Johanna
Zu diesem Abend
Hexe oder Heilige, so lauten die unversöhnlichen Urteile der Jeanne d’Arc-Überlieferungen. Mit nur 17 Jahren bricht Johanna, die später als Johanna von Orleans in die Geschichtsbücher einging, auf, um eine verloren geglaubte Welt wieder ins Lot zu bringen. Ihre Reise endet auf dem Scheiterhaufen. Hunderte Jahre später wird sie heiliggesprochen. Seitdem wird ihr Mythos politisch aufgeladen: als Ikone eines mutigen Idealismus, als Beispiel für einen fatalen Fanatismus oder als heilbringende Heldin. Johanna ist vieles. Immer wieder dient sie dabei als Bild für all jene jungen Frauen, die scheinbar im Alleingang den Status Quo herausfordern, sei es nun den des Patriarchats, der ausbeuterischen Arbeitsverhältnisse oder der Klimapolitik. In Friedrich Schillers «romantischer Tragödie» führt Johanna das französische Heer gegen England durch ihren festen Glauben – und mit Gewalt – schliesslich zum Sieg. Während bei Schiller Johanna ihr Handeln mit Gott legitimiert, sieht die Regisseurin Leonie Böhm hinter dem Mythos den Menschen Johanna. Zwischen Ohnmacht und Allmacht, Zweifel und Wunder, eigenen Visionen und fremden Projektionen sich ständig transformierend, immer auf der Suche nach Haltung und einer ambivalenten Gegenwart zum Trotz.
Dieses digitale Programmheft soll einen Einblick in den biografischen Hintergrund von Jeanne d’Arc geben und ebenso in Friedrich Schillers Adaption Die Jungfrau von Orleans. Im Interview spricht die Regisseurin Leonie Böhm von ihrer Faszination von der Kraft und dem Willen Johannas, über den Probenprozess und ihr Anliegen an das Theater.
Programmheft als pdf downloaden
- Live-Musik
- Fritzi Ernst
- Inszenierung
- Leonie Böhm
- Bühnenbild
- Zahava Rodrigo
- Kostümbild
- Magdalena Schön / Helen Stein
- Musik
- Fritzi Ernst
- Licht
- Björn Salzer
- Dramaturgie
- Helena Eckert
- Audience Development
- Rona Schauwecker
- Künstlerische Vermittlung T&S
- Manuela Runge
- Produktionsassistenz
- Annalisa Engheben / Sarah-Maria Hemmerling
- Bühnenbildassistenz
- Anton von Bredow
- Kostümbildassistenz
- Judith Behrendt / Renée Kraemer
- Inspizienz
- Eva Willenegger
- Soufflage
- Katja Weppler
Eine Produktion des Deutschen Schauspielhaus Hamburg in Koproduktion mit dem Schauspielhaus Zürich.
In Zürich wird Vincent Basse für die Vorstellungen am 23. Oktober sowie am 2., 3., 7. und 11. November und am 12., 13., 31. Januar die Rolle von Josefine Israel übernehmen.
Jeanne d’Arc
Wozu ist man geboren? Zur Hirtin, Heiligen, Hexe, Heldin, Aktivistin des Mittelalters, Tochter und Soldatin, die in einen schon verloren geglaubten 100-jährigen Krieg zieht? Johanna ist vieles.
Geboren 1412 im lothringischen Dorf Domrémy, aufgewachsen mit den Bedrohungen eines nie enden wollenden Krieges (meist zwischen Vätern, Söhnen und Cousins ausgefochten), beginnt sie mit 13 Jahren Stimmen zu hören, die ihr den Auftrag geben, Frankreich gegen die Engländer zu verteidigen. Ihre religiöse Praktik entsteht in dem Erleben, dass die bisherige Realität und Sicherheiten von einem Moment auf den anderen einbrechen können. Je umfassender der Glaube, desto grösser der Zweifel, der ihn antreibt. Johanna setzt ihre Visionen in politisches Handeln um. Und tatsächlich schafft sie es, ihr Dorf zu verlassen, bis zum König vorzudringen und ihn zu überzeugen. Das allein scheint abwegig genug für eine junge Frau im Mittelalter. Doch das scheinbar Unmögliche gelingt ihr: Sie verhilft dem geschwächten Karl VII. zur Krone. Weil sie überzeugend vermittelt, dass sie das direkte Sprachrohr Gottes ist, hören ihr die Menschen zu. Für sie ist ihr göttlicher Auftrag damit jedoch noch nicht zu Ende. Mit immer geringerem Rückhalt vom König und immer waghalsigeren Kriegsmanövern gerät sie kurz darauf in die Gefangenschaft der feindlichen Mächte Burgund und England und damit in die Mühlen der kirchlichen Inquisition. In einer Zeit, in der Gott zwar allgegenwärtig ist und immer auf die menschliche Existenz einwirken konnte, die Kirche jedoch beansprucht, die einzig legitime vermittelnde Instanz zu Gott zu sein, stellt eine junge und noch dazu sehr erfolgreiche Frau mit anscheinend «direktem Draht» zum Heiligen eine Bedrohung der kirchlichen Autorität dar.
In den fast vollständig überlieferten Protokollen ihres Inquisitionsprozesses spielt weniger die Frage eine Rolle, ob sie wirklich Stimmen gehört hat, sondern vielmehr, ob diese von Heiligen oder dem Teufel kommen. Auch, ob die Heiligen, die ihr erschienen sind, Haare hatten und ob sie nackt waren, wollen die Richtenden wissen und warum Johanna Männerkleidung trägt. Unter den zahlreichen Anklagepunkten scheint der Vorwurf der «suberbia», des Hochmutes, am schwersten zu wiegen. 1431 wird sie schliesslich mit nur 19 Jahren zum Tode verurteilt und öffentlich verbrannt. Jahrzehnte später wiederum, wird sie nach dem Frontenwechsel Burgunds von ihrer vermeintlichen Schuld freigesprochen und wiederum einige hundert Jahre später vom Papst heiliggesprochen und zur Ikone Frankreichs.
Dass ihr so kurzes Leben zu einem der bestdokumentierten des 15. Jahrhunderts zählt, hat dabei nicht nur heroische Gründe. Es ist das Ergebnis der kirchlichen Machtdemonstration. Die Protokolle ihres Prozesses bezeugen einmal mehr den Einfluss der Kirche auf das Leben der Frau, der durch die Archive weiterwirkt. Etwa, wie Glaubwürdigkeit und ein enthaltsames Leben miteinander verknüpft sind. Ein Gedanke, der sich über ein Jahrtausend lang gehalten hat und bis in die Gegenwart wirkt. Beispielhaft dafür sind die unzähligen gynäkologischen Untersuchungen von Johannas Jungfräulichkeit, die sie über sich ergehen lassen musste. Durch die Franzosen (um sie als reines Wunder akzeptieren zu können) und in englischer Gefangenschaft (um sie als Hochstaplerin zu entlarven). Das sexuelle Verhalten einer Frau war entscheidend für ihre soziale Stellung in der spätmittelalterlichen Gesellschaft. Umso verständlicher ist Johannas Willenskraft, mit allen nur denkbaren Mitteln dem scheinbar eindeutigen Schicksal der jungen Frauen ihrer Zeit zu entfliehen.
Spätestens seit ihrer Heiligsprechung – nach dem Sieg Frankreichs
im Ersten Weltkrieg – ist Johanna wieder ins öffentliche Bewusstsein gerückt. In zahlreichen Variationen und Adaptionen wurde ihr Mythos seitdem politisch aufgeladen und sie als Nationalheldin erneut ikonisiert: Sie ist eine Projektionsfläche, die in der Geschichte ihresgleichen sucht und bis heute zur Vereinnahmung durch höchst unterschiedliche politische Lager einlädt. Der rechtsradikale Front National versucht sie zu seiner Patronin zu machen. Emmanuel Macron zieht sie ebenso als Beispiel für sein politisches Programm gegen «Ungleichheit» heran.
Johanna, die kaum lesen und schreiben lernen durfte, überzeugt einen König, führt ein Heer an, behauptet sich in einem langwierigen Prozess gegen unzählige Richter. Ihre Asche wird im Fluss verstreut, um keine Reliquien zu hinterlassen. In Bildern lebt sie im kulturellen Gedächtnis weiter. Einer der zahlreichen Legenden nach konnte ihr Herz bis zuletzt nicht verbrannt werden: damit hat sie post mortem einige ihrer Kritiker von ihrer Heiligkeit überzeugen können. Auch wenn ihre rhetorische Begabung, ihre Fähigkeit zur Kommunikation, ihr strategisches Geschick, ihr Determinismus und ihre Begeisterungsfähigkeit sie nicht vor dem Scheiterhaufen bewahren konnten, sie haben sie weit getragen.
Die Jungfrau von Orleans
Wozu verwendet man sein Leben? Friedrich Schiller setzt in seiner Jungfrau von Orleans genau an diesem Moment an, an dem ihr Schicksal entschieden werden soll.
Während Johanna unterm Schäferbaum die Schafe hütet, schmiedet der Vater für sie Heiratspläne. Johannas absoluter Glaube ermöglicht ihr, gegen seinen Willen loszuziehen, da sie nicht mehr ihm, sondern allein Gott Rechenschaft schuldet. In Friedrich Schillers «romantischer Tragödie» führt Johanna das französische Heer gegen England durch ihren festen Glauben, ihr Sendungsbewusstsein – und auch ihre Gewalt – schliesslich zum Sieg.
Schiller übernahm in seinem Werk Die Jungfrau von Orleans Jeannes Geschichte nicht originalgetreu. Stattdessen zeigt er die inneren Konflikte zwischen Johannas göttlicher Mission und den Opfern, die sie für diese bringen muss, beispielsweise die romantische Liebe. Johanna transformiert sich nicht nur von der Hirtentochter unterm Schäferbaum zur Kriegsführerin, sondern verändert auch diejenigen, die ihr begegnen. Mutlosen macht sie durch ihre Begeisterung Mut, Zweifelnde überzeugt sie, Feinde werden gerührt und damit entwaffnet – aber eben auch getötet. Mit göttlichem Beistand und absolutem Glauben ist alles erlaubt. Wenn man sich ihnen übergeben hat, ist bei Schiller weniger wichtig, ob diese Glaubenssätze von einer göttlichen oder einer eigenen inneren Stimme kommen. Nur wenn man gegen die eigenen Glaubenssätze verstösst, steht man am Abgrund.
Johanna will sich zum Gefäss ihres Auftrags machen: «In rauhes Erz sollst du die Glieder schnüren, mit Stahl bedecken deine zarte Brust». Ihr Kraftakt verlangt absolute Konzentration. Die Unberechenbarkeit der Welt zeigt sich dann in der Brüchigkeit zwischen Überzeugung und Erfahrung: Johanna, die sich keinen Moment der Schwäche leisten kann, kommt schliesslich doch ins Zweifeln und verliebt sich, noch dazu in den Feind. Dass Liebe und göttlicher Auftrag nicht zusammengehen, scheint paradox. Was ist näher an göttlicher Hingabe als barmherzige, bedingungslose Liebe? Vielleicht scheint dahinter aber Johannas Dilemma auf: Als Mensch, die eigentlich nicht entscheiden kann, wozu sie geboren ist, scheint sie nur ausserhalb sozialer Gefüge wirklich frei sein zu können. Kehren Empfindungen zurück, ist auch die Kraft dahin.
Johanna schmiedet sich im Kopf eine Religion, einen Glaubenssatz, der ihr Orientierung gibt. Wenn sie den Glauben an sich und ihren Auftrag verliert, glaubt keiner mehr an sie. In einem Brief an Goethe erklärt Schiller diese Abweichung: «Weil meine Heldin auf sich allein steht, und im Unglück von den Göttern desertiert ist, so zeigt sich ihre Selbstständigkeit und ihr Charakteranspruch.» Die eigene Freiheitsfähigkeit muss sie letztlich nicht nur gegen den Willen des Vaters, sondern auch ohne göttliche oder königliche Bestimmung erlangen. Bei Schiller kann durch die innerliche Freiheit die äussere bewahrt und erkämpft werden. Johanna landet hier zwar nicht auf dem Scheiterhaufen, sondern kann sich aus der Gefangenschaft befreien. Sie stirbt jedoch verletzt, erschöpft und unter unzähligen Fahnen begraben als Heldin auf dem Schlachtfeld.
Johanna
Um diesen tragischen Heldinnentod geht es Leonie Böhm nicht. Während bei Schiller Johanna ihr Handeln mit Gott oder der Heiligen Jungfrau Maria legitimiert, sieht Leonie Böhm in Johannas Mythos eine Frau, die sich zwischen eigenen Visionen und fremden Projektionen ständig transformiert. Immer auf der Suche nach Selbstbestimmung und in der Hoffnung auf Veränderung. Kann ich mich unabhängig vom Urteil anderer machen, ohne mich aus meinem sozialen Gefüge zu lösen? Kann ich meinem eigenen Urteil bedingungslos vertrauen, ohne es damit in neue Dogmen zu verwandeln? Vor allem aber: Wofür lohnt es sich zu kämpfen und wie?
Auf der Suche nach neuen Glaubenssätzen, die uns helfen, alte Muster zu durchbrechen und über uns selbst und unsere bisherigen Gewissheiten hinauszuwachsen, hat Leonie Böhm zusammen mit Josefine Israel, Maja Beckmann, Wiebke Mollenhauer und der Musikerin Fritzi Ernst eine Textfassung entwickelt, die zwar fast ausschliesslich aus Schillers Texten besteht, diese aber auf wenige Themenfelder reduziert und neu montiert. Zusammen suchten sie in der Tragödie Elemente, die Kraft geben, zugunsten einer sozialen Utopie etwas zu riskieren. Gemeinsam mit anderen, einer total ambivalenten und bedrohlichen Gegenwart zum Trotz.
Johannas gesellschaftlicher Aufstieg, Abstieg und Neuaufstieg als Ikone scheint eher von gesellschaftlichen Problemlagen als von ihren unmittelbaren Taten bestimmt. Für die einen ist sie Symbol eines mutigen Idealismus, für die anderen bleibt sie Zeugnis eines fatalen Fanatismus. Immer wieder jedoch wird Johanna als Bild für all jene jungen Frauen herangezogen, die in den letzten Jahrzehnten, scheinbar im Alleingang, den Status Quo herausgefordert haben. Sei es nun den des Patriarchats, von ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen oder den der überkommenen Klimapolitik. Gerade in Krisen überwältigt die Sehnsucht nach Erlösung. Zu Heldinnen werden dabei vor allem diejenigen, die sich einer unmöglich scheinenden Aufgabe stellen und an der Rettung im Diesseits festhalten. Sie haben das Potenzial, Gemeinschaft zu stiften. Sie werden durch die, die dies erkennen, zu Ikonen gemacht. Ob sie wollen oder nicht.
Leonie Böhm fokussiert sich nicht auf das «Wunder» in Johanna. Vielmehr überträgt sie zusammen mit dem Ensemble Johannas besonderes Schicksal auf ein Hier und Jetzt auf der Bühne, auf das Spiel miteinander. Sie untersucht den Alltagsmenschen hinter dem Mythos. Der aber ist zusammengesetzt aus Elementen, die jedem von uns vertraut sind. An diesem Abend treffen sich gleich drei Johannas auf der Bühne bzw. unterm Schäferbaum und fragen sich, was angesichts eines bedrohlichen Aussen zu tun ist. Das «blutge Schlachtfeld der Gefahr» ist hier kein 100-jähriger Krieg, sondern die inneren Widerstände, Irrwege und Zweifel, die uns davon abhalten, loszuziehen und uns einer Aufgabe zu stellen, die im Alleingang nicht zu erfüllen ist.
Alarm Alarm
Stunden fragend steh ich da
Bin ich Wahrheit oder Wahn
Hör seltsame Stimmen komischen Klang
Auf Gesang folgt Schlacht
Auf Schlacht folgt Gesang
In menschenreicher Öde stehe ich
Das gemeine Glück berührt mich nicht
Ich ritze auf das Geisterreich
Das Schreckgespenst da kommt es gleich
Alarm Alarm
Songtext: Fritzi Ernst und Friedrich Schiller
Interview
Dramaturgin Helena Eckert im Gespräch mit der Regisseurin Leonie Böhm
HELENA ECKERT Mit deinen Arbeiten begibst du dich immer wieder in die komplexen Narrative von Theaterklassikern und untersuchst sie auf die in ihnen wohnenden Gedanken und Gefühle. Dabei wird viel Text gestrichen. Und dies tust du mit Stücken, die schon unzählige Male gespielt wurden. In Zürich zum Beispiel hast Du Dich mit Leonce und Lena beschäftigt, mit Medea und Drei Schwestern. Was interessiert dich an den Texten? Und braucht es für diese Herangehensweise immer einen Bezug zum «klassischen Kanon»?
LEONIE BÖHM Mit meinen Stücken versuche ich, Gespräche, Gefühle und Gedanken auszulösen, die uns ermutigen, Gemeinschaften zu denken und auch auf der Bühne zu erleben, die gewaltfrei und gerecht miteinander funktionieren. Um mit Theater darüber zu erzählen und etwas herauszufinden, eignen sich die kanonischen Theaterstoffe besonders gut, weil sie bekannt sind und bereits viel Rezeptionsgeschichte mit sich bringen. In all den Zeiten, in denen sie gespielt wurden, haben sie durch ihre Inszenierung gesellschaftliche Entwicklungen und Wandlungen reflektiert und vielleicht auch geprägt. Wenn das Publikum schon eine Erfahrung mit dem Stoff, dem Mythos oder der Figur gemacht hat, dann hilft dieses Wissen und auch die daraus erwachsene Erwartung unserem Vorhaben: den Stoff in die Gegenwart zu ziehen, ihn im Hier und Jetzt auf der Bühne entstehen zu lassen und komplexe Narrative zugunsten einer unmittelbaren Begegnung erst einmal zu streichen.
HE Und reizen dich zeitgenössische Stoffe, die genau dies schon mit sich bringen?
LB Zeitgenössische Stoffe haben diesen Schritt oft schon getan, ja, aber für mich und für unseren gemeinsamen Prozess ist der Transfer in die Gegenwart, das Wissen um die Rezeptionsgeschichte des Stoffes, und die Suche nach den hinter den Handlungen versteckten Mustern und Emotionen der Figuren ein wichtiger Schritt. Diese Auseinandersetzung ist für das gesamte Team wichtig und kann nicht übersprungen werden. Für diese Herangehensweise braucht es natürlich auch die grösstmögliche Freiheit im Umgang mit dem Text. Am Ende bleiben immer nur ein paar wenige Seiten Originaltext übrig, die wir gemeinsam mit Maja Beckmann, Josefine Israel und Wiebke Mollenhauer neu zusammensetzen. Gemischt mit Raum für Improvisationen der Spieler*innen, ergeben sie dann den Stücktext. Die Eigenständigkeit des Textes im Wissen und in den Köpfen der Zuschauenden, des Theaterbetriebs oder der Gesellschaft insgesamt ist für mich wichtig und bei klassischen Texten eher gegeben. Wenn aber ein zeitgenössischer Text die emanzipatorische Kraft, nach der ich mit Theater suche, schon mit sich bringt, sodass es dann nicht darum gehen müsste, zum Beispiel den Stoff zu erzählen oder dem Narrativ gerecht zu werden, sondern darum, ihn als eine ermutigende Sprache benutzen zu können, fände ich das auch sehr spannend. Wenn der Text bereits von sich aus das leistet oder sogar mehr leisten würde als die Klassiker, bzw. als das, was ich mit den Klassikern versuche – nämlich das emotional transformative Potential aus ihnen herauszukehren.
HE Im Februar hast du nun mit Blutstück nach dem Roman Blutbuch von Kim de L’Horizon in Zürich Premiere.
LB Kim de L’Horizon gelingt in Blutbuch ein von Tabus befreiter, offener Dialog eines Ichs, dessen Innenwelt sich so persönlich an uns wendet, dass ich gezwungen bin mich mit meinen eigenen Schamgrenzen und Ängsten auseinanderzusetzen. Zudem ermöglicht die Zusammenarbeit mit Kim einen ähnlich freien Umgang mit dem Text, wie bei den Klassikern.
HE Bei der historischen Johanna von Orleans ist das politische Geschehen ihrer Zeit ein wichtiger Antrieb. Sie versucht einen Krieg zu gewinnen, an dessen Ende selbst der Machtinhaber, der künftige König, nicht mehr glaubt. Auch heute herrscht ein akutes Katastrophenbewusstsein. Zahlreich sind die Proteste gegen die multiplen Krisen unserer Zeit, die alle zusammenhängen und an deren Spitze die Klimakrise steht. Dennoch bezweifeln immer mehr, dass das Ruder noch herumzureissen ist.
LB Mich faszinieren an Johanna die Entschlossenheit und die Konsequenz, mit der sie versucht, den Wunsch der anderen, den Krieg gegen England zu gewinnen, zu verwirklichen. Für mich stellte sich die Frage: Welche Hoffnungen haben wir schon aufgegeben? Und für was kann Johanna bei uns also kämpfen? Wir sind aufgewachsen im Bewusstsein, dass der Weg der Gewalt kein Weg ist, die Probleme der Gegenwart nachhaltig zu lösen. Und auch der Gerechtigkeitsbegriff hat sich sehr verändert. Johanna ist im Glauben an eine französische Monarchie aufgewachsen, für sie ist klar, wer der Feind ist und wen es zu beschützen gilt. Dementsprechend muss Frankreich den Krieg gegen England gewinnen. Das Dilemma unserer Gegenwart ist dagegen, dass wir wissen: Wir sind mitverantwortlich für die Bedrohungen, in denen wir leben. Das erzeugt eine viel grössere Dringlichkeit der Frage, wie wir uns überhaupt so handlungsfähig machen können, dass wir unserem Handeln glauben können und dass unser Handeln eine Welt erzeugen kann, die für uns selbst und alle anderen ein sicherer Ort ist. Wie löst man diese Dilemmata? Wie kann man wieder ins Handeln kommen, ohne dass unser Handeln unentwegt neue Gewalt erzeugt?
HE Johanna von Orleans führt zwar ein ganzes Heer an, am Ende steht sie jedoch ziemlich alleine da. An diesem Abend sind mit den Schauspielerinnen Josefine Israel, Maja Beckmann und Wiebke Mollenhauer nun gleich drei Johannas auf der Bühne.
LB Ich finde Schillers Johanna unglaublich zeitgenössisch. Auch heute begegnen mir ständig Menschen, insbesondere Frauen, die fast wie im Alleingang versuchen, übermenschliche Kräfte zu entwickeln. Manchmal verausgaben sie sich jedoch in dem Versuch, Probleme eines patriarchalen Systems auszubaden, in dem sie selbst weder verstanden werden, noch geborgen sind. Sie investieren trotzdem rückhaltlos ihre ganze Energie und Kraft in Verhältnisse, an denen sie dann eigentlich zugrunde gehen. Sie haben ihre Kraft einem gesellschaftlichen Anliegen überantwortet, das sie nicht mitdenkt. Und ich habe mich gefragt, ob man mit Theater diesen Mechanismus zeigen soll, also dieses sich zum Werkzeug machen für ein System, das einen zerstört und alleine zurücklässt. Ich empfinde diesen Widerspruch als von Grund auf nachvollziehbar und realistisch und kenne ihn auch von mir. Gleichzeitig suche ich aber mit der Theaterarbeit nach einer Utopie – und die finde ich im Miteinander, auch wenn es noch so kleine zwischenmenschliche Gesten sind. Dann rückt das System, für das man sich verausgabt, wieder in den Hintergrund. Es geht vielmehr darum, wie viel man von diesem Programm womöglich internalisiert hat. Und, in einem zweiten Schritt, wie man – vielleicht antiintuitiv handeln kann, um das System zu überwinden oder den eigenen Glaubenssatz zu überprüfen und zu transformieren. Je komplexer die Probleme sind, desto weniger wird eine einzelne Person in der Lage sein, sie zu lösen.
HE Kannst du das antiintuitive Handeln etwas beschreiben?
LB Mich interessiert, wie man aus einem Moment der Lähmung, Orientierungslosigkeit oder Destruktion immer wieder ins Handeln kommt. Antiintuitives Handeln ist für mich, dass man eben etwas tut, wozu man sich überwindet. Wie zum Beispiel sich zu zeigen in Momenten, in denen man sich vielleicht auch selber nicht mehr kennt; Dinge zu tun, die einem peinlich sind, vor denen man Angst hat. Um den eigenen Handlungsradius zu erweitern. Etwas Neues über sich kennenzulernen, das ist ein intimer Moment, das finde ich extrem spannend und es kann auch total komisch sein und Lust machen. Es entsteht Transformation oder zumindest Bewegung in Verhärtungen – sowohl im Verhalten als auch im Fühlen und im Denken. Anders als im Original, in dem Johanna antritt, um eine bedrohte Ordnung aufrechtzuerhalten, erkunden wir die Möglichkeit des Veränderns. Bei Schiller sind das System und Johannas Kraft vielleicht mehr voneinander getrennt. Bei uns hat Johanna das beschriebene Dilemma verinnerlicht. Sie ist selbst Teil ihres Feindbildes, bzw. dieses ist nicht mehr so klar als «die Anderen» auszumachen. Sie ist Teil des Umfeldes, gegen das sie sich emanzipieren und ermächtigen will. Und die Frage, wie das ausgeht, ob sie gegen sich – sozusagen – gewinnt oder verliert, die Multiperspektivität, die durch diese Frage entsteht, können wir mit den drei Spielerinnen untersuchen, die jeweils einen eigenen Blick auf sich als eine Figur Johannas entwickeln. Interessant bei Johanna ist, dass sie einerseits eine historische Person ist und eben eine fiktive Figur in Schillers Stück. Josefine, Maja und Wiebke versuchen sich diesem Konstrukt, dieser Ikone, dieser Figur, diesem Menschen aus unterschiedlichen Perspektiven anzunähern und somit eben auch etwas über ihre Vielschichtigkeit herauszufinden. Alle drei haben Johannas entwickelt, die in ganz unterschiedlicher Art und Weise auf Bedrohung und Unsicherheit reagieren: Mit Drang zum Handeln, der Suche nach Sicherheit in der Gemeinschaft oder dem Rückzug, weil man sich auf nichts mehr verlassen will. Diese drei Reaktionsmuster müssen überhaupt erstmal in die Sichtbarkeit kommen.
HE In Zürich wird nun Vincent Basse an manchen Vorstellungen die Johanna spielen, die Josefine Israel entwickelt hat.
LB In den Proben für die Zürich Premiere haben wir versucht eine Adaption zu entwickeln, die sich, ausgehend von Josefines Israels “Johanna” und den Gedanken, die wir gemeinsam in den Proben herausgearbeitet haben, mit den Ideen von Vincent verbindet. Und Vincent durch seine Einfälle und Gedanken zu dieser Position, sein Potential und all dem, was er mit in die Gruppe bringt, in kurzer Zeit den Abend auch ein Stück weit mitentwickelt.
HE Und auch die Bühne hat sich stark verändert. Das Stück wurde im Malersaal im Schauspielhaus Hamburg gespielt, vergleichbar mit der Box hier in Zürich. Was bedeutet der Umzug in den Pfauen, auf eine klassische Guckkastenbühne?
LB Durch den Umzug auf die Guckkastenbühne findet eine Bedeutungsverschiebung innerhalb des Stückes statt. Aspekte werden hervorgehoben, die im Malersaal eine andere Gewichtung hatten. Das Theaterportal unterstreicht die Frage: Was heisst es, Johanna zu spielen, Johanna zu werden auf dieser Bühne? Die Potenz und die Kraft, die Fähigkeiten von Johanna zu entwickeln, wie es vielleicht auch schon andere auf andere Weise auf dieser Bühne probiert haben? Es ist weniger ein eher performatives Miteinander mit dem Publikum, sondern die Trennung zwischen Bühne und Publikum wird verstärkt. Dadurch wird der Schritt auf die Bühne vor das Publikum, der Schritt Johanna zu werden, markiert. Als ob man auf einen Sockel steigt und untersucht wie es ist, dort zu stehen. Immer auch im Abgleich mit den Bildern, die wir von der Ikone haben.
HE Bei all dem verstehen wollen, wer der Mensch Johanna vielleicht war – Was ist für dich das «Wunder» in Johanna?
LB Für mich ist das Wunder der Zeitpunkt des Losgehens, dassJohanna aufbricht. Und ich selber suche mit den Spielerinnen nach einem gemeinschaftlichen Losgehen. Können wir, durch Johannas Kraft inspiriert, selbst zu Johanna werden, Verantwortung übernehmen, an grosse Ziele glauben? Unsere ganze Kraft einsetzen für etwas, was uns eigentlich unmöglich erscheint? Wir haben alle extreme Kräfte, wenn wir wollen. Und wir sind alle bereit, diese immer wieder in den Dienst eines grossen Ganzen zu stellen – mit dem Bewusstsein, dass es nur vorübergehend ist und dass wir alle das tun und uns darin abwechseln. Das ist eine «Johanna Inspiration», die ich am liebsten für mein Leben aus dem Stück mitnehmen würde.
Impressum
Alle Textbeiträge sind Originalbeiträge. Sie wurden im Dezember 2022 für die Hamburg Premiere von Johanna verfasst und für dieses Programmheft ergänzt.
Redaktion: Helena Eckert
Spielzeit 2023/24
Intendanz: Benjamin von Blomberg / Nicolas Stemann
Offizielle Ausstatter des Schauspielhauses Zürich: MAC Cosmetics, Optiker Zwicker, Ricola, Südhang Weine, Tarzan Swiss Streetfashion