Biedermann und die Brandstifter
Zu diesem Abend
Eben noch hatte der Biedermann an seinem Stammtisch gegen all die Brandstifter, Hausierer und Taugenichtse aufbegehrt, da stehen sie auch schon vor der eigenen Haustür. Seinem Dienstmädchen Anna gelingt es trotz Anweisung nicht, die Brandstifter abzuweisen. Abgewiesen wird hingegen Knechtling: Der Angestellte fühlt sich um das Patent seiner Erfindung betrogen, mit dem Biedermanns Familienunternehmen sein Geld verdient. Dennoch wird Biedermann ihm kein Gehör schenken. Nicht ohne Verwünschungen schickt er, eigentlich doch redlich um Rechtschaffenheit und Aufgeschlossenheit gegenüber Erscheinungen des Zeitgeistes bemüht, ihn wieder fort. Wobei sich der Biedermann ansonsten klar der Tradition verpflichtet, keinem Menschen seine Haltungen ideologisch aufzuzwingen und sich wohlbedacht aus fremden Angelegenheiten herauszuhalten. Damit hat er es zu viel Ansehen und auch Wohlstand gebracht. Die Brandstifter nisten sich unterdessen auf seinem Dachboden ein, auf dem auch er sich dadurch öfter mal wieder aufhält. Was geht da nur vor? Es scheint so, als wollten die Brandstifter ihm nichts Gutes? Am Ende wird in jedem Fall Biedermanns Ehefrau kaum noch die Fassung wahren können, das Dienstmädchen zusammengebrochen sein, Knechtling sich umgebracht haben und auch Biedermanns Haus in Flammen stehen – warum musste es nur, warum sollte es nur so weit kommen?
- Inszenierung
- Nicolas Stemann
- Bühnenbild
- Katrin Nottrodt
- Kostümbild
- Marysol del Castillo
- Musik
- Sebastian Vogel / Thomas Kürstner
- Film / filmische Installation
- Institut für Experimentelle Angelegenheiten / Claudia Lehmann / Konrad Hempel
- Licht
- Carsten Schmidt
- Dramaturgie
- Benjamin von Blomberg
- Audience Development
- Silvan Gisler
- Touring & International Relations
- Sonja Hildebrandt
- Künstlerische Vermittlung T&S
- Nicole Breitenmoser
- Produktionsassistenz
- Linda Hügel
- Bühnenbildassistenz
- Naemi Jael Marty
- Kostümbildassistenz
- Renée Kraemer / Sophia May
- Mitarbeit Film
- Sabrina Tannen
- Produktionshospitanz
- Philipp Stevens
- Bühnenbildhospitanz
- Philipp Stäheli
- Kostümbildhospitanz
- Lisa Alexa Gieseler
- Dramaturgiehospitanz
- Maya Scharf
- Hospitanz Audience Development & Dramaturgie:
- Anna Vankova
- Inspizienz
- Eva Willenegger
- Soufflage
- Katja Weppler
- Übertitel Übersetzung
- Corinne Hundleby
- Übertitel Einrichtung
- Raman Khalaf (Panthea)
Aufführungsrechte: Suhrkamp Verlag AG Berlin
Mit der freundlichen Unterstützung von Peter und Gigi Frisch
Besonderer Dank an Dr. Tobias Amslinger und Prof. Dr. Thomas Strässle vom Max Frisch-Archiv.
Sebastian Rudolph übernimmt die Rolle von Kay Kysela bis einschliesslich 31.Mai. Urs-Peter Halter übernimmt die Rolle von Sebastian Rudolph.
Ausführliche Besetzung
Patrycia Ziólkowska: Biedermann / Chor
Niels Bormann: Anna, ein Dienstmädchen / Schmitz, ein Ringer / Polizist / Chor
Kay Kysela: Babette, Biedermanns Frau / Eisenring, ein Kellner / Polizist / Chor
Daniel Lommatzsch, Sebastian Rudolph (alternierend Urs-Peter Halter): Der Chor, bestehend aus den Mannen der Feuerwehr
Anina Steiner, Ann-Kathrin Stengel, Hannah Weiss: Witwe Knechtling
Thomas Kürstner, Sebastian Vogel: Live Musik
Zu dieser Inszenierung
Biedermann und die Brandstifter von Max Frisch wurde am 29. März 1958 in der Regie von Oskar Wälterlin am Schauspielhaus Zürich uraufgeführt. Das Stück basiert auf früheren Arbeiten Frischs aus den Jahren 1948 bis 1952 und gilt als wichtigstes dramatisches Werk des Autors, obwohl er selbst damit unzufrieden war: Zu didaktisch sei die Fabel, auch über die plumpe, antikommunistische Rezeption der Uraufführung war Frisch bestürzt. Das Zürcher Publikum sympathisierte damals mit Biedermann als vermeintlich wehrlosem Opfer widriger, politischer Umstände. In der Folge verfasste Frisch ein Nachspiel, das die Scheinheiligkeit des Titelhelden stärker ausstellte und direkt auf den Nationalsozialismus bezog. Dieses Nachspiel strich der Autor aber bald wieder, weil es den offenen, parabelhaften Charakter seines eigenen Werks unterlief.
In der Tat kann das Stück als politische Parabel auf den Umgang eines übersättigten, selbstbezogenen Bürgertums mit den Ideologien des Nationalsozialismus oder Kommunismus gedeutet werden. Eine erste Prosaskizze des Stoffs aus dem Jahr 1948 entstand als Reaktion auf die Machtübernahme der Kommunisten in der Tschechoslowakei. Gleichzeitig kann das Drama – ob mit oder ohne Nachspiel – als feinteilige Analyse des Mitläufertums während des Nationalsozialismus gedeutet werden. Frisch bietet ausserdem eine weitere Deutung an: Er verstehe, so der Autor, die Brandstifter auch als einen verdrängten Angstanteil der Biedermänner selbst. Fragwürdig bleiben in jedem Fall die vermeintliche Wehrlosigkeit und Gutgläubigkeit des Titelhelden: Wieso, oder zu welchem Zweck, erduldet dieser das Eindringen der Brandstifter in sein Haus, bzw. den metaphorisch aufgeladenen Brand desselben?
Der deutsche Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki hat Max Frisch als einen «Autor der Angst» bezeichnet: Frisch wurde am 15. Mai 1911 in Zürich geboren, wo er fast genau 80 Jahre später, im April 1991, auch verstarb. Nachdem er, selbst Sohn eines Architekten, als junger Mensch zunächst Germanistik studiert und als Journalist gearbeitet hatte, lässt er sich ab 1936 an der ETH Zürich in der Profession seines Vaters ausbilden, kehrt aber nach ersten Erfolgen als Prosa-Autor wieder zur Literatur zurück. Frisch ist bekannt für seine Romane (u.a. Stiller, Homo Faber, Der Mensch erscheint im Holozän), seine Tagebücher und Dramen (neben Biedermann u.a. Andorra). Sein Werk kreist dabei um Fragen nach der Selbsterfindung des Künstlers und kann als Konfrontation einer rational-mathematischen, sachlichen Weltsicht mit der Unberechenbarkeit des Lebens selbst verstanden werden. Wovor also hat das rationale, männliche Subjekt – der Biedermann des gleichnamigen Stücks – solche Angst, könnte man fragen. Denn mahnt nicht der Chor im Stück: «Der die Verwandlungen scheut, mehr als das Unheil, was kann er tun, wider das Unheil?»
Wirklich produktiv wird das Drama aber, wenn Biedermann weder als Opfer noch passive Angst- oder Verdrängungsfigur, sondern als im eigentlichen Sinne handelndes, d.h. aktives Unternehmer-Subjekt aufgefasst wird: Die kreative Erfindung seines Angestellten Knechtlings stiehlt er, um sie zu vermarkten. Er sieht sich trotzdem im Recht, weil er von einem politisch-legalen System gestützt wird, das darauf ausgelegt ist, seine Position als Unternehmer um jeden Preis abzusichern. Die Gewalt, die von Biedermann ausgeht, ist dabei eine doppelte: Einerseits bereichert er sich an der kreativen Potenz Anderer, andererseits gelingt es ihm, das eigene Tun als blosses Mitläufertum zu kaschieren. Das kann er tun, sofern er von einer gesellschaftlichen Ideologie gedeckt ist – derjenigen des wirtschaftlich-bürgerlichen Liberalismus –, die sich selbst als vermeintlich neutral darstellt, obwohl sie im Kern immer noch patriarchal und lustfeindlich ist.
Die eigentliche Gegnerin Biedermanns wären damit nicht nur die vermeintlichen Extreme des politischen Spektrums, sondern auch die Phantasie, von der schon Kant in seiner Kritik der Urteilskraft behauptet hat, ihre «regellose Freiheit» führe zu nichts anderem als «Unsinn», würden ihre Flügel nicht von der Vernunft ordentlich gestutzt. Obwohl weniger politisch rigide als Bertolt Brecht, an dessen Erbe sich Frisch in diesem «Lehrstück ohne Lehre» abarbeitet, ist sein Biedermann in dieser Deutung einer zentralen Frage zur Gewalttätigkeit kapitalistischen Wirtschaftens auf der Spur: Was hat die Ausbeutung Anderer mit der Unterdrückung der eigenen Sinnlichkeit, der Angst vor der unendlich produktiven Vielfalt des Lebens selbst zu tun?
Hätten sich also, so könnte abschliessend spekuliert werden, der afroamerikanische Philosoph und Dichter Fred Moten und Max Frisch im Herbst 1987 in New York City getroffen, dann hätte dieser Frisch von der Seite angemacht und gesagt: «Unsere Koalition ergibt sich aus deiner Erkenntnis, dass es für dich beschissen ist, so wie wir bereits erkannt haben, dass es für uns beschissen ist. Ich brauche deine Hilfe nicht. Ich will nur, dass du erkennst, dass diese Scheisse auch dich umbringt, wenn auch viel sanfter, du blöder motherfucker, verstehst du?» Der Geist, nicht von Knechtling, sondern von Ingeborg Bachmann hätte dann vielleicht geantwortet: «Die Kunst gibt uns die Möglichkeit zu erfahren, wo wir stehen und wie wir stehen sollten, wie es mit uns bestellt ist und wie es mit uns bestellt sein sollte.» Beide Aussagen betreffen in Wirklichkeit uns, die Zuschauer*innen dieses Abends: Was also können wir, was sollen wir tun? (MF)
«Das Problem bei Theaterbränden ist doch, dass sie so schön sind.»
Regisseur Nicolas Stemann und Dramaturg Benjamin von Blomberg im Interview mit Moritz Frischkorn
Moritz Frischkorn (MF) Wieso Biedermann und die Brandstifter, wieso gerade jetzt?
Nicolas Stemann (Nst) Ich wollte nicht in Zürich Intendant gewesen sein, ohne etwas von Max Frisch inszeniert zu haben. Ich hatte tatsächlich eine Phase in meinem Leben, wo Frisch für mich wichtig war. Das war so zwischen 16 und 18 und meine Faszination – ich glaube, ich habe damals alles gelesen, was Frisch geschrieben hat. Jedenfalls, die Gelegenheit, dieses Stück an diesem Ort zu inszenieren, wollte ich mir nicht entgehen lassen. Dann gibt es ein paar äussere Anlässe. Der eine ist das Jubiläum: Biedermann und die Brandstifter wurde vor 65 Jahren im Pfauen uraufgeführt. Es ist erfahrungsgemäss ein Titel, der Zuschauer*innen anzieht. Schliesslich kam Benjamin und meinte: Das ist sogar ein gutes Stück.
Benjamin von Blomberg (BvB) Es mach tatsächlich Spass, sich mit Max Frisch und diesem Stück zu beschäftigen, hinsichtlich seines Wirkens an diesem Ort und in der Stadt, und mit den Reaktionen, die er ausgelöst hat – zwischen everybody's darling und dem Menschen, den man vom Hof jagen möchte –, war vielleicht kein Entscheidungsgrund für dieses Stück. Es ist aber eine schöne Koinzidenz, dass wir genau dazu unsere letzte Arbeit am Schauspielhaus Zürich machen. Biedermann ist darüber hinaus ein gutes Stück, weil das Material belastbar ist. Damit meine ich, dass die Situationen im Stück sehr konkret und Figuren psychologisch erlebt werden können, aber es auch Ebenen gibt, die etwas mit Überbauten zu tun haben, mit einer Versuchsanordnung und diskursiven Anlässen. Man spürt, wie das Stück auf mehreren Ebenen in das Vokabular eines Regisseurs wie Nicolas einzahlt, der Vieles gleichzeitig erlebbar macht: sowohl Diskursivität wie Psychologie, sowohl Sinnlichkeit wie politische Schärfe und Klarheit.
MF Wer sind eigentlich die Brandstifter: Sind das die Kommunisten in der Tschechoslowakei oder die Nazis in Deutschland?
NSt Ich glaube, für das Funktionieren des Stückes ist es wichtig, dass man sich da nicht festlegt. Frisch war das auch wichtig. Es gibt noch eine dritte Deutungsmöglichkeit, nämlich dass die Brandstifter eine Abspaltung der Biedermänner sind, also dasjenige, was die Biedermänner zu Hause gerne ausblenden, was sie aber im Geschäftsleben die ganze Zeit machen – nämlich Opfer zu produzieren. Das kommt dann in Form der Brandstifter zu Hause wieder hoch. Ich finde es aber wichtig, dass die Brandstifter eine autonome Metapher bleiben. Wir gehen in der Inszenierung noch viel weiter: Für uns gibt es nicht so einen grossen Unterschied zwischen Biedermann und den Brandstiftern, was das Entfachen von Bränden und Zerstörung in der Welt angeht. Patrycia Ziólkowska, die Biedermann spielt, trägt gleich zu Beginn erst mal einen Benzinkanister auf die Bühne. Man würde denken, das Stück funktioniert nicht mehr, wenn man den Widerspruch zwischen Biedermann und den Brandstiftern auflöst. Ich habe den Eindruck, es funktioniert trotzdem, weil es gerade darum geht, das Offensichtliche zu leugnen: Biedermann ist die ganze Zeit klar, dass er einen Brandstifter ins Haus lässt. Und trotzdem schafft er es, über zweieinhalb Stunden so zu tun, als wäre das nicht so. Deshalb kann Biedermann auch leugnen, dass er selber ein Brandstifter ist.
MF Was genau wird von Biedermann verdrängt oder ausgeblendet, so dass er den Brandstiftern Einlass gewährt?
BvB Das wird explizit ausformuliert. Das Schöne an der Konstruktion des Stücks ist gerade, dass es ein paar Figuren gibt, die aufzutreten versuchen, aber nicht auftreten dürfen und irgendwann nicht mehr auftreten können. Das sind zunächst der ehemalige Angestellte von Biedermann, Knechtling, und dessen Witwe. Knechtling war der Erfinder des Haarwassers, also des zentralen Produktes, das Biedermann in seiner Fabrik fabriziert und vertreibt. Knechtling kommt zu Biedermann nach Hause und will für seine einträgliche Erfindung anerkannt und adäquat entlohnt werden. Biedermann aber lässt ihn gar nicht erst vor und beschimpft ihn aus der Entfernung: Er solle sich doch einen Anwalt nehmen, wenn er sich denn traute, sich mit ihm zu messen, aber er könne sich auch einfach unter den Gashahn legen. Das tut Knechtling dann tatsächlich. Später möchte dann die Witwe Knechtling vorgelassen werden, um Biedermanns zu konfrontieren. Aber auch zu dieser Szene kommt es nicht. In diesem Stück wird eine Gesellschaftsschicht porträtiert, die sich schon in den 50er Jahren eine Hausangestellte leisten konnte – und auch diese Hausangestellte ist nicht grad mit vielen Rechten ausgestattet. Man spürt: Das ist ein Lebensstil, der Opfer produziert und zu Bränden führt. Die Menschen, die im Stück geschildert werden, sind eine Art haute bourgeoisie: Fabrikbesitzer mit ihren Hausangestellten.
NSt Es ist, um das zu ergänzen, interessant, wie konkret die Metaphern von Max Frisch sind. Dabei konnte er das ja damals eigentlich noch gar nicht wissen: Benzin, fossile Brennstoffe, ganz konkret Feuer, also Brände, die zum Beispiel im Amazonasgebiet oder im subsaharischen Raum auch ein probates Mittel sind, um Land und Bodenschätze zu enteignen und zu erschliessen, d.h. um Profit zu machen, die aber andererseits unglaubliche Zerstörung anrichten. Und natürlich in erster Linie die Klimakatastrophe. Man kommt gar nicht umhin, daran zu denken, wenn man heute das Stück liest. Ich gebe aber Benjamin recht, dass es in diesem Fall wichtig ist, die Kritik spezifischer zu formulieren, als bloss zu sagen: Es ist unser Lebensstil, der zur Zerstörung des Planeten führt, nur weil wir ein Familienauto fahren.
MF Gibt es neben Biedermann, den Brandstiftern und den gerade beschriebenen Opfern von Biedermann eine weitere zentrale Ebene des Stücks?
NSt Es gibt zunächst die handelnden Figuren. Dann gibt es die Opfer, die entweder gar nicht erst auftreten oder, wenn sie auftreten, keine Stimme haben. Und schliesslich gibt es den Feuerwehrchor. Das ist eine relativ schillernde Position. Wir haben versucht, diese drei Ebenen auch explizit zu besetzen: Bei uns wird der Feuerwehrchor von zwei sehr hochkarätigen Schauspielern gespielt, Sebastian Rudolph und Daniel Lommatzsch, die aber mehr oder weniger stumme Figuren bleiben und nichts unternehmen, um das Geschehen auf der Bühne, das ja in Richtung eines apokalyptischen Schreckensszenarios läuft, aufzuhalten. Dabei verfolgen wir die Hypothese, dass sich im Feuerwehrchor die Biedermänner hinter den Biedermännern zeigen, also diejenigen, die wirklich von den Bränden profitieren – die eigentlichen Brandstifter. Und auf einmal denkt man: Das Stück, das da die ganze Zeit spielt und in dem gezeigt wird, wie dumm oder naiv Biedermann ist, dient vielleicht zur Ablenkung. Diese These versuchen wir inszenatorisch aufzubauen und nachzuvollziehen. Dabei ist interessant, diese These inhaltlich – ähnlich wie Max Frisch – gar nicht konkret zu benennen, sondern zu versuchen, theatralische Zeichen miteinander in eine Schwebung zu bringen.
MF Die Opfer von Biedermann bleiben sprachlos. Im Stück selbst werden sie u.a. in Form eines Gespensts aufgerufen. Ist dieses Darstellungsproblem für Euch inszenatorisch oder dramaturgisch produktiv?
NSt In diesem Fall weichen wir diesem Darstellungsproblem eher elegant aus. In unserem Fall läuft das über Musik: Einer der Musiker ist offensichtlich Knechtling, dem allerdings immer die Geige weggenommen wird. Und es gibt drei Sängerinnen, die den Chor der Witwe Knechtling verkörpern, also die Angehörigen der Opfer, die versuchen, den Opfern eine Stimme zu geben, aber nicht gehört und vorgelassen werden.
BvB Ich finde zugleich Anna, die Hausangestellte, eine aufregende Figur. Sie ist vermeintlich präsent, aber ist nicht gleichberechtigt im Haushalt der Biedermänner. Biedermann inszeniert zwar ein grosses Essen, in der Hoffnung, sich mit allen zu versöhnen. Um behaupten zu können, dass alle gleich seien, gehört plötzlich Anna für einen Moment zur Familie und darf in die Klamotten der Hausherrin schlüpfen. Die Figur von Anna findet ausserdem eine Darstellung über eine weitere Setzung: Wir inszenieren das Stück mit nur drei Darsteller*innen und das heisst zwangsläufig, dass es zu Mehrfachbesetzungen kommt.
NSt …nicht das ganze Stück, sondern die handelnden und sprechenden Figuren jenseits des Feuerwehrchors. Sieben oder acht Figuren sind das insgesamt, und die werden von drei Schauspieler*innen gespielt...
BvB …so dass zwangsläufig Spieler*innen in mehrere Rollen schlüpfen. Dadurch ergibt sich eine schöne Kombination zwischen der Darstellung der Anna und einem der Brandstifter, Schmitz. Dadurch wird die agency des Brandstifters sehr konkret mit der Schicksalsgeschichte der Anna aufgeladen. Das Stück selbst setzt am Ende die Pointe, dass die Brandstifter gar nicht zweckmässig handeln, sondern aus einer nihilistischen Freude an der Zerstörung. Mir gefällt, dass unsere Inszenierung in Frage stellt, ob das tatsächlich stimmt.
MF Was bedeutet es, dass ihr Frauenrollen durch Männer besetzt und umgekehrt?
NSt Patrycia Ziólkowska spielt Biedermann, eigentlich fast durchgehend. Kay Kysela spielt Babette und den Brandstifter Eisenring. Niels Bormann spielt Anna und den Brandstifter Schmitz. Die Dreierformation von Biedermanns Haushalt – ein Mann und zwei Frauen – wird in der Tat gegenbesetzt. Gleichzeitig werden die beiden Frauenfiguren mit den Brandstiftern gedoppelt. Ich möchte nicht, dass man auf nur einer Lesart hängenbleibt, aber es ist möglich, die Brandstiftung als Rache der Frauen von Biedermann an dem Biedermann selbst zu lesen. In dieser Lesart wird das natürlich geschlechterpolitisch relevant. Dass Biedermann von einer Frau gespielt wird, dient eher der Markierung, dass hier Strukturen thematisiert werden und nicht nur individuelle Schicksale. Dabei hilft es, dass es keine realistische Darstellung ist. Man kann sehen, dass nicht Individuen, sondern Prototypen und damit auch gesellschaftliche Konstruktionen dargestellt werden. Ich glaube, das ist sehr im Sinne des Stücks. Allein die Namen Knechtling, Biedermann und so weiter deuten ja darauf hin, dass es nicht um individuelle Schicksale geht. Psychologisch sind das keine tiefen, grossen Figuren. Aber für eine Komödie ist das auch gar nicht nötig. Die Komödie, die mit Prototypen wie dem Dienstmädchen, der Ehefrau, dem Ehemann und so arbeitet, gewinnt ja klassischerweise eine Fallhöhe daraus, dass sie diese Prototypen als Konstruktionen zeigt und wie sich zugleich in ihrer eigenen Konstruiertheit verheddern: Es sind immer Rollen, die gespielt werden, und das ist bei uns die ganze Zeit erlebbar und wird durch die crossgender-Besetzung betont. Das hat natürlich auch theatralisches, auch komisches Potenzial und es bringt die Notwendigkeit mit sich, sich als Zuschauer zu fragen: Was sehe ich da eigentlich? Ist es nur das, was ich sehe, oder soll ich auch noch andere Dinge sehen? Ich hoffe aber, dass man diese Fragen zwischendurch auch wieder vergisst, dass man also, wenn Patrycia Ziólkowska den Biedermann spielt, die Figur des Biedermann sieht und nicht die ganze Zeit mit ihrer weiblich gelesenen Identität beschäftigt ist.
BvB Trotzdem noch ein weiterer Gedanke: Ich würde sagen, dass Max Frisch in seiner Zeit kein grosses Bewusstsein für Genderfragen hatte…
NSt Wirklich? Nein, das sehe ich anders. Mein Eindruck ist, dass er sich in seinem ganzen Werk daran abarbeitet.
BvB Jedenfalls kann er sie nicht so gestalten, wie wir das heute tun würden. Er stellt aber die Frage: Gibt es ein anderes gesellschaftliches Modell, das Menschen verbinden könnte, als den Kapitalismus? Deswegen ist die Frage von Gleichheit im Stück tatsächlich nicht unbedingt in Hinblick auf Gender gemeint. Das ist nicht ohne Ironie, angesichts der Tatsache, wie wenig Frisch genderpolitische Fragen im Blick hat. Wofür er sehr wohl ein Bewusstsein hatte, das sind die Opfer von Gesellschaftsentwürfen, die vermeintlich Gleichheit herstellen sollen, die faktisch aber die ganze Zeit weiter Ausschlüsse produzieren. Das Stück erzählt davon, dass diese Ausschlüsse auch durch eine Form von Nicht-Verhalten produziert werden, was konkret dazu führt, dass es Opfer gibt und Menschen sterben – und im selben Moment Profit gemacht wird. Das ist schon eine super aufregende Frage: Wer profitiert von den Bränden?
MF Anschliessend an dieses Nicht-Verhalten: Welches Verständnis oder welche Kritik von Neutralität entwickelt Ihr in Eurer Inszenierung?
NSt Es gibt einen schönen Satz im Stück, der heisst: «Der die Verwandlungen scheut, mehr als das Unheil, was kann er tun wider das Unheil?» Biedermanns Verweigerung, sich für Veränderung einzusetzen, produziert weitere Opfer. Er lebt weiterhin das falsche Leben und verharrt in seiner Verdrängung und der daraus resultierenden Schizophrenie. Deswegen kann man, glaube ich, das Stück selbst als ziemlich explizite Kritik an einer Form von Neutralität auffassen, die nur darauf bedacht ist, die eigenen Privilegien zu wahren und keine Partei für die Opfer ergreift. Das geschieht sowohl aus Bequemlichkeit wie aus Vorteilsnahme. Deswegen ist der Neutrale mitverantwortlich für die Brände in der Welt.
BvB Vermutlich wird man das Stück in seiner Entstehungsgeschichte und in den Jahren danach vor allen Dingen als eine Parabel auf das Mitläufertum gelesen haben. Es ist ein Stück, dass sich konkret zum Zweiten Weltkrieg in Beziehung setzt, und deswegen auch zur Nazi-Ideologie und den vielen, vielen Mitläufern, die es überall und vor allen Dingen in Deutschland gab. Das Schöne und Kräftige an dieser Konstruktion ist dadurch bestimmt, dass dieses Mitlaufen bedeutet, sich zu enthalten, zu verdrängen, keine Haltung einzunehmen – als Haltung. Das ist ja wahrscheinlich die Krux jeder Neutralität: Neutralität ist heute nicht mehr möglich, würde ich sagen, dafür sind unser aller Leben viel zu sehr mit allen anderen verstrickt, Grenzen viel zu durchlässig. Das funktioniert auch für kein Land der Welt mehr, auch nicht für die Schweiz.
NSt Denn Biedermann verhält sich ja durchaus. Er ist der Grund dafür, dass Knechtling sich unter den Gashahn legt, d.h. er produziert ganz reale Opfer. Dass dieses Verhalten neutral ist, das ist eine Ideologie, die hochgehalten wird. Diese Ideologie wiederum macht es ihm schwer, sich von den Brandstiftern zu distanzieren. Aber sie ist in sich falsch.
MF Heisst das, Biedermann hat noch nicht verstanden, dass er selbst ein Brandstifter ist?
NSt Das ist völlig offensichtlich und er weiss das auch. Aber Biedermann gelingt es, diese Tatsache immer wieder aufs Neue zu verdrängen. Es ist eine Art Daueramnesie, die aber zu dem Lebensstil dazugehört.
MF Wie ist denn diese Kritik an Neutralität für euch persönlich aufgeladen, auch vor dem Hintergrund der letzten fünf Jahre, d.h. der Zeit eurer Intendanz am Schauspielhaus Zürich?
BvB Bezogen auf das Stück lässt sich sagen: An der Neutralität und vielleicht auch am Mitläufertum ist die Möglichkeit verführerisch, Komplexität reduzieren zu können. Man handelt gemäss eines Status Quo oder einer Ideologie und tut dabei so, als würde man sich nicht verhalten, einfach nur, weil man nicht aktiv zur Veränderung beiträgt. Ich glaube, dass die letzten Jahre, nicht nur die letzten fünf Jahre, sondern v.a. grössere gesellschaftspolitische Entwicklungen zu einer unfassbaren Komplexität beigetragen haben: Antidiskriminatorische Bewegungen haben zu einem neuen Nachdenken über Machtverteilungen geführt. Es gab Corona, wodurch plötzlich die Frage nach Drinnen und Draussen und im Übrigen auch nach gesellschaftlicher Prosperität nochmal ganz anders gestellt und beantwortet wurde. Plötzlich ist offenkundig geworden, dass es Menschen gab, die diese Krise gut verwunden haben, und Menschen, die sie nicht gut verwinden konnten, was oft ökonomische Gründe hatte.
MF Jetzt suche ich abschliessend nach einem konstruktiven Moment. Hat zum Beispiel die Musik eine Funktion, die über die dem Stück immanente Analyse von Mitläufertum und der Brutalität, mit der sie operiert, hinausgeht?
NSt Das konstruktive Moment ist immer das Theater selber. Ich glaube, man muss eher gucken, dass es trotzdem unbequem bleibt. Gerade ich – als Regisseur, der gerne Menschen erreicht und der es nicht mag, Leute im Theater zu quälen – ich muss gucken, dass die Inszenierung die nötige Schroffheit aufrechterhält. Das darf nicht nur versöhnlich werden, das hätte auch Max Frisch nicht gewollt. Dafür hat er extra einen Theaterbrand in das Stück hineingeschrieben. Das Problem bei Theaterbränden ist aber, dass sie so schön sind. Wir alle lieben Theaterbrände, wir lieben die Weltkatastrophen auf dem Theater, denn das sieht so wunderschön aus. Man kann dabei vergessen, dass die Weltkatastrophe schon begonnen hat und Menschen sich zukünftig wünschen werden, es ginge nur um brennende Theater.
BvB Am Ende bleibt die Frage: Was jetzt? Ich glaube, unser Abend wird darauf keine Antwort geben, sondern die Frage aufwerfen, was eigentlich mit unserer Kunstform passiert, und ob das intensive Kunsterlebnis, das wir alle lieben, heute noch genügt. Dieses Weiterfragen, das passiert in Gemeinschaften. Wie schön ist das bitte?! Wir erleben diese Frage alle gemeinsam! Ob das aber angesichts dessen, wie sich das Leben da draussen gerade gestaltet, wirklich ausreicht, da bin ich persönlich gerade nicht besonders optimistisch.
MF Welche Feuer wollt ihr also in Zukunft weiter anfachen? Und welche Feuer wollt ihr löschen?
NSt: Wenn du nach einem Ausblick fragst, dann liegt er für mich darin, dass es solch langfristige Arbeitsbeziehungen gibt, wie sie in dieser Inszenierung zum Ausdruck kommen: Niels Bormann, Marysol del Castillo, Thomas Kürstner, Claudia Lehmann, Katrin Nottrodt, Sebastian Vogel und Patrycia Ziólkowska, das sind alles Leute, mit denen wir und ich teilweise schon seit 25 Jahren zusammenarbeiten. Das ist einfach ein sehr vertrauensvolles und schönes Arbeiten. Auch mit Kay Kysela habe ich in den Zürcher Jahren immer wieder gern gearbeitet. Und dass so protagonistische Spieler wie Sebastian Rudolph und Daniel Lommatzsch in dieser Arbeit stumme Figuren spielen und Spass daran haben, ist ja in einem Betrieb, der so mit Eitelkeiten und Narzissmen arbeitet wie dem Theater, auch nicht normal…
BvB Was ich zum zukünftigen Löschen oder Entfachen von Bränden sagen kann: Der Brand am Schluss von Frischs Stück ist für mich ein durch und durch destruktiver Brand, ein Brand, der auslöscht. Er ist eine Reaktion darauf, dass Dinge in Bewegung geraten. Er will diese Bewegung stoppen. Aber nicht immer sind Brände destruktiv, manchmal sind sie auch der Anfang von etwas Neuem. Wenn Brände dazu führen können, dass Dinge in Bewegung geraten, dann gibt es konstruktive Brände. Wenn Dinge in Bewegung geraten, entstehen Versprechen – nach neuer Teilhabe, nach neuen Fragen, nach anderen Gefühlen und Perspektiven, die in dieser Bewegung enthalten sind. Ich glaube, das Schöne an Theater ist weiterhin, dass man radikal Utopist bleiben kann, dass man weiterhin die Hoffnung hegen darf, dass alle Menschen tatsächlich verbunden sind, nämlich durch ihre Suche nach Verwirklichung und Glück. Nur eben: Prinzipiell alle müssen den gleichen Zugang zu diesen Möglichkeiten haben. Und daran hapert es. Noch.
Problemexport – Gewinnimport: Max Frisch über Neutralität
von Jakob Tanner
«Biedermann und die Brandstifter» ist eine schwebende Parabel, die seit ihren ersten Fassungen im Tagebuch von Max Frisch anno 1948 ein starkes interpretatives Drehmoment entfaltet hat, das vor keiner politischen Richtung Halt macht. Die Gefahr, die Angst vor ihr und ihre Abspaltung könnten sich auf Kommunismus, Nationalsozialismus, kapitalistische Geschäftswelt oder in concreto auf das bürgerliche Stammpublikum des Zürcher Schauspielhauses beziehen, das den Abbrand seines Theaters nicht für möglich gehalten hatte und diesen nun auch noch beklatscht. Zudem könnten im Gedankenexperiment die scheidenden Intendanten, das Duo Stemann/von Blomberg, vom Interpretationssog erfasst werden, gehörten sie doch, was die Materialität der altehrwürdigen «Pfauenbühne» betrifft, zur konstruktiven Abrissbirnenfraktion, die in der Umbau-/Neubau-Debatte vor einigen Jahren architektonisch Tabula rasa schaffen wollte für ein neues, technisch avanciertes Theater mit Zukunft.
Die aktuelle Zürcher Inszenierung macht gegenüber der Uraufführung des Dramas im Jahre 1958 einsichtig, dass dessen Deutungsoffenheit nicht primär den historischen Kontext betrifft, in dem eine saubere Aufteilung zwischen Gut und Böse vorgenommen wird, sondern die Rollenprofile selbst. Die bisherige Pointe des Stücks, dass nämlich Brandstifter ihre helle Freude haben dem, was sie professionell anrichten, während Biedermänner feige Mitläufer sind, welche das Augenscheinliche nicht sehen wollen, zündet dann nicht mehr. Es kommt vielmehr zur Rollenfusion, welche weit mehr Zerstörungsenergien freizusetzen vermag, als dies nihilistische Kriminelle allein je könnten. Die Zürcher Bühne mutiert zum Theatrum mundi: Was vor Ort geschieht, vollzieht sich auf verschiedenen Stufen und heute auf planetarer Skala mit der sich offensichtlich anbahnenden Klimakatastrophe. Allenthalben verstecken die Biedermänner ihr alter ego als Brandstifter hinter vorgespiegelter Ignoranz.
Das Bild lässt sich ohne weiteres auf die Schweiz anwenden. Max Frisch hat die Rolle eines Landes, das sich als humanitäre Feuerwehr gegen die Kriegsbrandstifter dieser Erde präsentiert, immer wieder hinterfragt. Er hielt das Völkerrecht hoch, sah die Neutralität aber nicht in diesem Rahmen, sondern als ein Dispositiv, mit dem die Schweiz Probleme auslagert oder verschwinden lässt. Er durchschaute diesen Tarnkappeneffekt. Dabei hat er sich als Autor selbst gewandelt: von seinem Aufruf zur «kulturellen Selbstbehauptung der Schweiz» im Zeichen der «Geistigen Landesverteidigung» im Jahre 1938 über sein Nachdenken über seine «besondere Lage als Verschonter» Ende der 1940er Jahre bis hin zur Kritik an der Schweiz zwei Jahrzehnte später lässt sich eine markante Positionsverschiebung erkennen. 1970 verfasste er in einem Tagebuch ein fingiertes «Verhör» zum Prozess gegen Dieter Bührle und den zynischen Waffenexporte dieses Rüstungskonzerns. Es gehe hier, so notierte Frisch, «im übrigen (…) um die Wahrung bewährter Beziehungen zwischen Wirtschaft und Behörden und Vaterland». In der Schweiz herrscht «das Recht auf Geschäfte mit dem Krieg». Indem Bührle privatwirtschaftlich operiert, nimmt den Bundesrat aus der Verantwortung; «als freier Unternehmer liefert er nach seinem Gewissen, unser Land ist am Profit beteiligt durch Steuern, aber nicht moralisch».
Neutralität funktioniert hier als moralischer Wasserlöscher für die schweizerische Politik, welche im marktliberalen Verständnis natürlich nicht dafür zuständig ist, was geschäftstüchtige Unternehmer entlang ihrer globalen Wertschöpfungsketten so alles abfackeln. Und Neutralität fungiert als effizienter Schaumwerfer, der Informationen über den oft verheerenden Impact des wirtschaftlichen Erfolgsmodells Schweiz im Ausland hinter einer nationalmythologischen Nebelwand verschwinden lässt. Neutralität heisst Problemexport, kombiniert mit Gewinnimport. Das schafft inländisch eine biedermännische Atmosphäre, in der sich um so besser leben lässt, je weniger die Folgen des eigenen Tuns in die gesicherte Heimat hereinbrechen. Diese «Geschichtslosigkeit als Komfort» geniessen nicht zuletzt die hiesigen (begüterten) «Ausländer» mit ihrem «oft frohen Verhältnis zu diesem Land» (so 1966 im Tagebuch). Das Ausblenden hat System, das Wegsehen ist profitorientiert, die Verdrängung integraler Teil eines nationalen Geschäftsmodells.
«Die Schweiz als Heimat?» lautet der Titel der Rede, die Max Frisch anlässlich der Verleihung des Schiller-Preises anfangs 1974 im Schauspielhaus Zürich hielt. «Was unser Land betrifft», so stellte er fest, dass die «jüngeren Landsleute» «weitaus gelassener», wenn auch «nicht unkritisch» seien, und jedenfalls «weniger, als es für uns viele Jahre lang der Fall gewesen ist, auf dieses Land angewiesen» seien. Für die ereifernde Erinnerung hätten sie bloss noch ein Achselzucken übrig. Denn «auch wenn sie im Land bleiben, leben sie im Bewusstsein, dass Vokabeln wie Föderalismus, Neutralität und Unabhängigkeit eine Illusion bezeichnen in einer Epoche der Herrschaft multinationaler Konzerne». Doch «die Maulhelden aus dem Kalten Krieg», die «ihre Karriere gemacht (haben), sei es als Bankier oder in der Kultur-Politik oder beides zusammen», hätten nichts zu bieten, was die junge Generation politisch beheimaten könnte. Sie praktizierten noch immer «LAW AND ORDER, und nach aussen eine Schweiz, die sich ausschweigt im Interesse privater Wirtschaftsbeziehungen».
Die Rede endet mit einer engagierten Stellungnahme, die auf den brutalen Militärputsch in Chile vom September 1973 Bezug nimmt: «Wer HEIMAT sagt, nimmt mehr auf sich. Wenn ich z.B. lese, dass unsere Botschaft in Santiago de Chile (…) in entscheidenden Stunden und Tagen keine Betten hat für Anhänger einer rechtmässigen Regierung, die keine Betten suchen, sondern Schutz vor barbarischer Rechtlosigkeit und Exekution (mit Sturmgewehren schweizerischer Herkunft) oder Folter, so verstehe ich mich als Schweiz ganz und gar, dieser meiner Heimat verbunden – einmal wieder – in Zorn und Scham.»
Max Frisch redet sehr emotional von der neutralen Schweiz. Die Reflexion auf Rollenteilung und -vermischung ist zentral für seinen kritischen Einspruch. Er mag weder die Reduktion auf das biedermännische Musterland noch auf den brandstiftenden Schurkenstaat. Er sieht die Sache komplexer und benennt Hebel für Veränderungen. Doch laue Neutralität war nicht seine Sache. Am Ende seines Lebens, in seiner letzten Publikation «Ignoranz als Staatsschutz?» (verfasst 1990, erstmals publiziert 2015) setzte er sich ziemlich wütend mit den Fichen, welche seine Bespitzelung dokumentierten, auseinander. Er sprach von einem «verluderten Staat», zu dem die Schweiz «unter der jahrhundertlangen Dominanz des Bürgerblocks» abgesunken sei. Diese Diagnose ist Max Frischs politische Hinterlassenschaft. Die Neuaufführung seines Stücks «Biedermann und die Brandstifter» hat sie in einer neuen gesellschaftlichen Konstellation aktualisiert.
Jakob Tanner ist emeritierter Professor für Geschichte der Neuzeit und Schweizer Geschichte.
Neutralitätspolitik: Zündholz oder Löschwasser?
Von Lea Haller
Ein Mangel an Vorstellungskraft und an Haltung. Das ist es, was Herr und Frau Biedermann ins Unglück treibt in Max Frischs Theaterstück Biedermann und die Brandstifter: Ihr Haus geht nicht in Flammen auf, weil sie höheren Idealen folgend für das Wahre und Gute einstehen, sondern weil sie sich bei den Undercover-Brandstiftern anbiedern, weil sie es allen recht machen wollen, weil sie eine kleinliche Angst vor dem Gesichtsverlust haben. Es fehlt ihnen die Fantasie für die Realität – und das Rückgrat, in einer nicht idealen Welt emanzipiert und souverän zu handeln.
Ist ein Staat, der eine Neutralitätspolitik verfolgt, vergleichbar mit diesem anpasserischen Biedermännertum? Spielt er durch einen Mangel an Haltung mit dem Feuer? Da gilt es zunächst festhalten: Neutralität ist keine Eigenschaft. Sie ist ein Begriff, eine Worthülse, mit der sich ein Handeln oder Nichthandeln rechtfertigen lässt.
Entstanden ist das Konzept Neutralität im Zuge der Verrechtlichung von Kriegen. Erst als in der Antike eine geteilte Vorstellung davon aufkam, ab wann Krieg herrscht und ab wann Frieden, wer legitimiert ist, den Krieg zu erklären oder den Frieden zu besiegeln, konnte man auch die Rolle des Neutralen besetzen. Es war ein Status, der nur im Kriegsfall existierte; im Friedensfall ist die Neutralität obsolet. Das goldene Zeitalter der Neutralität begann 1815: Mit dem Ende der Napoleonischen Kriege wurde sie zu einem festen Bestandteil des internationalen Rechts, wie die Historikerin Maartje Abbenhuis in An Age of Neutrals zeigt. Nicht nur Kleinstaaten, auch Grossmächte propagierten sie.
Bis zum Ersten Weltkrieg war es denn auch kein Sonderfall, «neutral» zu sein, im Gegenteil, die meisten Staaten verhielten sich im Kriegsfall neutral. Das änderte sich mit zwei Weltkriegen, dem Kalten Krieg und den neuen Bedrohungslagen in einer multipolaren Welt. Im 20. Jahrhundert diente das Label Neutralität zunehmend dem aussenpolitischen Nichtstun, insbesondere der Nichtbeteiligung an Sanktionen. Doch wenn sich gewiefte Taktiker nur noch aussenpolitisch neutralisieren, um ihren Profit zu maximieren, hat die Neutralität jede überstaatliche Kohäsionskraft verloren.
«Die meisten Leute heutzutage glauben nicht an Gott, sondern an die Feuerwehr», beklagt sich der Brandstifter in Frischs Stück und appelliert an Biedermanns Gutmenschentum. Ein Staat sollte allerdings eher an die Feuerwehr als an Gott zu glauben, sich also strategisch klug positionieren – es sei denn, seine Neutralitätspolitik dient wirklich höheren, international koordinierten Idealen.
Lea Haller ist promovierte Historikerin und Generalsekretärin der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW)
Videoportrait
In diesem Videoportrait sprechen Thomas Kürstner und Sebastian Vogel über ihre gemeinsame kompositorische Praxis, ihr Verständnis von Theatermusik und ihre Sicht auf Max Frischs „Biedermann und die Brandstifter“. Kürstner und Vogel sind langjährige Wegbegleiter von Co-Intendant Nicolas Stemann und komponieren für Theater, Oper, Film und experimentelle Musikformate.
Konzept, Schnitt: Anna Vankova; Interview, Dramaturgische Betreuung: Moritz Frischkorn.
Biedermann Outside (Credits)
Es spielen Vincent Basse, Nils Bormann, Gottfried Breitfuss, Marysol del Castillo, Olivia Grandy, Linda Hügel, Tabita Johannes, Thomas Küstner, Kay Kysela, Daniel Lommatzsch, Hilde Lehmann, Sebastian Rudolph, Maya Scharf, Sabrina Tannen, Sebastian Vogel, Patrycia Ziolkowska und das Theaterjahr Selma Jamal Aldin, Lisa Liner, Philipp Stevens, Anna Vaňková
Produktionsleitung Konrad Hempel, Claudia Lehmann, Sabrina Tannen
Aufnahmeleitung Sabrina Tannen, Isabella Wehdanner
Originalton Bruno Haller, Leo Sussmann
Maske Simone Mayer, Charline Baumann
Kostümassistenz Lisa Alexa Giesler, Renée Kraemer, Sophia May
Ankleidedienst Olivia Grandy, Nicole Jaggi, Katrin Jäger, Nina Orgiu, Andrea Röschli
Requisite Sarah Fröhlicher, Malin Keller, Mike Nützel
Szenenbild-Support Naemi Marty, Philipp Stäheli
Beleuchtungs-Support Daniel Leuenberger
Kameratechnik-Support Renata von Arburg
Kinderbetreuung Annette Keller, Madita Keller
Catering Perparim Islami, Gudrun Kruse
Beratung Nicolas Stemann
Mit Dank an Heiko Baumgarten, Sandra Caviezel, Deana Daci, Katinka Deeke, Dieter Fenner, Frido Hempel, Cornelia Lang, Alexandros Ioannidis, Paul Lehner, Steven Sowah, Linus Stiefel, Jens Zimmer sowie Extra Spar am Pfauen, Nicole Fuchs, Milena Massafra und Dominik Weber, Restaurant Santa Lucia Herr Trolli, Emanuele, Claudia, Laura und Romano
Kostümbild Marysol Del Castillo
Konzept und Drehbuch Konrad Hempel, Claudia Lehmann, Marysol del Castillo, Sabrina Tannen
Regie, Bildgestaltung, Montage und Postproduktion Konrad Hempel und Claudia Lehmann
Eine Produktion des Instituts für Experimentelle Angelegenheiten – IXA
Impressum
Alle Textbeiträge sind Originalbeiträge für dieses Programmheft.
Redaktion: Moritz Frischkorn
Fotografie: Philip Frowein
Spielzeit 2023/24
Intendanz: Benjamin von Blomberg / Nicolas Stemann
Offizielle Ausstatter des Schauspielhauses Zürich:
MAC Cosmetics, Optiker Zwicker, Ricola, Südhang Weine, Tarzan Swiss Streetfashion