Gemeinschaft denken
Ein Gespräch mit Leonie Böhm
Mit nur 17 Jahren bricht Johanna auf, um eine schon verloren geglaubte Welt wieder ins Lot zu bringen. Ihre Reise endet auf dem Scheiterhaufen, hunderte Jahre später wird sie wiederum heiliggesprochen. Seitdem wird ihr Mythos politisch aufgeladen: als Ikone eines mutigen Idealismus, als Beispiel für einen fatalen Fanatismus oder als heilbringende Heldin. Immer wieder dient sie dabei als Bild für all jene jungen Frauen, die scheinbar im Alleingang den Status Quo herausfordern.
In Schillers «romantischer Tragödie» führt Johanna das französische Heer gegen England durch ihren festen Glauben – und mit Gewalt – schliesslich zum Sieg. Während bei Schiller Johanna ihr Handeln mit Gott legitimiert, sieht Leonie Böhm hinter dem Mythos Johanna einen Menschen, der sich zwischen Ohnmacht und Allmacht, Zweifel und Wunder, eigenen Visionen und fremden Projektionen ständig transformiert, immer auf der Suche nach Haltung und in der unendlichen Hoffnung auf Veränderung.
Im Gespräch mit Helena Eckert stellt Leonie Böhm ihren Zugang zum sogenannten Kanon dar, wie sich die Inszenierung von Johanna, die nun in Zürich zu sehen ist, von der ursprünglichen in Hamburg unterscheidet, und was die Regisseurin unter utopischem Theater versteht.
Das nachfolgende Gespräch fand ursprünglich im Dezember 2022 im Rahmen der Hamburg Premiere von Johanna statt. Es wurde für das digitale Programmheft vom Schauspielhaus Zürich ergänzt. Das gesamte digitale Programmheft findet sich hier.
erschienen am 31. Oktober 2023
HELENA ECKERT Mit deinen Arbeiten begibst du dich immer wieder in die komplexen Narrative von Theaterklassikern und untersuchst sie auf die in ihnen wohnenden Gedanken und Gefühle. Dabei wird viel Text gestrichen. Und dies tust du mit Stücken, die schon unzählige Male gespielt wurden. In Zürich zum Beispiel hast Du Dich mit Leonce und Lena beschäftigt, mit Medea und Drei Schwestern. Was interessiert dich an den Texten? Und braucht es für diese Herangehensweise immer einen Bezug zum «klassischen Kanon»?
LEONIE BÖHM Mit meinen Stücken versuche ich, Gespräche, Gefühle und Gedanken auszulösen, die uns ermutigen, Gemeinschaften zu denken und auch auf der Bühne zu erleben, die gewaltfrei und gerecht miteinander funktionieren. Um mit Theater darüber zu erzählen und etwas herauszufinden, eignen sich die kanonischen Theaterstoffe besonders gut, weil sie bekannt sind und bereits viel Rezeptionsgeschichte mit sich bringen. In all den Zeiten, in denen sie gespielt wurden, haben sie durch ihre Inszenierung gesellschaftliche Entwicklungen und Wandlungen reflektiert und vielleicht auch geprägt. Wenn das Publikum schon eine Erfahrung mit dem Stoff, dem Mythos oder der Figur gemacht hat, dann hilft dieses Wissen und auch die daraus erwachsene Erwartung unserem Vorhaben: den Stoff in die Gegenwart zu ziehen, ihn im Hier und Jetzt auf der Bühne entstehen zu lassen und komplexe Narrative zugunsten einer unmittelbaren Begegnung erst einmal zu streichen.
HE Und reizen dich zeitgenössische Stoffe, die genau dies schon mit sich bringen?
LB Zeitgenössische Stoffe haben diesen Schritt oft schon getan, ja, aber für mich und für unseren gemeinsamen Prozess ist der Transfer in die Gegenwart, das Wissen um die Rezeptionsgeschichte des Stoffes, und die Suche nach den hinter den Handlungen versteckten Mustern und Emotionen der Figuren ein wichtiger Schritt. Diese Auseinandersetzung ist für das gesamte Team wichtig und kann nicht übersprungen werden. Für diese Herangehensweise braucht es natürlich auch die grösstmögliche Freiheit im Umgang mit dem Text. Am Ende bleiben immer nur ein paar wenige Seiten Originaltext übrig, die wir gemeinsam mit Maja Beckmann, Josefine Israel und Wiebke Mollenhauer neu zusammensetzen. Gemischt mit Raum für Improvisationen der Spieler*innen, ergeben sie dann den Stücktext. Die Eigenständigkeit des Textes im Wissen und in den Köpfen der Zuschauenden, des Theaterbetriebs oder der Gesellschaft insgesamt ist für mich wichtig und bei klassischen Texten eher gegeben. Wenn aber ein zeitgenössischer Text die emanzipatorische Kraft, nach der ich mit Theater suche, schon mit sich bringt, sodass es dann nicht darum gehen müsste, zum Beispiel den Stoff zu erzählen oder dem Narrativ gerecht zu werden, sondern darum, ihn als eine ermutigende Sprache benutzen zu können, fände ich das auch sehr spannend. Wenn der Text bereits von sich aus das leistet oder sogar mehr leisten würde als die Klassiker, bzw. als das, was ich mit den Klassikern versuche – nämlich das emotional transformative Potential aus ihnen herauszukehren.
HE Im Februar hast du nun mit Blutstück nach dem Roman Blutbuch von Kim de L’Horizon in Zürich Premiere.
LB Kim de L’Horizon gelingt in Blutbuch ein von Tabus befreiter, offener Dialog eines Ichs, dessen Innenwelt sich so persönlich an uns wendet, dass ich gezwungen bin mich mit meinen eigenen Schamgrenzen und Ängsten auseinanderzusetzen. Zudem ermöglicht die Zusammenarbeit mit Kim einen ähnlich freien Umgang mit dem Text, wie bei den Klassikern.
HE Bei der historischen Johanna von Orleans ist das politische Geschehen ihrer Zeit ein wichtiger Antrieb. Sie versucht einen Krieg zu gewinnen, an dessen Ende selbst der Machtinhaber, der künftige König, nicht mehr glaubt. Auch heute herrscht ein akutes Katastrophenbewusstsein. Zahlreich sind die Proteste gegen die multiplen Krisen unserer Zeit, die alle zusammenhängen und an deren Spitze die Klimakrise steht. Dennoch bezweifeln immer mehr, dass das Ruder noch herumzureissen ist.
LB Mich faszinieren an Johanna die Entschlossenheit und die Konsequenz, mit der sie versucht, den Wunsch der anderen, den Krieg gegen England zu gewinnen, zu verwirklichen. Für mich stellte sich die Frage: Welche Hoffnungen haben wir schon aufgegeben? Und für was kann Johanna bei uns also kämpfen? Wir sind aufgewachsen im Bewusstsein, dass der Weg der Gewalt kein Weg ist, die Probleme der Gegenwart nachhaltig zu lösen. Und auch der Gerechtigkeitsbegriff hat sich sehr verändert. Johanna ist im Glauben an eine französische Monarchie aufgewachsen, für sie ist klar, wer der Feind ist und wen es zu beschützen gilt. Dementsprechend muss Frankreich den Krieg gegen England gewinnen. Das Dilemma unserer Gegenwart ist dagegen, dass wir wissen: Wir sind mitverantwortlich für die Bedrohungen, in denen wir leben. Das erzeugt eine viel grössere Dringlichkeit der Frage, wie wir uns überhaupt so handlungsfähig machen können, dass wir unserem Handeln glauben können und dass unser Handeln eine Welt erzeugen kann, die für uns selbst und alle anderen ein sicherer Ort ist. Wie löst man diese Dilemmata? Wie kann man wieder ins Handeln kommen, ohne dass unser Handeln unentwegt neue Gewalt erzeugt?
HE Johanna von Orleans führt zwar ein ganzes Heer an, am Ende steht sie jedoch ziemlich alleine da. An diesem Abend sind mit den Schauspielerinnen Josefine Israel, Maja Beckmann und Wiebke Mollenhauer nun gleich drei Johannas auf der Bühne.
LB Ich finde Schillers Johanna unglaublich zeitgenössisch. Auch heute begegnen mir ständig Menschen, insbesondere Frauen, die fast wie im Alleingang versuchen, übermenschliche Kräfte zu entwickeln. Manchmal verausgaben sie sich jedoch in dem Versuch, Probleme eines patriarchalen Systems auszubaden, in dem sie selbst weder verstanden werden, noch geborgen sind. Sie investieren trotzdem rückhaltlos ihre ganze Energie und Kraft in Verhältnisse, an denen sie dann eigentlich zugrunde gehen. Sie haben ihre Kraft einem gesellschaftlichen Anliegen überantwortet, das sie nicht mitdenkt. Und ich habe mich gefragt, ob man mit Theater diesen Mechanismus zeigen soll, also dieses sich zum Werkzeug machen für ein System, das einen zerstört und alleine zurücklässt. Ich empfinde diesen Widerspruch als von Grund auf nachvollziehbar und realistisch und kenne ihn auch von mir. Gleichzeitig suche ich aber mit der Theaterarbeit nach einer Utopie – und die finde ich im Miteinander, auch wenn es noch so kleine zwischenmenschliche Gesten sind. Dann rückt das System, für das man sich verausgabt, wieder in den Hintergrund. Es geht vielmehr darum, wie viel man von diesem Programm womöglich internalisiert hat. Und, in einem zweiten Schritt, wie man – vielleicht antiintuitiv handeln kann, um das System zu überwinden oder den eigenen Glaubenssatz zu überprüfen und zu transformieren. Je komplexer die Probleme sind, desto weniger wird eine einzelne Person in der Lage sein, sie zu lösen.
HE Kannst du das antiintuitive Handeln etwas beschreiben?
LB Mich interessiert, wie man aus einem Moment der Lähmung, Orientierungslosigkeit oder Destruktion immer wieder ins Handeln kommt. Antiintuitives Handeln ist für mich, dass man eben etwas tut, wozu man sich überwindet. Wie zum Beispiel sich zu zeigen in Momenten, in denen man sich vielleicht auch selber nicht mehr kennt; Dinge zu tun, die einem peinlich sind, vor denen man Angst hat. Um den eigenen Handlungsradius zu erweitern. Etwas Neues über sich kennenzulernen, das ist ein intimer Moment, das finde ich extrem spannend und es kann auch total komisch sein und Lust machen. Es entsteht Transformation oder zumindest Bewegung in Verhärtungen – sowohl im Verhalten als auch im Fühlen und im Denken. Anders als im Original, in dem Johanna antritt, um eine bedrohte Ordnung aufrechtzuerhalten, erkunden wir die Möglichkeit des Veränderns. Bei Schiller sind das System und Johannas Kraft vielleicht mehr voneinander getrennt. Bei uns hat Johanna das beschriebene Dilemma verinnerlicht. Sie ist selbst Teil ihres Feindbildes, bzw. dieses ist nicht mehr so klar als «die Anderen» auszumachen. Sie ist Teil des Umfeldes, gegen das sie sich emanzipieren und ermächtigen will. Und die Frage, wie das ausgeht, ob sie gegen sich – sozusagen – gewinnt oder verliert, die Multiperspektivität, die durch diese Frage entsteht, können wir mit den drei Spielerinnen untersuchen, die jeweils einen eigenen Blick auf sich als eine Figur Johannas entwickeln. Interessant bei Johanna ist, dass sie einerseits eine historische Person ist und eben eine fiktive Figur in Schillers Stück. Josefine, Maja und Wiebke versuchen sich diesem Konstrukt, dieser Ikone, dieser Figur, diesem Menschen aus unterschiedlichen Perspektiven anzunähern und somit eben auch etwas über ihre Vielschichtigkeit herauszufinden. Alle drei haben Johannas entwickelt, die in ganz unterschiedlicher Art und Weise auf Bedrohung und Unsicherheit reagieren: Mit Drang zum Handeln, der Suche nach Sicherheit in der Gemeinschaft oder dem Rückzug, weil man sich auf nichts mehr verlassen will. Diese drei Reaktionsmuster müssen überhaupt erstmal in die Sichtbarkeit kommen.
HE In Zürich wird nun Vincent Basse an manchen Vorstellungen die Johanna spielen, die Josefine Israel entwickelt hat.
LB In den Proben für die Zürich Premiere haben wir versucht eine Adaption zu entwickeln, die sich, ausgehend von Josefines Israels «Johanna» und den Gedanken, die wir gemeinsam in den Proben herausgearbeitet haben, mit den Ideen von Vincent verbindet. Und Vincent durch seine Einfälle und Gedanken zu dieser Position, sein Potential und all dem, was er mit in die Gruppe bringt, in kurzer Zeit den Abend auch ein Stück weit mitentwickelt.
HE Und auch die Bühne hat sich stark verändert. Das Stück wurde im Malersaal im Schauspielhaus Hamburg gespielt, vergleichbar mit der Box hier in Zürich. Was bedeutet der Umzug in den Pfauen, auf eine klassische Guckkastenbühne?
LB Durch den Umzug auf die Guckkastenbühne findet eine Bedeutungsverschiebung innerhalb des Stückes statt. Aspekte werden hervorgehoben, die im Malersaal eine andere Gewichtung hatten. Das Theaterportal unterstreicht die Frage: Was heisst es, Johanna zu spielen, Johanna zu werden auf dieser Bühne? Die Potenz und die Kraft, die Fähigkeiten von Johanna zu entwickeln, wie es vielleicht auch schon andere auf andere Weise auf dieser Bühne probiert haben? Es ist weniger ein eher performatives Miteinander mit dem Publikum, sondern die Trennung zwischen Bühne und Publikum wird verstärkt. Dadurch wird der Schritt auf die Bühne vor das Publikum, der Schritt Johanna zu werden, markiert. Als ob man auf einen Sockel steigt und untersucht wie es ist, dort zu stehen. Immer auch im Abgleich mit den Bildern, die wir von der Ikone haben.
HE Bei all dem verstehen wollen, wer der Mensch Johanna vielleicht war – Was ist für dich das «Wunder» in Johanna?
LB Für mich ist das Wunder der Zeitpunkt des Losgehens, dass Johanna aufbricht. Und ich selber suche mit den Spielerinnen nach einem gemeinschaftlichen Losgehen. Können wir, durch Johannas Kraft inspiriert, selbst zu Johanna werden, Verantwortung übernehmen, an grosse Ziele glauben? Unsere ganze Kraft einsetzen für etwas, was uns eigentlich unmöglich erscheint? Wir haben alle extreme Kräfte, wenn wir wollen. Und wir sind alle bereit, diese immer wieder in den Dienst eines grossen Ganzen zu stellen – mit dem Bewusstsein, dass es nur vorübergehend ist und dass wir alle das tun und uns darin abwechseln. Das ist eine «Johanna Inspiration», die ich am liebsten für mein Leben aus dem Stück mitnehmen würde.