Handlungsmacht
Ein Gespräch mit Nkisi
Die im Kongo geborene, in Belgien aufgewachsene und in London lebende Künstlerin Nkisi hat sich eine Reputation erarbeitet hat, die auf kompromisslos-experimenteller Musik fusst. Gemeinsam mit Chino Amobi und Angel-Ho hat sie 2015 das Kollektiv NON Worldwide gegründet, das einem Teil der Diaspora des afrikanischen Kontinents eine künstlerische Heimat bietet. Das folgende Interview wurde ursprünglich 2018 für das Magazin zweikommasieben geführt, im Rahmen der Veröffentlichung von Nksis Debütalbum 7 Directions. Vor Nkisis Auftritt bei der nächsten Graveyard Shift am 21. Dezember veröffentlichen wir es hier erneut. Es geht um historische afrikanische Konzepte von Zeit, Gemeinschaft und das merkwürdige Gefühl der Heimkehr nach 30 Jahren im Ausland.
erschienen am 30. November 2023
Es ist Anfang September im Jahr 2018 und die Jahreszeiten befinden sich in einem warmen Status des Dazwischens. Conor McTernan ist auf dem Weg von Hackney nach Forest Hill, einer belaubten Vorortoase tief im Süden Londons, um Melika Ngombe Kolongo zu treffen. Die im Kongo geborene, in Belgien aufgewachsene und nun in London lebende Musikerin, die unter dem Namen Nkisi bekannt ist, hat sich eine Reputation erarbeitet, die auf kompromisslos-experimenteller Musik fusst.
Kolongo hat das Reiseziel des Nachmittags ausgewählt: das Horniman Museum, ein Kuriositätenkabinett spezialisiert auf Anthropologie, Naturgeschichte und musikalische Instrumente. Die Idee war, eine echte Nkisi-Statue zu sehen, welche angeblich die Tiefen der überladenen Galerien des Museums ihr Zuhause nennt. Doch die Statue ist, nach Inspektion hunderter Artefakte, nirgendwo zu finden. Die Enttäuschung ist jedoch nicht allzu gross, denn das Horniman ist – mit seinen ausufernden Gärten, einem Aquarium und Schmetterlingsgehegen – auch so einen Besucht wert.
Nachdem McTernan und Kolongo eine Weile durch das Museum geschlendert sind, ziehen sie sich auf die schattige Terrasse des Innenhofs für ein Gespräch zurück.
Conor McTernan: Mit deinem Alias beziehst du dich auf die Nkisi-Statuen; könntest du mir eine Einführung geben?
Melika Ngombe Kolongo: Nkisi haben mich schon immer fasziniert. Das sind spezielle Skulpturen, die als rituelle Objekte im präkolonialen Königreich Kongo verwendet wurden. Was ich besonders schön finde, ist die Idee, dass die Nkisi in der Lage sind, in unsere Welt zu blicken und wir durch sie in die Unterwelt schauen können. Das ist auch der Grund, warum die Figuren oft verspiegelte Augen und Bäuche haben, die aktiviert werden können. Ich besitze auch eine Statue, die ich auf einem Markt in Kinshasa gekauft habe.
CMT: Wo würde man diesen Statuen im Kongo vor allem begegnen?
MNK: Die Statuen wären im Besitz von denen gewesen, die sie zu benutzen wussten. Die sogenannten Ngangas, die sowas wie Schamanen waren. Ich denke, all die Nkisi sind aus guten Gründen in Museen: Sie wurden einer Kultur genommen, die nicht mehr existiert. Die Statue, von der ich hoffte, sie heute hier im Horniman Museum zu sehen, ist wie ein zweiköpfiger Hund geformt.
CMT: Man sagt, dass spirituelle Entitäten sie bewohnen und durch die Statuen mit den Toten kommuniziert werden kann.
MNK: Genau. In meiner Dissertation habe ich über verschiedene Konzepte von Zeit und das Konzeptualisieren kongolesischer Kultur geschrieben. Es gibt ein Buch über afrikanische Religionen und Philosophien, das zwei Konzepte von Zeit beschreibt: Sasa (die Gegenwart) und Zemani (die Vergangenheit). In diesem afrikanischen Konzept ist die Zukunft nicht etwas weit entferntes, sondern eher ein Teil der Gegenwart. Und die Gegenwart ist Teil der nahen Vergangenheit. Es ist ein nichtlinearer Ansatz, der als «der Friedhof der Zeit» beschrieben wird; das gefällt mir sehr. Man geht zurück, bevor man nach vorn schreitet und man kann die Vergangenheit nicht von der Gegenwart abkoppeln. Ich finde den Gedanken wunderbar, mehr Einfluss auf die Gegenwart zu haben, um so die Zukunft zu sehen und zu verändern, weil die Zukunft nicht weit entfernt ist.
CMT: Würdest du dich als spirituelle Person beschreiben?
MNK: Auf jeden Fall. Je tiefer ich gehe, desto spiritueller werde ich, auch im Prozess. Ich stelle Fragen und bekomme Antworten, und ich weiss nicht, woher sie kommen.
CMT: Kannst du dafür ein Beispiel nennen?
MNK: Meine Familie musste wegen der politischen Situation aus dem Kongo nach Leuven in Belgien fliehen, als ich ungefähr acht Monate alt war. Im Alter von 30 Jahren bin ich mit meiner Mutter das erste Mal zurückgekehrt. Ich kam aus dem Flugzeug, roch zum ersten Mal die Luft und die Worte «Ich bin zu Hause!» kamen einfach aus meinem Mund. Ich habe auch einige DJ-Sets gespielt, als ich in Kinshasa war.
CMT: Was ist mit 7 Directions?
MNK: In meiner Arbeit haben mich unterschiedliche Denksysteme schon immer interessiert. 7 Directions ist von einem kongolesischen Buch inspiriert: African Cosmology of the Bantu-Kongo geschrieben von Kimbwandende Kia Bunseki Fu-Kiau. In dem Buch gibt es die Idee des «seven-direction walk»: man kann sich auf einer horizontalen und einer vertikalen Ebene bewegen. Die horizontale Ebene besteht aus vorwärts, rückwärts, links und rechts; und die vertikale aus oben, unten und innen. Nach innen kann man gehen, um sich zu regenerieren. Die Richtung bezieht sich auf die Art und Weise, wie man mit seiner Spiritualität, Selbstkenntnis und Selbstheilung umgeht. Die kongolesische Sicht ist sehr gemeinschaftlich. Es gibt dieses wunderschöne Konzept, das davon handelt, was es bedeutet, ein Individuum in einer Gruppe zu sein. Wenn man sich als Individuum nicht gut fühlt, dann ist das ebenfalls nicht gut für die Gruppe. Auf den sieben Stücken des Albums habe ich versucht die sieben Richtungen zu rhythmisieren. Ich fand es sehr interessant, altertümliche und futuristische Konzepte miteinander zu verknüpfen. Ausserdem bin ich von Rhythmus besessen – ich habe mit meinen Freunden in letzter Zeit nur über Rhythmus und Babys gesprochen. [Lacht]
CMT: Kannst du mir etwas über deine musikalische Sozialisierung erzählen?
MNK: Zuhause wurde oft kongolesische Musik gespielt. Ich spüre eine seltsame Verbindung mit dem kongolesischen Gitarrenriff – der macht mich immer glücklich. Und Kongolesen lieben kongolesische Rumba – als ich in Kinshasa war, hörte man sie überall.
CMT: Wann hast du angefangen, selber Musik zu machen?
MNK: In meinem Leben geschehen Dinge auf bizarre Art und Weise. Vor einigen Jahren ist mein Computer abgestürzt, und ich habe all meine Dateien verloren. Dann habe ich Audiotool entdeckt, ein Programm, mit dem man online Musik produzieren kann. Drumcomputer und andere Hardware habe ich 2013, als ich nach London zog, angefangen zu benutzen. Meine akustische Identität zu der Zeit hat sich gut angefühlt und ich begann, das Material zu schreiben, das auf Doomcore Records erschien [16, veröffentlicht 2014 und 21, veröffentlicht 2015.] Eins führte zum anderen.
CMT: Würdest du sagen, dass du schnell produzierst?
MNK: Das kommt darauf an. Ich erinnere mich noch daran, wie schnell ich das Stück «Afro Primitv» [2018 erschienen auf der Compilation NON Worldwide Compilation Trilogy Volume 2] produzierte. An jenem Tag war ich unglaublich sauer und plötzlich war es fertig. Das ist schon interessant in der Musik, manchmal jammt man einfach tagelang. Viele Stücke schwirren bei mir in der Luft herum – und meist geht es nur darum, sie dann auch einzufangen.
CMT: Du hast früher auch als Fotografin gearbeitet. Welche Art des Fotografierens reizt dich besonders?
MNK: Als ich anfing, reizten mich besonders die Dokumentarfotografie und der Fotojournalismus. Ich realisierte, wie viel Macht ein Bild haben kann. Das hat etwas von Gehirnwäsche. Das führte mich zu einer kritischeren Auseinandersetzung mit Fotografie und meine Arbeit wurde deutlich konzeptioneller, indem ich mich selbst in den Bildern platzierte. Die Dynamik zwischen Wahrheit und Fiktion hat mich schon immer interessiert.
CMT: Kürzlich hast du auch kuratorisch gearbeitet, für das Opaque Poetics Festival 2017 vom Wysing Arts Centre. Wie gefiel dir der Prozess?
MNK: Ich war sehr glücklich damit. Ich habe dem Festival eine Liste verschiedener Künstlerinnen und Leute gegeben, deren Arbeit ich schätze und war sehr involviert im weiteren Verlauf des Festivals. Ich würde liebend gerne häufiger kuratorisch arbeiten. Und während des Festivals passte irgendwie alles – das Wetter, die Umgebung: ein Häuschen mitten im nirgendwo bei London. Es fühlte sich wie ein Rückzugsort an.
CMT: Lass uns noch über NON Worldwide sprechen. Wie kamst du mit Angel-Ho und Chino Amobi in Kontakt?
MNK: Mit Chino war ich zuerst in Kontakt; durch eine Party namens Endless, auf der wir gemeinsam mit Elysia Crampton im Dezember 2014 spielten. Er meldete sich danach bei mir. Angel lernte ich zuerst via Facebook kennen und dann auf dem Unsound. Zu dritt trafen wir uns das erste Mal während eines Gigs im Paradiso in Amsterdam.
CMT: Wie läuft die Kommunikation zwischen euch ab, wie teilt ihr Ideen und wie trefft ihr Entscheidungen?
MNK: Der Anfang von NON war vor allem durch Gespräche geprägt. Jetzt sind alle sehr beschäftigt und wir reden nicht mehr so viel, aber der Austausch vom Anfang reicht eigentlich auch für die nächsten fünf Jahre! Wichtig ist uns vor allem der gegenseitige Respekt für all unsere Ideen.
CMT: Ein Hauptanliegen von NON ist die Disruption bestehender Machtstrukturen. Was ist deine Meinung zum momentanen Zustand der Szene für elektronische Musik?
MNK: Die Frage ist für mich schwer zu beantworten. Ich weiss, was in meiner Umgebung passiert und bin unglaublich froh über die Bereitschaft zum Diskurs, denn der Kontext, in dem ich meine Musik verorte, ist für mich sehr wichtig. Mit diesem Wissen bin ich nicht besonders besorgt über das, was in der Szene für elektronische Musik passiert. Viel eher beschäftigt mich, was in der Welt passiert. Mich hat es wahnsinnig sauer gemacht, dass vor einigen Tagen 15 Minuten entfernt von meiner Heimatstadt ein 15-jähriger Junge aus rassistischen Gründen auf die Bahngleise geschubst wurde. Ich möchte nicht das Klischee bedienen, dass «Musik die Welt verändern kann», aber wir sind immer bereit, Menschen eine Plattform zu geben.
Was mich glücklich macht, ist die Tatsache, dass wir mit der letzten NON-Compilation mehrere tausend Pfund gesammelt haben und meine Mutter in ein paar Wochen mit dem Geld in den Kongo reist, um damit eine Schule zu unterstützen. Die Familien dort haben nicht die Mittel, ihren Kindern Bildung zu ermöglichen, deswegen machen bereits solche kleinen Beträge einen riesigen Unterschied. Aus Möglichkeiten entstehen Optionen – und wenn man Optionen hat, hat man die Macht zu handeln.