Unmittelbare und grenzenlose
Berührung: Leonie Böhm im Gespräch
mit Kim de l'Horizon

Kurz nach der erfolgreichen Premiere von Blutstück treffen sich Leonie Böhm und Kim de l’Horizon zu einem ersten Reflektionsgespräch über die gemeinsam erlebte Zeit. Sie reflektieren dabei den Unterschied vom Schreiben zum Spielen, verschiedenen Formen der Autor*innenschaft und das Miterleben der eigenen Körper in ihrer künstlerischen Praxis.


von Silvan Gisler
erschienen am 13. März 2024

Kim de l’Horizon: Frau Böhm.

Leonie Böhm: (lacht) Wie fangen wir jetzt an?

Kim: Wir können ja damit anfangen, dass nun schon die dritte Vorstellung vorbei ist….

Leonie: Ja! Ich würde super gerne wissen, wie du das bisher erlebt hast? Wie ist es für dich, Blutstück zu spielen?

Kim: Ich mag, dass ich nicht bereits im Vorhinein weiss, was geschehen wird. Wir haben ja teils gescripteten Text, können aber auch improvisieren. Manchmal geht mir auf dem Weg zum Pfauen gerade etwas durch den Kopf, irgendein Bild, mit dem ich dann an diesem Abend arbeiten will. Zum Beispiel haben wir ja auch nach der Premiere nochmal über das Ende gesprochen: dass ich da nicht versuchen muss, ein bestimmtes Gefühl, die Euphorie, immer zu reproduzieren, sondern dass ich da aus dem Moment heraus etwas entwickeln kann.

Leonie: Würdest du gerne mal ausprobieren, dass du den Endtext nach dem Wasserfall sagst? Dann kommt Vincent, dann kommt die Meditation. Ich weiss, ich crashe hier gerade das Interview-Format…

Kim: Ich fände es schon geil, das mal auszuprobieren, aber wir müssten darüber mit Vincent zu dritt sprechen. Ich finde es viel wichtiger, dass es für ihn stimmt.

Leonie: Wir machen es so, wie wir es besprochen haben und dann können wir wieder etwas Neues probieren, okay?

Kim: Ja, find ich gut. Zur Frage, wie es ist, da zu spielen: Helena, die Dramaturgin, hat ja gesagt, dass ich schreibend spiele. Das finde ich spannend. Wenn ich fiktional schreibe, existiert da eine Person, die zwar aussieht wie ich, aber dennoch fiktional bleibt und Dinge sagt und macht, die ich nie sagen und machen würde. Aber wenn wir hier spielen, habe ich das Gefühl, dass ich ganz direkt sagen kann, was ich gerade empfinde und denke. Ich kann in der einen Szene Vincents Arsch anfassen, wenn ich gerade Bock drauf habe. Oder ich werde von Sasha in einer anderen Szene gefragt: “willst du rummachen?”. Diese einfachen, manchmal naiven Sachen sind sehr befreiend.

Leonie: Kannst du dir beim Schreiben selbst Resonanz geben?

Kim: Ich gelange beim Schreiben durch die Figur hindurch manchmal an Orte in mir selbst, wo sehr viel Schmerz ist. Als würde ich mit einer Figur, die gleich heisst wie ich und gleich aussieht wie ich, aber überhaupt nicht ich ist, eine Reise durch meine schlimmsten Niederungen machen und wo ich mich dann allein zu lassen drohe, weil ich das nicht aushalte - und dies aber zu spät merke. Die Figur hat da Schutz, aber ich, mein Fleischkörper, mein Privat-Ich nicht. Daran arbeite ich gerade: Wie kann ich meinem Privat-Körper, meinem Privat-Ich einen anderen Schutz zukommen lassen.

Leonie: Wenn du Theater machst, welchen Schutz hast du da und welcher Schutz fehlt dir?

Kim: Was im Text landet, ist relativ fiktiv. Genährt zwar mit privaten Erfahrungen und Gefühlen, doch die Figur im Text und mein Körper-Ich sind nicht dieselbe Person. Beim Schreiben konnte ich meine Figur ermächtigen und durch ein Labyrinth schicken. Aber mein Privat-Ich hinkt noch hinterher, es muss selbst noch Wege finden. Beim Theaterspielen wiederum habe ich mein privates Ich auch auf der Bühne. Hier habe ich das Gefühl, dass meine Figur, also das Spiel-Ich, und mein Privat-Ich gemeinsam da stehen.

Leonie: Aber ist das ein riskanter oder ein beschützender Zustand?

Kim: Irgendwie beides, aber es fühlt sich auf der Bühne sicherer an als beim Schreiben: Ich kapiere auf der Bühne schneller, was gerade abläuft und kann reagieren. Du hast gesagt, das Buch habe dich angefasst, wie war dieses Anfassen?

Leonie: Für mich war diese Rave-Szene irre aufregend. Da findet so unmittelbar und grenzenlos Berührung, Begegnung und Sexualität aber auch Fiktion und Fantasie statt, sodass ich das Gefühl hatte, die Sprache rückt mir sehr nahe. Ich wohnte einem Gedanken bei, von dem ich mich gar nicht distanzieren konnte, sondern den ich durch mich hindurch erlebte. Als würde ich mich verlieben. Ich konnte danach nicht schlafen. Diese extreme Sehnsucht nach Begegnung, die da auf textlicher Ebene stattfindet, hat mich aufgewühlt: dieses Spannungsverhältnis zwischen der Sehnsucht nach Begegnung und den realen Möglichkeiten und die Frage danach, wie stark wir uns aufeinander einlassen können. In meinem Leben geht es um diese Frage, die sich auch Gro auf der Bühne stellt: Was muss man eigentlich zurückhalten, um in einer Beziehung bleiben zu können oder um einen Beziehungsraum halten zu können. Und wann findet Risiko in der Nähe statt. Das, wovon ich denke, das von mir verlangt wird in meinem Beruf und als Mutter, verhindert manchmal auch eine ungenierte Freiheit in der Begegnung mit den Anderen. Da hab ich manchmal das Gefühl, es gibt über Jahre auch einen Mangel für mich in diesem Bereich. Oder ich denke, wenn ich mir da mehr Raum nehmen würde, würden alle meine Systeme zusammenbrechen. Und da hat dieser Text für mich was geleistet, das ich mit meinen Stücken auch versuche: dass man sich echt auf die Begegnungen mit anderen Menschen einlässt. Diese Rave-Stelle war eine Art Ice-Breaker. Das Buch ist mir auf verschiedenen Ebenen nahe gerückt. Manchmal strukturell, manchmal in der Art und Weise des Sprechens, manchmal inhaltlich.

Kim: Wie ist es denn, wenn du Regie machst? Was ist dein körperliches Verhältnis zu dem Geschehen auf der Bühne?

Leonie: Ich lebe das Geschehen auf der Bühne gefühlsmässig mit, reflektiere das aber auch und habe natürlich auch einen Abstand. Ich versuche, alles zusammenzudenken und innerlich zu halten. Aber wenn ihr in eine Verunsicherung geratet, dann fühle ich das auch. Wenn es euch Spass macht, dann erlöst mich das auch von meinem Stress und ich fühle mich auch selbst frei. Um zu diesem Punkt zu kommen bei einem Stück, wo die Freiheit entsteht, begleite ich einen langen Prozess, in dem ich gefühlsmässig sehr viel halte. Ich versuche, meinen eigenen emotionalen Haushalt zu nutzen, um zu fühlen, was ihr macht und zu spüren, was das in mir auslöst. Ich geniesse es, wenn ich hellwach im Theater sitze, mitdenken darf und berührt bin; wenn ich mit dem Geschehen auf der Bühne in eine konstruktive Beziehung trete. Ich wünsche mir von meinen Stücken, dass dies im Publikum geschehen kann. Dass Menschen unterschiedlicher Herkunft, Bildungshintergründe, Gender, Biographien dadurch bewegt werden und etwas erleben können im Rahmen ihrer Wahrnehmungen. Das Stück soll idealerweise mit allen Menschen kommunizieren können.

Kim: Es geht mir beim Schreiben und beim Theatermachen um den Vorgang, sich zur Verfügung zu stellen und etwas zu durchleben.

Leonie: Ja, so geht es mir auch.

Kim: Ich finde es gerade spannend, über Theater und Schreiben nachzudenken. Regie scheint mir wie eine Autorinnen-Position mit einer Aussensicht. Und die Figuren auf der Bühne sind wie Figuren in einem Buch. Oder ist dies zu pauschal?

Leonie: Ich denke, die Art, wie du dein Schreiben erlebst, ist schon ähnlich wie das körperliche Erleben eurer Improvisationen auf der Bühne. Ich finde es wichtig und gut, wenn wir Gespräche hinbekommen, wo wir gegenseitig verstehen, was wir da gemeinsam machen.

Kim: Du gibt den Spieler*innen ja auch die Autor*innenschaft. Ich habe das Gefühl, dass ich jeden Abend auch durch das Improvisieren selbst entscheide, was ich gerade fühle. Ich bin ja in diesem Stück, wo ich eine Figur bin, doch auch jeden Abend wieder eine Mitautor*in.

Leonie: Absolut. Es gibt viele Freiräume - und gleichzeitig sehen die Menschen, die an verschiedenen Abenden in die Inszenierung gehen, dennoch dasselbe Stück.