Wider die Stigmatisierung
In dem Roman Liebes Arschloch von Virginie Despentes wird ein komplexes Bild von Sucht und Entzug gezeichnet: Rebecca, die Protagonistin, lebt ihr Leben lang als erfolgreiche Schauspielerin mit einer Heroinabhängigkeit. Dies widerspricht dem gesellschaftlich verbreiteten Bild einer Süchtigen. Für das Programmheft der Inszenierung von Yana Ross hat Philip Stevens ein Gespräch mit Dr. Thomas Lüddeckens geführt, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Chefarzt der Klinik Im Hasel. Es behandelt Fragen des Drogenkonsums, Konsumkompetenz und substanzgebundene Störungen.
erschienen am 18. Dezember 2023
Können Sie sagen, wie lange das Thema Sucht bereits medizinisch behandelt wird und wie es sich über die Zeit verändert hat?
Unsere Klinik, die Klinik Im Hasel, ist auf Sucht spezialisiert und gibt es schon seit fast 50 Jahren. Die Stiftung, zu der die Klinik gehört, gibt es schon fast 110 Jahre. Dementsprechend ist das Thema Sucht und Suchtbehandlung kein neues Thema. Im medizinischen Kontext wird es seit gut 150 Jahren behandelt. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gab es einen langsamen Blickwechsel von «Sucht ist ein Versagen» zu «Sucht ist eine Erkrankung». Und es ist trotz allem noch heute so, dass Sucht eher als Willensschwäche und moralisches Versagen gesehen wird und nicht als das, was es wirklich ist: Eine Erkrankung, die man behandeln muss. Für diese Erkrankung ist die betroffene Person nicht wirklich selbst verantwortlich. Wofür sie aber eine Verantwortung trägt, ist ihre Mitarbeit beim Heilungsprozess.
Können Sie noch näher beschreiben, worum es sich bei Sucht eigentlich handelt?
In dem Buch Der kleine Prinz von Antoine de Saint-Exupéry gibt es eine Passage, die mir besonders gut gefällt. Darin fragt der kleine Prinz den Trinker, warum er trinke. «Um zu vergessen», antwortet der. «Um was zu vergessen?» «Dass ich mich schäme.» Und auf die Frage, warum er sich schäme, bekennt der Trinker: «Weil ich trinke». Was diese Passage gut illustriert, ist das, was viele, viele Patient*innen äussern, vor allem, wenn sie bereits längere Zeit Alkohol konsumieren, nämlich, dass der Grund, warum und wieso sie konsumieren, verschwindet. Die ausgelöste Scham des Trinkens überwiegt. Und warum schämt man sich, wenn man trinkt? Weil Sucht Kontrollverlust ist. Kontrollverlust ist das, was wir nicht wollen. Es möchte zum Beispiel niemand die Kontrolle über seine Blase verlieren. Falls wir diese Kontrolle in der Öffentlichkeit verlieren würden, wäre dies unglaublich beschämend für uns. Sogar die Menschen um uns herum wären beschämt. Nur weil sie sehen, wie sich jemand in die Hose macht. Genau das ist, was Süchtige erleben. Sie erleben einen maximalen Kontrollverlust. Vorhaben wie «Ab morgen trinke ich nicht mehr. Ich konsumiere nichts mehr» oder «Ab morgen wird mein Leben besser. Ich werde mein Leben in den Griff kriegen» funktionieren nicht. Denn wenn der Vorsatz dann gebrochen wird und die Substanz doch konsumiert wird, überwiegt das Gefühl, die Kontrolle doch nicht wiedergewonnen zu haben. Ein Kreislauf der Scham entsteht.
Was sagen Sie zu der Stigmatisierung von Sucht?
In der Medizin gibt es gewisse Fachbereiche, die mehr oder weniger stigmatisiert sind. Orthopädie zum Beispiel ist relativ wenig stigmatisiert. Psychiatrie ist im Allgemeinen wesentlich deutlicher stigmatisiert. Innerhalb der Psychiatrie gibt es den mehr oder weniger gesellschaftsfähigen Begriff «Burnout», welcher schon ein bisschen mehr entstigmatisiert ist. Bei Sucht ist das mit der Entstigmatisierung noch nicht gelungen. Süchtige sind immer noch eher am Rand, vor allem, wenn es um den Konsum von illegalen Substanzen geht. Wir sagen heute übrigens eigentlich auch nicht mehr Sucht, sondern Substanzgebundene Störung. Eine Sucht beginnt nicht ab einem gewissen Punkt, sondern eher ab einem gewissen Kontinuum: von normalem Konsum (denn konsumieren tun wir alle!), hin zu einem problematischen Konsum, also einem Konsum, der nicht gesund ist und Probleme in manchen Lebensbereichen macht, bis hin zu einem abhängigen Konsum. Letzterer hat zwei Hauptkriterien: Der zwanghafte wiederholte Konsum und der daraus folgende psychische oder physische Schaden.
Im Roman Liebes Arschloch spielt auch der Covid-Lockdown eine Nebenrolle. Was würden Sie sagen, hat sich in dieser schwierigen Zeit in Ihrem Fachbereich geändert?
Schon vor Corona gab es einen massiven Anstieg der Diagnosen, im Vergleich zu meinem beruflichen Anfang vor 30 Jahren. Während Covid stiegen diese jedoch nochmals massiv an. Vor allem darunter gelitten haben die Jugendlichen. Die über 60-Jährigen haben im Vergleich dazu kaum darunter gelitten. Dieser Anstieg gilt für alle Art von psychischen Störungen. Drei bis fünf Prozent der Erwachsenen Bevölkerung in der Schweiz trinken die Hälfte des gesamten Alkohols in der Schweiz. Diese Gruppe bleibt stets gleich gross. Hingegen nimmt die wenig konsumierende Bevölkerung ab. Nehmen wir ein Geschäftsessen als Beispiel, fällt auf, dass Alkoholkonsum als Norm in den letzten Jahren abnahm.
Denken Sie, dass man alle Substanzen verbieten sollte?
Nein, auf keinen Fall. Rausch, Ekstase und Entgrenzung ist eine ganz wichtige Erfahrung für den Menschen. Dadurch unterscheiden wir uns von vielen anderen Wesen. In gewissem Sinne gehört es einfach zu uns. Es ist nicht die Frage: «Sucht Ja oder Nein», sondern eher: «Wie gehen wir mit den Suchtmitteln um?». Wichtig für jeden Menschen ist ein gesteuerter und kontrollierter Konsum, die so genannte Konsumkompetenz. Mit wenigen Ausnahmen (zum Beispiel Embryos drogenabhängiger Mütter, die während der Schwangerschaft Opiate konsumieren) wird niemand süchtig geboren. Sucht ist ein Zwang, der durch viele verschiedene Faktoren entstehen kann. Konsumkompetenz ist ein gesteuerter und kontrollierter Umgang damit. Man könnte folgende Frage stellen: «Müssen oder wollen Sie ihr Glas Wein zum Abendessen trinken?»
Oscar und Rebecca, die beiden Protagonist*innen des Romans, sind beide süchtig, das Thema Sucht ist ein Kernelement des Romans. Sie haben den Roman gelesen: Wie betrachten Sie als Experte die Suchtbeschreibungen in dem Roman?
Ich habe das Buch gerne gelesen. Ich fand es interessant, dass die zwölf Schritte der Narcotic Anonymous wiedergegeben wurden und ich dabei verfolgen kann, bei welchem dieser zwölf Schritte die zwei Protagonist*innen sind. Ich fand die Tatsache, dass Oscar und Rebecca nur einen einzigen Rückfall hatten, jedoch sehr idealistisch. Der positive Ausweg aus der Sucht wurde für mich fast schon romantisiert. Ganz so einfach wie im Buch wiedergegeben, ist es nämlich leider nicht, zumindest in den meisten Fällen. Die Entwicklung der Beziehung von Oscar und Rebecca fand ich sehr schön. Dahinter steckt für mich, dass echte Beziehungen, Empathie und Verständnis aus der Sucht heraus helfen. Diesen Aspekt finde ich unheimlich wichtig.
Wie realistisch finden Sie die Tatsache, dass Rebecca laut dem Buch ihr ganzes Leben lang Heroin genommen hat, ohne dass dies auffiel, beziehungsweise, sie weiter funktionierte und den Konsum kontrollieren konnte?
Wenn ich mich recht erinnere, wird im Buch nicht wiedergegeben, wie sie das Heroin konsumiert. Heroin kann man nicht nur spritzen, sondern auch rauchen oder in Form einer Tablette einnehmen. Dieser Fakt spielt eine relativ grosse Rolle, wenn es um die Glaubwürdigkeit des Buches geht. Würde sie das Heroin spritzen, könnte sie sicher nicht so leben, wie sie es tut. Nur schon wegen der Einstiche und der potenziellen Verschmutzung der Substanz. Es stellt sich mir die Frage, ob die Autorin, Virginie Despentes, in dem Bereich wirklich ein nachgewiesenes Beispiel hatte. Würden wir jetzt aber ganz hypothetisch davon ausgehen, dass Rebecca ganz reines Heroin bekommt und den Konsum – beispielsweise durch Tage, an denen sie nicht konsumiert – in Kontrolle halten kann, ist es nicht ganz unrealistisch. Sie könnte 100 Jahre alt werden. Man weiss zum Beispiel auch, dass die Opiatabhängigkeit bei Ärzten gar nicht so selten ist, weil diese an reine Substanzen kommen und den Umgang damit kennen. Es gibt zwar keine Studien, die diese Fälle belegen können. Man weiss aber aus den Abwassermessungen, die auf Substanzen aller Art testen, dass es sehr viel mehr Menschen geben muss, die konsumieren, als man zuerst denkt. Menschen, die nicht dem gesellschaftlichen Bild eines Abhängigen entsprechen. Konsum, der gelegentlich und vielleicht auch unproblematisch ist, vielleicht auch bei Heroin, wer weiss. Die Frage ist eher, wie kommen diese Menschen an die Substanzen? Ausserdem sediert Heroin und der körperliche Entzug von Heroin ist extrem unangenehm: Schwitzen, Nasenlaufen, Durchfall und wahnsinnige Gliederschmerzen, davon kommt im Buch aber nichts vor. Es könnte sein, dass Rebecca möglicherweise gar keinen abhängigen, sondern sozusagen einen sporadischen Konsum hat. Das Buch spielt natürlich in Frankreich, aber um etwas zur Schweiz zu sagen: Die Schweizer Drogenpolitik ist bei so etwas recht fortschrittlich, weil sie einen gewissen Freizeitkonsum gewährt. Der Konsum ist nicht verboten, jedoch der Besitz, Anbau und Handel. Dementsprechend wäre es möglich, alle paar Tage eine kleine Portion zu konsumieren. Doch viele Menschen wollen das nicht hören, es gibt diese Beispiele aber wirklich, bei jeder Substanz.
Können Sie das erläutern?
Dieser «optimale» Konsum von Substanzen und im Fall des Romans von Heroin ist eine reine Hypothese. Sobald ein Zwang entsteht, also eine Sucht, weil man sich denkt «wenn ich ein bisschen davon konsumiere, ist mein Schmerz weg», ist dies der direkte Weg in die Abhängigkeit und die beschriebene Konsumkompetenz ist nicht mehr gewährleistet. Sucht kann man sich vorstellen wie ein Gummiband, das man permanent spannt. Konsum ist die Entspannung, dieses Gummiband nicht mehr spannen zu müssen. Sobald es sich aber ohne Konsum wie eine Anspannung anfühlt, muss man seinen Konsum unbedingt überdenken. Sie sollten sich fragen: Wann ist mein Gummiband gespannt? Welche Methode habe ich, um mal loszulassen? Und wie gesund ist diese Methode für mich?
Im Roman schreibt Rebecca: «Ich habe schon immer gedacht, Menschen, die Drogen nicht vertragen, sollten auch keine nehmen. Ich vertrage sie, also warum sollte ich damit aufhören?» Dann aber will sie trotzdem clean werden. Warum?
Vielleicht wegen Oscar. Ohne Beziehungen geht nichts und diese Beziehungen sind eine grosse Hilfe auf dem Weg raus aus der Sucht. Auch wichtig ist, dass die beiden Protagonist*innen im Roman ihre Gedanken niederschreiben. Bei uns gibt es ganze Therapiearten, die sich um das Niederschreiben und Wiedergeben von Gedanken drehen.