DA, DIE ORNITHOLOGEN, JA, SIE PFEIFEN, SIE PFEIFEN VERHÄLTNISSE ZU ZEITEN BEIZEITEN–
Gedankenexperiment von Katja Brunner zum aktuellen Ausnahmezustand
by Katja Brunner
published on 14. April 2020
OK, der Mensch als Wirt, der Mensch als Kneipe für die Viren
OK, die STILLE ist eine ganz andere als zuvor
OK, anders in die Stille gehört
Wir haben die Bruteier in einen Inkubator gelegt. Dort liegen sie seit 11 Tagen, jedes Mal, wenn ich die Feuchtigkeit (55%) wie die Temperatur (37,5 Grad Celsius) überprüfe, kommen mir die Eier dicker vor. Als wüchsen mit den Zellteilungen auch die Schalen. Ich schaue auf die Eier wie auf Geschenke. Ich klebe den Stecker, der den Inkubator mit Strom versorgt, mit Band hochsicherheitstraktig an die Steckdose. Kein Stolpern, kein Versehen darf die Versorgung der Eier mit Feuchtigkeit und Wärme unterbrechen. Wir führen gewissenhaft und maximal tätig eine Strichliste. Seit 11 Tagen teilen die Zellen, bilden sich winzige Herzen, wachsen Äderchen, ernährt sich ein wachsender Organismus von dem ihm eingegebenen Dotter. In 10 Tagen werden sie im Schlüpfen begriffen sein. In 10 Tagen werden wir sie wiegen können. Werden wir mit ihnen wie mit Erwachsenen reden. In 10 Tagen werden wir Haferschleim in kleine Schälchen füllen und in dicht gestaffelten Intervallen kontrollieren, ob die Wärmelampe noch warm genug ist. In 10 Tagen werden wir mit Sorgenfalten hantieren und Lauten des Wohlbehagens und der Verzückung. In 10 Tagen werden wir zaghafte Geräusche hören, das determinierte Fiepen eines nach Leben ausgerichteten Zellklumpens. Zellkumpel mit Federflaum. In 10 Tagen werden wir Namen vergeben und kontinuierlich Charakterzüge auszumachen versuchen, um abschätzen zu können, ob die Namen passen. Wir werden wiederum Listen anfertigen, die übersichtlich darstellen, zu welchen Teilen wer wie gefüttert wurde. Wir werden die neuen Zellklumpen so barock als möglich in dieser Zeit, zu der sie geboren wurden, empfangen.
Für uns ist ein Zeitalter der intensiven Listenführung angebrochen, uns Stift und Papier in die Hand zu geben, zwei Dinge, die zuverlässig suggerieren, es gebe Bestandteile einer Existenz, die vollkommen der eigenen Kontrolle unterlägen. Die bestätigen, dass manche Gesten ihre Bedeutsamkeit nicht verlieren.
OK, „Notsituationen sind hierarchisch, Smog ist demokratisch“, Ulrich Beck
Der Smog hat sich gelichtet, ist vielleicht weniger geworden, die Demokratie scheint korrelierend dazu auch weniger geworden zu sein; Kontaktverbote, Datenschutz als bald anachronistisches Konzept. Schlüsselanhänger, die jede Bürgerin fortwährend orten. Wir überlegen, unsere Küken sofort zu chippen.
Privilegien leuchten hell durch eine kaum konturierte Zukunft.
OK, am leeren Himmel
Still liegt der Himmel und furchtbar blau, dieses Blau, das sofort Blutfluten grösser werden lässt.
Ab und zu eine Drohne, die Polizei muss schliesslich wissen, wer welchen Hund wann spazieren führt. Das sind die neuen Zustände, sagen wir zu den Küken. Wir wollen sie nicht beunruhigen.
OK, Ornithologen
Die Ornithologen sind wieder da. Sie sind auferstanden. Der Winter war lang und hart, obwohl er eigentlich mild und kurz war; ihnen war er lang und hart. Die Ornithologen sind wieder da, sie liegen auf ihren Bäuchen und stützen sich auf Ellbogen, sie sitzen auf Bänken und essen belegte Toastbrote aus Tupperwarepackungen. Beliebt sind Ei-Essiggurkenkombinationen, die über eine sparsame Schicht Butter gelegt werden. Konjunktur hat auch Schinkenkäse, mittlerweile sind jedoch einige unter die Vegetarier gegangen. Die Ornithologen sind wieder da, die Gläser sind gewischt, die Ferngläser systematischen Reinigungen unterzogen. Um die Hälse gelegt sind die Feldstecher.
OK, unglücklich am Mittagstisch
Sie halten es fest, das Zeitungspapier wie das Leben oder sein zitterpapierner Ersatz. „Tragödie an der Limmat, Frau mit Kind gesprungen“. Beide tot?, fragt Frau Denoth beinahe hoffnungsfroh. Nicht aus Rohherzigkeit, sie spürt nur gerne das mitleidsvolle Gruseln, das ihr Todes – und Skandalbotschaften zuverlässig verursachen.
OK, wusste gar nicht, dass so viele meiner Freund*innen virologisch vorgebildet sind
Verdeckte Talente, unterschlagene Ecken in der Vita. Vormals ungepflügte, nun maschinell bewirtschaftete Wissensfelder.
OK, wo ist eigentlich Joe Biden, wenn man ihn braucht?
Joe Biden ist in seinem Keller, wo er es sich gemütlich gemacht hat. Die ersten Tage dieser drohenden Eskalation hat Joe Biden noch arbeitenderweise zugebracht – seine Crew koordinieren, Auftritte planen, delegieren und vor allem: Internetauftritt überarbeiten. Mit Sally, seiner social media Verantwortlichen.
Mittlerweile ist Sally auf den Bahamas, wo sie sich anscheinend regelmässig sonnt und grossformatige Kunstwerke aus Bananen baut.
Joe Biden ist in seinem Keller, hämmert etwas, hört BILL WITHERS und versucht nicht an seine Jugendliebe Nathanael Smithers zu denken. Joe Biden ist wieder 25. Manchmal macht er ein Video. Sally schreibt ihm: Warte BITTE (!) bis ich zurück bin.
OK, nochmal anders in die Stille gelauscht
OK, UNTERBEZAHLTE + UNBEZAHLTE SORGEARBEIT = EIN SOLIDES FUNDAMENT
OK, IST DIESE PHASE JETZT VIEL MEHR UND NOCH UND NOCHMAL UND WIEDER EIN FRISCH AUSGESTELLTES ARMUTSZEUGNIS, DASS SORGEARBEIT (PFLEGEBERUFE, KINDERBETREUUNG USW) SYSTEMATISCH NACH „UNTEN“ DELEGIERT WIRD, UM DORT – HALB UNSICHTBAR – SCHLECHT BEZAHLT ZU BLEIBEN?
Wir hatten uns die Apokalypse anders vorgestellt, sagen wir zu unseren Küken. Wir dachten nicht, dass sie unsichtbar kommt, wir hatten intuitiv gemutmasst, sie komme aus den USA, wenn sie nicht aus der Natur käme, denn beides: Die Natur wie die USA schienen uns wie zwei unverrückbare Realitäten, die Schaden nehmen könnten, aber nicht endgültig enden. Wir hatten uns nicht vorgestellt, dass zuerst die Kleinunternehmen wie Eier am Boden aufplatzen. Wir hatten uns nicht vorgestellt, dass wir eine globale Zerklüftung in bunten Socken und am TV Gerät nachvollziehen würden. Wir hatten gedacht, wir rennen über brennende Felder. Wir hatten Detonationen vorhergesehen und Schweissausbrüche und Kleidung in Tarnfarben. Wir hatten mit Söldnern gesprochen, die zu uns sagten: Geht in die Berge, geht schnell. Wir hatten nicht gedacht, dass auf einmal so klar würde, wer nicht in die Berge gehen kann, sagen wir zu den Küken.
Aber wir hatten etwas geahnt, dass jene Menschen, die bis zur Erschöpfung ihre Lebens – und Arbeitskraft geben, dass jene Menschen ungesehen unterbezahlt blieben, das hatten wir etwas geahnt, aber nicht für wahr gehalten. Häusliche und emotionale, pflegende und reproduktive Arbeit, dass sie alle bis heute nicht proportional zu ihrer Wichtigkeit finanziell (und sonstwie) anerkannt werden, das ist eine moralische Bankrotterklärung – UND WIR VERWENDEN AN DIESER STELLE NICHT ZUFÄLLIGERWEISE WIRTSCHAFTSJARGON - für unser gemeinsames Leben, sagen wir zu den Küken.
OK, who’s afraid of the big black wolf?
Der Social Freeze. Das tradierte Einüben einer Angstklammer. Magische Momente des Erstarrens. Die diversen Angsttypen aufzuschlüsseln. Das still gebückte Mädchen, festhaltend am Leben, erstarrt im Versuch, unsichtbar zu werden.
OK, Fahrradfahren
Ich habe ein Fahrrad. Solange ich ein Fahrrad habe und Beine, es zu fahren, ist alles gut. Ich lege meinen Besitz dar. Ich nummeriere die T Shirts, dann ordne ich sie NEU nach Farben. Ich stelle mir vor wie ich die Nummern wegnehme, wenn ich wieder rausgehen kann, um andere Dinge zu tragen als Fahrradkleidung und alternativ Sofabekleidung.
Dann beginne ich aufzuschreiben, woran ich mich erinnere, was zu meinem Besitz gehört. Ich kartografiere meinen Besitz.
Dann schaue ich durch das echte Fenster und dann durch mein Kommunikationsfenster. In meinem Kommunikationsfenster sitzt eine Frau. Ich überlege, wer sie ist. Eine Dauer, die mir wie eine Viertelstunde vorkommt, ich realisiere, dass diese Frau meine Mutter ist. Ich winke ihr zu, die Pixel machen sie historisch.
OK, Alkohol
Die Frau an der Kasse, sie kennt mich. Seit zwei Monaten kaufe ich höchstregelmässig bei ihr Alkohol für eine ganze Sippschaft, die nicht die meine ist, aber eine. Keine schlechte, eine ganz gute.
OK, DIE SONNE
Sie bittet um etwas Verständnis
für die zitternden Organismen
/nein, tut sie nicht/
OK, DIE ORNITHOLOGEN SIE PFEIFEN JA SIE PFEIFEN
Ein Ornithologe schreibt in sein Notizbuch: Dieses Frühjahr sind die Habichte auffällig scheu.
OK, Namen
Mein liebstes Küken heisst Nadeschda Suslowa.
P.S. Vieles fühlt sich plötzlich so entsetzlich schützenswert an.
P.P.S. Bald schieren wir die Eier.