich sehr viel nichts tue.

Mathis Neuhaus: In einem früheren Gespräch hast du von deiner derzeitigen Situation erzählt. Ist das auch einer der Gründe, warum du dich auf den Open Call gemeldet hast?

Ilknur Bahadir: Auf jeden Fall, das hat bei mir sofort was ausgelöst. Das Bett ist für mich Fluch und Segen. Die schönste Zeit ist es, abends endlich ins Bett gehen zu dürfen. Andererseits sind die Stunden und Tage im Bett vergangen. Es ist einerseits etwas, das ich machen muss, weil mir im Bett nichts passiert. Es ist ein sehr wichtiger Rückzugsort. Andererseits, auch und speziell als Mutter, ist das Bett schambelastet, weil ich vorlebe: die Mutter hängt im Bett. Es klingt nach einer Ausrede, aber ich konnte oft nicht anders. Als ich auf den Open Call gestossen bin, dachte ich: «Erlaubt im Bett und das für 24 Stunden?» Mein ganzes Leben versuche ich, aus der Tragödie Kunst zu machen. Auf einmal können Dinge einen Sinn haben. So lässt sich der Rückblick auf viele schmerzhafte Sachen aus meinen Leben verkraften. Dass es zu etwas Gutem gedient hat und ich daraus, mehr oder weniger, versucht habe, Kunst zu machen. Dann hat es eine Sinnhaftigkeit. Ich dachte sogar noch, nach diesen 24 Stunden könnte ich meine Bettphase abschliessen, aber das habe ich nicht geschafft.

Mathis Neuhaus: Haben sich die 24 Stunden anders angefühlt als in deinem eigenen Bett?

Ilknur Bahadir: Natürlich. Es war für ein Publikum und mit einem solchen fühlen wir Künstlerinnen uns natürlich sehr wohl. Die Kontextualisierung als künstlerisches Projekt erlaubte es mir, das Bett in einem neuen Licht zu sehen. Ausserdem haben fast alle Passant*innen, die am Schaufenster vorbeiliefen, herzlich gelacht. Eine sehr fröhliche Aktion war das.

Mathis Neuhaus: Hast du dich nach den 24 Stunden eher erholt oder eher erschöpft gefühlt?

Ilknur Bahadir: Im Gegensatz zu Zuhause war ich nicht erschöpft, gar nicht. Es war erlaubt und das machte den Unterschied. Natürlich ist es auch Zuhause für mich erlaubt, nichts zu tun, niemand verbietet es mir – aber es verbietet sich für mich.

Mathis Neuhaus: Was bedeutet der Begriff «Privilegien» für dich?

Ilknur Bahadir: Ein Privileg ist für mich mein Leben in der Schweiz. Es ist der erste Ort, den ich Heimat nennen kann, von dem ich behaupte: das ist mein Zuhause und hier will ich alt werden. So ein Gefühl hatte ich noch nie zuvor. Wärme, Freundlichkeit, Sicherheit, Höflichkeit im Alltag zu erfahren und schöne, intakte Schulhäuser: das sind Privilegien. Dass Arbeit wertgeschätzt wird und sich diese Wertschätzung auch in Zahlen ausdrückt. Nichts davon ist selbstverständlich.

Mathis Neuhaus: Wenn dich jemand dafür bezahlen würde, ein Jahr so viel zu schlafen, wie möglich, würdest du es tun?

Ilknur Bahadir: Nein. Ich will ja raus aus dem Bett und zurück auf die Probebühne im Theater.


Das nachfolgende Material ist Ilknur Bahadirs persönliche Dokumentation der 24 Stunden im Bett. Es zeigt nicht nur ihre bevorzugten Unterhaltungsformate, sondern erlaubt durch die zwei Zeichnungen auch einen Blick auf das, was ihr in den 24 Stunden durch den Kopf ging.

gelesen

  • Mein Jahr der Ruhe und Entspannung von Ottessa Moshfegh

geschaut

gehört

  • Mea Culpa with Michael Cohen
  • Pussy Church
  • Rumble with Michael Moore
  • Fest und Flauschig
  • Birdy
  • Igor Levitt
  • Deutschlandfunkkultur: Sibylle Berg, Geschichte verändern geht nur mit Geld und Macht
  • talk ART: Kenny Schachter (QuarARTine special)