Von der Rolle zur Figur
Ein Forschungsbericht von Barbara Sommer
Im Rahmen ihrer Forschungen hat die Dramaturgin und Theaterwissenschaftlerin Barbara Sommer den Probenprozess zu Die Möwe von der Konzeptionsprobe bis zur Generalprobe begleitet. Im Folgenden sind die ersten Ergebnisse ihrer teilnehmenden Beobachtung notiert. Sie beschreibt den Prozess der Figurenentwicklung in fünf Phasen. Dabei markieren die von ihr betitelten Phasen die zentralen Entwicklungsschritte bei fortschreitender Arbeit an den Figuren. Die Phasen sind nicht als abgeschlossene Einheiten in streng chronologischer Abfolge zu verstehen. Vielmehr durchweben, ergänzen und justieren sie einander, sind aber je nach Probenstadium mehr oder weniger im Vordergrund. Ergänzt werden die Beschreibungen von Auszügen aus ihrem Probentagebuch.
erschienen am 03. Januar 2024
19. OKT 23
NOTIZ CR: Bei Tschechow sind die Figuren zu Beginn holzschnittartig gezeichnet. Aus diesen Schablonen pellen sich im Verlauf des Stücks Menschen heraus. Können wir daraus eine Spielweise gewinnen? Eine Form?
VISION
Zu Beginn der Konzeptionsprobe stellt Christopher Rüping die Besetzung vor. Sie ist ungewöhnlich. Bei Tschechow gehören die Figuren eindeutig zur jungen oder zur alten Generation. Rüping und sein Team hingegen haben Schauspieler*innen besetzt, die sich gemäss ihrem realen Alter genau zwischen den Tschechow’schen Generationen befinden. Den naturgegebenen Abstand, den die Schauspieler*innen auf Grund dieser Altersdifferenz zu ihren Figuren haben, beschreibt Rüping als Ausgangspunkt seiner Inszenierungskonzeption: Er will gemeinsam mit dem Ensemble nach einer Spielweise suchen, in der nicht einfach Schauspieler*innen die ihnen zugeteilten Rollen bestmöglich verkörpern. Zwischen Schauspieler*in und Rolle/Figur soll sich eine dritte Ebene auffalten, auf der sich Schauspieler*innen und Figuren begegnen können. Während der Proben entwickelt sich für die Aktuer*innen auf dieser Ebene der Begriff der «Spieler*innenfiguren». Hier soll das Verhältnis verhandelt werden, das die jeweiligen Schauspieler*innen zu ihren Figuren haben. Hier soll die aktive Auseinandersetzung mit der zu spielenden Figur sichtbar werden. Hier sollen sich die bewusste Suche nach Nähe und Distanz zwischen Schauspieler*innen und Figuren ereignen.
21. OKT 23
NOTIZ ML: Trigorin wird im ersten Akt als jemand vorgestellt, der sich nicht beweisen muss. Er wirkt satt, möchte chillen, ist selbstgenügsam. Er ist überhaupt kein radikaler Künstlertyp. Da fühle ich eine Distanz.
ERSTE DATES
Ausgangspunkt für die «ersten Dates» zwischen Schauspieler*innen und Figuren ist die Original-Übersetzung von Thomas Brasch, unbearbeitet und ungestrichen. Nach der ersten gemeinsamen Lektüre bekommen die Schauspieler*innen die Aufgabe, sich mit einem kleinen Fragenkatalog an die eigene Figur anzunähern. Rüping interessiert: «Was regt dich an deiner Figur auf? Wo empfindest du eine gewisse Nähe zu deiner Figur? Wo hingegen Differenzen? An welcher Stelle weckt sie dein Interesse besonders? Gibt es Sätze, die du für deine Figur besonders wichtig findest?» Es folgen ausführliche Einzelgespräche zwischen Regieteam und den jeweiligen Schauspieler*innen. Erste Haltungen der Schauspieler*innen gegenüber ihren Figuren werden formuliert, erste Stellen markiert, an denen die Schauspielerinnen mit ihren Figuren in ein spezifisches Verhältnis treten, erste Vermutungen angestellt, wie sich das Verhältnis zur eigenen Figur im Laufe des Stückes wandeln könnte. Basierend auf diesen Gesprächen, erarbeitet Rüping eine erste Textfassung als Grundlage für die szenischen Proben.
21. OKT 23
NOTIZ LS: Sorina ist ein Betrachtende. Sie kann nichts falsch machen, nur vergessen werden. Sie traut sich nie, für etwas einzustehen, geht nie in den Konflikt. ABER: Sie ist die einzige, deren Maxime nicht ihre eigene Grösse ist. (…) Für mich hat Spielen was mit Verstecken und dem Gegenteil zu tun. Als LS will ich nicht auf die Bühne, weil ich ein schüchterner Mensch bin. Mir hat das Theater Halt gegeben, Worte haben mich gerettet.
FRAGE Wie groß ist die Überschneidung mit Sorina? Auch sie ist von Leuten umgeben, die sich die ganze Zeit produzieren. Sorina will das auch, kann es aber nicht und findet es furchtbar. Gleichzeitig hat sie Angst davor, dass die anderen sie verlassen könnten.
BEZIEHUNGSARBEIT
Mit dem gelernten Text beginnen die Schauspieler*innen sich die Situationen auf der Probebühne zu erarbeiten. Sie bauen die Beziehung zu ihren Figuren jetzt in der Praxis auf. Dafür tragen die Schauspieler*innen schlichte Probenkostüme, teilweise mit historischen Versatzstücken. Requisiten oder ein bespielbares Bühnenbild stehen nahezu nicht zur Verfügung. Es gibt nur den weitestgehend leeren Raum, die Mitspieler*innen, das Regieteam als Publikum, den Text und ein iPhone plus Soundbox, auf dem Songs (von Schauspieler*innen und Team ausgewählt) abgespielt werden können. Einerseits werden in dieser Phase vor allem die Grundsituationen, die das Stück vorgibt, analysiert, durchdrungen und konkretisiert, andererseits liegt der Fokus der schauspielerischen Arbeit darauf, aus der persönlichen Distanz heraus, das eigene Verhältnis zur Figur zu finden. Um ein konkretes Gefühl für diese Momente zu bekommen, fordert Rüping die Schauspieler*innen vermehrt auf, die Situationen im Stück bewusst mit dem eigenen Leben, den eigenen Erinnerungen oder der eigenen Imagination zu verknüpfen. Die spannungsgeladenen Verhältnisse zwischen Schauspieler*in und Figur soll im Spiel thematisiert, ausgehandelt und erfahrbar werden. Vehikel dafür ist die Spieler*innenfigur, die zugleich die reale Schauspieler*in ist wie auch fiktionale Figur ist.
5. NOV 23 (Szene 2.4)
NOTIZ ML sitzt am Tisch und erzählt, wie er zum ersten Mal mit dem Theater in Berührung gekommen ist. Er erzählt von den ersten Begegnungen mit den Stars auf der Bühne des heimischen Stadttheaters, von dem Zauber der Theaterwelt, von der Bewunderung für die arrivierten und erfolgreichen Kollegen. Er erzählt davon, wie der eigene Weg verlief bis dorthin, wo er heute steht.
FAZIT Vor unserem inneren Auge entsteht die Laufbahn des ML oder besser des fiktiven ML. Es ist die persönliche Paraphrase des Trigorin, der Nina im Stück von seinen Anfängen als Schriftsteller erzählt, umgemünzt auf die Erfahrungen des ML. Es sind seine Worte, die Tschechow atmen.
9. NOV 23 (Szene 3.3)
NOTIZ BL sitzt auf Sorinas «Rollstuhl» in der Bühnenmitte. Er bittet MB einen Verband um seinen Kopf anzulegen. Diese ist irritiert. BL tut so, als ob er sich Kunstblut auf die Stirn schmieren würde. Dann drückt er MB einen Verbandskoffer in die Hand und wartet wie ein kleiner Junge darauf, von seiner Mutter verarztet zu werden. MB beginnt den Verband anzulegen. BL geniesst die Nähe. Aus dieser Aktion entwickelt sich ein Spiel. MB und BL halten je ein Ende des Verbandes in der Hand. Sie wickeln sich gegenseitig ein, ziehen einander zu sich, entfernen sich wieder, kugeln sich auf dem Boden herum, immer miteinander durch den Verband verbunden.
FAZIT MB und BL spielen miteinander ein situativ entstandenes, kindliches Spiel und entdecken, dass da eine Ebene ist, auf der sich Arkadina und Kostja, Mutter und Sohn, MB und BL finden. Beim Spiel im Spiel.
ZUSAMMEN AUF PROBE
Jetzt geht es um das Zusammenspiel, um den «Common Ground», um die gemeinsame Spielverabredung. In der bisherigen Probenarbeit wurden für jede Schauspieler*in individuelle Denk- und Spielräume geöffnet und mit verschiedenen spielerischen Tools gefüllt. Jetzt soll dieser Fundus spezifisch benutzt werden. Die Schauspieler*innen üben sich daran, das erprobte Material nicht vorzuspielen, sondern so einzusetzen, wie es die soeben entstandene Situation erfordert. Sie üben auf die Impulse, welche die Mitspielenden senden, zu reagieren. Sie üben ganz im Hier und Jetzt zu agieren. «Act accordingly» formuliert es Rüping und präzisiert, indem er das Spiel auf der Bühne mit seinen Erfahrungen aus dem Kampfsport vergleicht: «Im Training eignet man sich diverse Techniken an, die man übt und perfektioniert. Beim Kampf hingegen reagiert man aus dem Moment heraus, sonst ist man verloren. Man greift auf das erlernte Repertoire zurück, benutzt es aber je nach Impulsen von aussen immer wieder anders und neu.» Analog dazu entwickelt sich beim Spiel auf der Bühne jede Szene immer wieder ein bisschen anders. Sie fordert, dass die «Spieler*innenfigur» wie ein «inneres Autor*innen-Ich» die eigene Figur durch die Szenen manövriert.
13 NOV 23 (Szene 2.3)
NOTIZ WM (Nina) sitzt auf der Aktiv-Box. Sie hält das iPhone in der Hand. Von hinten links tritt BL (Kostja) auf, eine weisse Plastiktüte in der Hand. Darin, so die Behauptung, die soeben erschossene Möwe. BL geht zielstrebig auf WM zu. Als er direkt vor ihr steht, wirft er die Plastiktüte auf den Boden vor ihre Füsse. WM schaut BL irritiert an. BL beginnt mit dem Text, merkt jedoch nach den ersten Repliken, dass WM ihn nicht ernst nimmt. Im Gegenteil WM bekommt einen Lachanfall. BL greift nach der Plastiktüte, geht nach links hinten ab. Die Tür fällt krachend ins Schloss. Es folgt ein erneuter Versuch. BL eilt voller Wut Richtung Bühnenmitte auf WM zu. Neuer Versuch, neues Glück. Doch mitten im Text drückt WM auf das iPhone. BL muss jetzt über die Spice-Girls hinweg sein Anliegen WM ins Gesicht schreien. Chancenlos.
NOTIZ II Cristopher Rüping will die Situation ins Extrem treiben. «Mich interessiert der Moment, wo du, B, etwas spielen willst, W sich aber entzieht – Du denkst: Du sollst mich als dramatischen Lover ernst nehmen.» Im Folgenden improvisiert BL eine Reihe von unterschiedlichsten Auftritten (ähnlich wie oben beschrieben) in einer Endlosschleife. Er kämpft um ihre Aufmerksamkeit.
FAZIT Schauspieler*innen und Figuren treffen immer wieder neu aufeinander bis zur physischen Erschöpfung.
FRAGE War hier Kostjas Schmerz über die Kälte von Nina zu sehen? Oder Bs Ringen als Schauspieler darum, von der Kollegin ernst genommen zu werden? Wird Nina zur Waffe von W, gegen die B nicht mehr ankommt? Kämpft B mit Kostja oder umgekehrt? Je nachdem, welche Impulse die beiden Schauspieler*innen aussenden, ereignet sich dieselbe Szene immer wieder gleich und doch anders, weil die Spielebenen, auf denen sich die Spieler*innen begegnen, ständig variieren.
BABUSCHKAS
Auf den Bühnenproben wird an der Spielverabredung weitergefeilt. Das, was im intimen und provisorischen Rahmen der Probebühne gefunden wurde, muss nun auf die Original-Bühne transponiert werden. Die Schauspieler*innen proben an der Herstellung grösstmöglicher performativer Authentizität. Hierfür schlägt Rüping vor, sich die Grundsituation der Spielverabredung so vorzustellen: «Ihr spielt das Stück zum ersten Mal. Und: Ihr habt noch nie miteinander auf einer Bühne gestanden. Ihr kennt alle den Text. Aber ihr seid immer wieder überrascht, wie die Mitspielenden mit dem Text agieren, welche Einfälle sie mitbringen, welche Spielentscheidungen sie treffen und welche emotionalen Ausbrüche sie durchleben.» Langsam fügen sich in dieser Phase die verschiedenen Spielebenen ineinander. Die «fertige» Figur ist wie eine Babuschka, die zwar nach aussen nur ein Gesicht zeigt, die es aber in sich hat: In ihr stecken, zum Verwechseln ähnlich und doch verschieden, ineinander verschachtelte Verwandte.
4. DEZ 23
NOTIZ AA: Auf der Bühne erzähle ich eigentlich meine Geschichte, aber niemand merkt das. Ich spreche nur andere Texte, aber eigentlich spreche ich über mich.