Durch den Filter der Biografie -
ein Gespräch mit Mounir Margoum und Thierry Raynaud
Mit den beiden französischen Schauspielern Mounir Margoum und Thierry Raynaud hat Nicolas Stemann am Théâtre de Vidy in Lausanne die Inszenierung Contre-enquêtes erarbeitet, in der Argumente in Sekundenschnelle die Seiten wechseln und Theater zum überraschend brauchbaren Mittel wird, um Zusammenhänge in Vergangenheit und Gegenwart zu begreifen: einer hält Albert Camus’ Der Fremde in der Hand, der andere die Überschreibung des Fremden von dem algerischen Schriftsteller Kamel Daoud: Der Fall Meursault. Diese spiegelbildliche Situation ist der Ausgangspunkt für einen leichtfüssig daherkommenden Theaterabend, der die komplizierten Verflechtungen zwischen ehemaligen Kolonisierten und ihren einstigen Kolonialherren, zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden, zwischen schwer Beleidigten und den (unabsichtlich?) Verletzenden in Szene setzt.
Giorgio Dridi, der Autor dieses Interviews mit den beiden Schauspielern von Contre-enquêtes, ist Teil vom Theaterjahr: jährlich erhalten fünf junge Menschen die Möglichkeit, während einer ganzen Spielzeit Teil des Schauspielhaus Zürich zu sein. Für zwölf Monate gehören sie zum Team der Künstlerischen Vermittlung Theater & Schule und können zusätzlich in den Bereichen der Regie, Dramaturgie, Projektplanung und Öffentlichkeitsarbeit mitarbeiten.
von Giorgio Dridi
erschienen am 23. Januar 2023
Giorgio Dridi: Ihr habt euch bei Contre-enquêtes mit postkolonialen Themen beschäftigt, die euch persönlich sehr vertraut sind. Was hat euch bei den Proben dennoch überrascht?
Mounir Margoum: Ich habe bereits bei anderen Gelegenheiten mit Nicolas Stemann gearbeitet, daher war ich vom Arbeitsprozess nicht überrascht. Er arbeitet viel mit Improvisationen, und nach und nach gelingt es ihm, persönliche Elemente einzubauen. Was mich überrascht hat, war die Tatsache, dass Catherine Camus, die Tochter von Albert Camus, an einem bestimmten Punkt die Rechte verweigert hat, und dann unser Umgang damit, die Cleverness, mit der wir schliesslich diese Problematik in das Projekt einbauen konnten.
Thierry Raynaud: Die Tatsache, dass wir die beiden Bücher Der Fall Meursault und Der Fremde auf sehr radikale, fast pleonastische Weise gegenüberstellen. Mounir der Unterdrückte, ich der Kolonialist. Ein ganzer Teil der Proben stand unter dieser archetypischen Achse. Und erst danach und auch mit Hilfe von Catherine Camus wurden die Dinge verfeinert und komplexer.
Giorgio Dridi: In dem Stück streitet ihr euch darüber, wer das Recht hat, über dieses Thema zu sprechen. Wie habt ihr reagiert, als ihr erfahren habt, dass Nicolas Stemann, als deutscher Regisseur ein Stück über die französisch-arabische Kolonialgeschichte machen wollte?
Mounir Margoum: Es gibt Stücke, die in Frankreich gemacht wurden, über die Segregation in den USA oder die Uiguren in China. Für mich gibt es kein Problem mit der Internationalisierung eines Themas. Die*der Regisseur*in, unabhängig von ihrer*seiner Nationalität, nimmt sich einem Text an und lässt diesen aufführen. Es ist keine Frage der Nationalität. Die Frage stellte sich für uns in anderer Weise, weil wir eben auch persönlich mit dieser Geschichte konfrontiert sind. Aber eigentlich wollte Nicolas Stemann, als er uns auswählte, vor allem, dass ein Dialog zwischen uns entsteht, zwischen Frankreich und Algerien oder dem Westen und Algerien.
Thierry Raynaud: In Daouds Buch gibt es den Wunsch nach einer Wiederaneignung der Geschichte durch Meursault, um über die Geschichte Algeriens zu sprechen, das kolonialisierte Algerien, aber vor allem das heutige Algerien. Wo es sich als enorm schwierig gestaltet, sich von den Traumata zu befreien und das sich in weitere Konflikte (das schwarze Jahrzehnt) verstrickt hat. Ich denke, dass Stemann genau diese Konflikte angesprochen hat: Trauma, Schuld, Aufstieg und Unterwerfung.
Giorgio Dridi: Was ist besonders daran, ein Stück zu spielen, das mit der eigenen Biografie verbunden ist?
Mounir Margoum: Auch wenn ich Shakespeare spiele, spiele ich zu einem gewissen Grad meine eigene Biografie. Klar, hier geht es um Algerien und ich bin maghrebinischer Abstammung. Aber die Geschichte ist mir vor allem nahe als Person, weil es Elemente gibt, die mich persönlich betreffen, wie Rassismus, der westliche Blick, eine Form von Arabischsein. Diese Biografie gibt es. Was kommt danach? Es gibt dennoch eine gewisse Distanz, denn ich bin nicht die Figur, aber ich bringe Erfahrungen von mir ein. Aber diese Dinge, meine Gedanken, meine Gefühle, meine Emotionen, kann ich auch einbringen, wenn ich Antonius in Antonius und Kleopatra spiele. Ich würde also sagen, dass der Unterschied vielleicht eher in den Augen der anderen liegt als in meiner eigenen Interpretation. Die Aussenstehenden können sich vielleicht mehr vorstellen und sagen: «Ah ja, das betrifft ihn direkt.»
Thierry Raynaud: Ich nähere mich allen Werken über meine eigene Biografie. Der Text muss durch meinen Filter gehen, um vermittelt zu werden. Das «Ich», das nicht unbedingt das Ich des Autors ist, muss zu meinem «Ich» werden, das ist die Grundlage. Danach ist es nicht so schwierig, Episoden, die ich wirklich erlebt habe, in eine Aufführung einzufügen. Das ist es, was in einer Inszenierung verschiedene Schichten, Perspektiven schafft, die ich durchaus interessant finde.
Giorgio Dridi: Was musstet ihr mit Nicolas Stemann verhandeln?
Mounir Margoum: Nicht verhandeln, eher diskutieren. Wir haben viel über Passagen von Der Fall Meursault diskutiert, die wir in die Schranken weisen wollten. Denn schliesslich werden in Daouds Buch viele Themen angesprochen: einige haben mit der Religion zu tun, mit der Frau, mit der Beziehung zum «Anderen», mit Frankreich und Algerien. An einem bestimmten Punkt mussten wir uns sagen: Wir arbeiten jetzt am Stück, was ist aktuell am relevantesten? Worüber müssen wir sprechen? Und nach und nach wurde der Trichter, der eigentlich breit war, enger. Dieser etwas universelle Text ermöglichte es uns, über uns selbst zu sprechen. Letztendlich drehten sich die Diskussionen vor allem um die Frage, wie man bei all diesen Themen das Essentielle erzählt.
Thierry Raynaud: Es gab keine Verhandlungen im eigentlichen Sinne. Der Deal für Nicolas bestand, glaube ich, darin, uns allen Möglichkeiten zu öffnen, keine Angst vor unserer eigenen Karikatur zu haben und zu akzeptieren, dass sich verschiedene Schichten ablagern und überlagern. Mir ging es darum, ein Gefühl zu entwickeln, eine Wahrheit, die die Archetypen porös macht und sie ins Wanken bringt.
Giorgio Dridi: Wie hat sich die Arbeit mit deinem Partner entwickelt und wie hat sich das auf das Stück ausgewirkt?
Mounir Margoum: Nicolas liess uns zunächst improvisieren und alleine arbeiten. Wir haben uns dann auf der Bühne wieder getroffen, und es ist toll, dass wir diese Geschichte mit unterschiedlichen Ansichten gemeinsam tragen können.
Thierry Raynaud: Der Erfolg der Aufführung, und dass sie so aufrecht steht, liegt in dem Anspruch unseres gemeinsamen Zuhörens und unserer Fähigkeit, immer wieder auf den Vorschlag des anderen zurückzukommen. Und es ist sicher - und das ist auch das, was Nicolas zweifellos erschaffen und erwartet hat -, dass die Essenz dieser Aufführung genau darin besteht: uns zu treffen, uns zuzuhören, uns zu beschnuppern, jedes Mal von Neuem, wie eine Art Premiere.
Giorgio Dridi: Ihr seid mit diesem Stück auf Tournee. Glaubt ihr, dass das Gefühl, in Zürich zu spielen, anders sein wird als in Marseille oder Lausanne?
Mounir Margoum: Es muss anders sein. Aber ich glaube, dass die Themen in einem Theaterstück generell irgendwann über den Ort hinausgehen. Warum wird Richard III. immer noch gespielt? Warum wird das Stück in Japan gespielt?
In unserem Stück gibt es viele Themen: das Anderssein, die Begegnung mit dem Anderen, Dominanz, Dominierte und postkoloniale Ansprüche? Einige davon sind universell. Wie wird es in Zürich aufgenommen werden wird? Vielleicht können wir nach den Aufführungen antworten...
Thierry Raynaud: Ich habe keine Ahnung, wie das Projekt in Zürich aufgenommen werden wird. In Frankreich und insbesondere in Marseille, wo es eine grosse Bevölkerung von Algerier*innen und Pieds-Noirs gibt, aber auch grosse Verfechter*innen von Camus, dem Unberührbaren, waren die Debatten sehr schnell entbrannt und manchmal leidenschaftlich und sogar hitzig. Ich denke, dass die Frage, wer sich die Erzählung aneignet und wer legitimiert ist, sie zu tragen, hier besonders Gehör finden wird.