Der ganze Hintergrund
Ein fremdes Gestirn
(für Nicolas Stemann)
Die Autorin Elfriede Jelinek und den Regisseur Nicolas Stemann verbindet eine lange Arbeitsbeziehung. Zehn Stücke der Autorin hat Stemann bereits auf die Bühne(n) gebracht. Sonne, los jetzt! ist nach langer Zeit die erste Uraufführung eines Jelinek-Texts am Schauspielhaus Zürich. Und es schien nur eine Frage der Zeit, bis Jelinek sich dem Thema Klimawandel annehmen und uns gehörig die Leviten lesen würde. Das Irren und Wirren des Menschen in seiner Umwelt betrachtet sie dabei mit gehörigem Abstand, indem sie ihre Stimme der Sonne leiht. In einem fulminanten Monolog wirft sie ihr Licht auf die griechische Mythologie, auf Wittgenstein – und auf den Strand. Der nachfolgende Text ist Teil des Programmheftes der Inszenierung: in einem Mailwechsel gibt Jelinek Einblicke in ihren Arbeitsprozess und verwebt diese mit Gedanken über das Theater und die Lage der Welt.
erschienen am 17. Januar 2023
Von: Elfriede Jelinek
Datum: 26. November 2022 um 09:41:18 MEZ
An: Nicolas Stemann
Betreff: Aw: Bärtierchen
oh, wie schön, das ist wirklich ein nettes Tier. Würde ich sofort mit nach Hause nehmen. Hier ist der Text. Er ist fertig. Alles Liebe, e.
(der Text ist vielleicht etwas ungewohnt für mich, aber ich habe schon so viel gesagt... da darf ich auch mal was andres sagen)
Was sagt uns der gesunde Menschenverstand? Was er uns sagt, hören wir nicht, denn wir machen ohnedies, was wir wollen und nennen es dann meist gesund und glauben, dass fast alle Menschen so denken wie wir. Wittgenstein liest G. E. Moore, einen Philosophen des Common Sense, und dieser wieder sagt, er wisse, dass die Erde lange vor seiner Geburt existiert habe. Ich habe hier Wittgensteins letzte, lose Aufzeichnungen vor mir, die er nicht mehr ordnen konnte, dass all die Finger seiner Gedanken eine Hand ergeben hätten, aber auch mit der Hand selbst beschäftigt er sich. Nur wenn man überhaupt weiss, dass hier eine Hand ist und nicht ein paar Finger einfach so herumliegen, kann einem klar werden, dass etwas, das so und so scheint, nicht die Folgerung zulässt, dass es so IST. «Dass es mir – oder allen – so scheint, daraus folgt nicht, dass es nur so ist.» Die Frage ist dabei, ob man es sinnvoll bezweifeln kann. Eine Aussage über eine Person, und zwar, wenn es auch ausserdem eine Aussage über die physikalische Welt ist, kann getroffen werden, auch wenn man nie Personen trifft. Irgendwie ist man doch auch auf der Welt! Wenn man Personen für eine Bühne erschafft, die gar keine sind, sondern Aussagen über sie, und dieses «über sie» stimmt auch schon wieder nicht, denn was gesprochen wird, IST die Person, die aber wiederum keine ist, jedenfalls keine Entität, denn es ist nicht notwendigerweise eine Person, die am Theater spricht, dann, ja, dann sind diese Aussagen möglicherweise wahr, aber diese Personen sagen damit nicht aus, dass man sie auch verstanden hat. Oder dass es etwas zu verstehen gäbe. Bei mir nicht, liebe Personen! Ich jedenfalls will keine Personen erschaffen. Ich kann (Wittgenstein schreibt das Moore, dem Philosophen des gesunden Menschenverstands, zu) aufzählen, was man weiss (aber nicht notwendigerweise über eine Person). Wo bleibe da ich? Ich finde mich nicht wieder. Personen interessieren mich grundsätzlich nur wenig. Und das Wort «ich weiss» wird gemissbraucht, falls man einfach nur die Eigenschaften einer Person aufzählt. Jeder Geisteszustand, der da hereintritt und grüsst, ist wichtig und nötig. Aber nicht für mich.
Ich arbeite mit Nicolas Stemann schon sehr lange zusammen. Ich habe nie zusammengezählt, in wie vielen Stücken er mein Regisseur war (das «mein» ist schon mal falsch). Offenbar haben wir beide das gleiche Reservoir an Wissen angestochen, nicht gleich die Frage nach der Existenz der Erde, aber andre Fragen, die zu der Zeit, als die Stücke gezeigt wurden, dringlich waren, der zweite Irakkrieg, die Heimkehrer, wie man sie so schön nennt, die Veteranen, wie man sie korrekt nennt, mit ihrer ständig lauernden Gewaltbereitschaft, die man ihnen antrainiert hat («Babel»). Oder die österreichische Schwerindustrie, die ihren Ursprung in einem Verbrechen hatte, dem der Nazis mit ihren Fangaktionen in den von ihnen besetzten Gebieten. Noch heute profitieren wir von ihr, von der Staumauer von Kaprun, dem Pumpspeicherkraftwerk. Strom lässt uns erzittern davor, dass es irgendwann keinen mehr geben könnte, obwohl diese Mauer ja da steht und das Wasser fliesst und fleissig hochgestemmt wird. Wir sind in Hochstimmung, doch es ist die grösste Drohung, dass das einmal aufhören könnte. Aber solange es Wasser gibt, ist noch Hoffnung, weil man es auffangen kann, in einem riesigen Becken. Was da ist, kann man einfangen, einsperren und vernutzen. Aber solange es auch Menschen gibt, steht die Hoffnung auf wackligen Füssen, weil die Menschen, die gern von allem zu viel und dazu noch Nachschlag nehmen, das ganze Wasser austrinken oder verschwenden könnten, anstatt es sinnvoll für sich arbeiten zu lassen. Bis einmal keins mehr kommt. Kein Becken ist gross genug für die Tränen der dafür Ermordeten und Gequälten. Das Wort Energie wird niemals zu ihnen passen.
Meine Arbeiten sind meist Dokumentationen von Verbrechen (die Romane beschäftigen sich eher mit kleinen, Prosa braucht kleine Staumauern oder gar keine, das Theater ist Sprechen, und das ist uferlos, da muss die Mauer schon ordentlich halten, deswegen habe ich mich letztlich dafür entschieden, meine Darsteller ganz aus Sprechen herzustellen; sagen kann man alles, und ich tue das auch, ich nutze also das Sprechen), und Stemann hat darüber etwas auf die Bühne gesetzt, z. B. in Das Werk über das genannte Stauwerk, dessen Erzeugnisse uns zugutekommen, damit wir es hell und warm haben; Helligkeit und Wärme, Werke, die aus dem Dunkel kommen also, wie jedes Verbrechen, der Tag bringt es ans Licht, in meinem Fall der Abend im Theater, ja, Stemann hat da etwas auf die Bühne gesetzt, das ein Haufen sein könnte: Geld, Scheisse und: Das Wort, sagt Thomas Pynchon in Bezug auf alles, das es gibt, und alles, was zählt. Das grosse Verbrechen wird also gezeigt, ganz in meinem Sinn, ich habe es ja auftreten lassen, und wir verständigen uns ja oft ohne Worte, Nicolas und ich, obwohl es um ziemlich viele Worte geht. Stemann also hat, da man die gigantischen Dimensionen dieses Stauwerk-Verbrechens, das Zugrundegehen der Zwangsarbeiter, niemals auf die Bühne hätte bringen können, man könnte es nicht einmal versuchen, beinahe nicht einmal denken, er hat also einen echten Werkschor gefunden, der wirklich wunderschön gesungen hat. Als würde sich die Geschichte wie ein Turnbeutel am Hals zusammenziehen lassen. Oben wird gewürgt, im Sack wird geprügelt, doch es ertönt herrlicher Gesang, der das alles nicht zudeckt, sondern wie mit einem Zeigefinger (ja, der wird mir oft vorgeworfen!), so wie auf Gemälden die Hand Jesu auf das eigene blutende oder im letzten Triumph strahlende Herz zeigt, diese Untaten nicht zur Kenntlichkeit entstellt, nein, diese Wendung ist zu abgegriffen, sondern einfach aufzeigt, da wir ja alle in der Schule des Lebens verschämt oder selbstbewusst, als wüsste man mehr als andre, geschwiegen und uns vorm Aufzeigen gedrückt haben oder aufgesprungen sind und die Hand in die Luft gestossen haben: Bitte, Herr Lehrer, ich weiss was, aber bitte rufen Sie mich nicht auf, weil Sie doch gewiss glauben, ich weiss es eben nicht und tarne und täusche nur mit meiner erhobenen Hand! Sie wollen mich ja nur blossstellen! Jetzt sind wir also aufgerufen. Aber es ist nur Theater! Da spielen diejenigen, die es können. Bloss stellen müssen sie sich noch.
Nicolas Stemann ist ein Regisseur, der denken kann und will, und er kann die Dinge weiterdenken, so dass die Zuschauer wissen, was ich weiss (leider wenig, aber, wie es so schön selbstzufrieden heisst, ich weiss, was ich weiss!), ohne es eben genau zu wissen, denn ich habe zwar eine Menge Literatur dazu gelesen, aber ich habe das alles nicht selbst nachgeprüft. So wie ja auch Moore nicht die Entfernung gewisser Sterne untersucht hat und wir, die Genossen keiner Zeit, welche würde uns auch nehmen?, dann begierig drauf warten, dass es uns ganz genau so weitergesagt wird. Wie heisst es so schön? Inzwischen wissen wir mehr. Sind aber nicht klüger geworden.
Wittgenstein interessiert an dem von ihm zitierten Ausspruch Moores ein Fall, «in dem wir alle zu wissen scheinen, was er weiss, und ohne sagen zu können, wie.» Ich glaube, das trifft auch ein wenig auf meine Arbeitsmethode zu. Ich weiss nichts, vor allem weiss ich nicht, wie sehr dieses Nichts etwas ist und wie viel davon es gibt und was wir uns davon abschneiden können, damit man noch das Ganze dahinter ahnt. Aber dieser Regisseur bewirkt, dass wir es eben auch wirklich wissen, womöglich aus dunklen Quellen, die sich um jede Staumauer herumdrücken würden. Wir wissen, was er weiss, und genau dadurch wissen wir mehr, obwohl er es uns nicht ausdrücklich sagt.
Es ist nicht schwer, etwas zu wissen, das ich weiss, vieles hängt vom Zufall ab, wofür ich mich halt gerade interessiere, aber das Wissen selbst kann ich nur in kleinen Bissen zu mir nehmen. Dieser Regisseur schafft es aber, in diesen kleinen Bissen, z. B. einem Arbeiterchor, der, begeistert von sich, auf der Bühne auftritt und seine Lieder singt, den ganzen Hintergrund wie ein fremdes Gestirn hinter den Männern aufgehen zu lassen. Als wüsste ich, wovon ich spreche, als könnte es irgendjemand wissen, da es ja inzwischen alle wissen, also niemand es weiss. Die Aussage über die sprechende Person (Moore) und gleichzeitig die Aussage über die physikalische Welt fallen scheinbar in eins zusammen, auch weil die Menschen gern glauben möchten, jeder einzelne von ihnen wäre die ganze Welt. Doch was die Welt ihnen zu geben hat, ALLES, machen sie sofort wieder kaputt. Hinter den kleinen Erscheinungen auf einer Theaterbühne – und das ist die grosse Kunst dieses Regisseurs, der diese Kunst auf dem Fahrradgenerator des Nachdenkens erzeugt hat, die Energie, vielleicht werden wir das alle einmal so machen müssen, treten und strampeln, auch diejenigen, die sogenannte Vordenker sein wollen – lässt er eine Sache erscheinen: bei Wittgenstein in Bezug auf Moore nichts weniger als die Existenz der gesamten Erde. Und, wie Wittgenstein bewundernd fortfährt: Da Moore es weiss, «weiss ich’s auch».
Ich weiss nicht viel, aber dieses Wenige ist schon zu gross für mich, es geht nicht in mich hinein. Doch Stemann lässt es erscheinen, auch wenn es insgesamt klein erscheinen mag. Es ist immer da, auch nachdem die Schauspielerinnen und Schauspieler nach Hause gegangen sind. Sie haben eine Ahnung davon bekommen, dass dieses Zuhause, und wäre es nur eine kleine Wohnung, grösser sein kann als die ganze Bühne, die sie bevölkern müssen. Da gehört schon was dazu!, sagen wir, wenn wir uns über eine offensichtliche Gemeinheit oder Ungerechtigkeit aufregen, beim Zeitunglesen oder Fernsehen. Es gehört viel mehr dazu, dass Einer etwas weiss. Kenntnis der Geschichte zum Beispiel? Wittgenstein lässt, von Moores Schrift angeregt, Menschen im Angesicht stürzender Häuser (ob durch Abrissbirne oder Krieg) fragen: «Wie lange steht dieses Haus schon?» Aber von einem Berg hinunter oder auf einen hinauf fragt das keiner. Er ist zu gross. Er muss schon immer dagewesen sein. Die Erde soll ein Körper sein, der entstehen und vergehen kann? Um das beantwortet zu bekommen, müssen Sie sich leider hinter die Bühne begeben. Dort liegen die Reste herum, aus der sie gebastelt wurde. Schauen Sie sie genau an, dann glauben Sie es. Oder auch nicht. Diese Finger hier haben einmal einer Hand gehört, doch die Hand gehört wieder jemand anderem. Nicolas Stemann lässt die Antwort offen, das ist seine Spezialität, aber was er zeigt, das zeigt auf das Zeigen selbst und befragt das Fragen selbst. Das ist dann mehr, als ich mir selbst zutraue. Er fügt das meinem Text hinzu, er schafft diesen Hintergrund, der der eigentliche Vordergrund ist. Aber dort rennen schon andauernd diese Schauspieler herum und stören, obwohl man sie gar nicht sieht. Wenigstens müssen sie nicht ihre Hände suchen. Sie sind da, aber man sieht sie nicht. Weil sie etwas wissen, das uns (noch) unbekannt ist, auch mir, die das geschrieben hat, ja, und das müssen sie jetzt unbedingt loswerden.
Ludwig Wittgenstein: Über Gewissheit. On Certainty
Von: Nicolas Stemann
Datum: 27. November 2022 um 00:36:47 MEZ
An: Elfriede Jelinek
Betreff: Aw: Bärtierchen
Vielen Dank für diesen schönen Text, liebe Elfriede, was für eine Ehre!, den ich natürlich bei erster Lektüre nur halb verstehe – ich bin ja auf eine Art viel zu dumm für komplexe Texte, interessanterweise auch einer der Gründe, warum ich die dann gewissermassen in Theaterdummheit übersetzen kann (das kreiert diese interessanten Missverständnisse – aber das muss man auch erst mal aushalten können und wollen als Autorin), ich nehme an, das meinst du mit Moore vs. Wittgenstein, genau weiss ich es nicht… ich glaube, du machst dir keine Vorstellung davon, wie dumm ich bin, und dann spiel ich ein bisschen klug sein und finde irgendeine Dramaturgie und in dieser Spannung liegt der Grund, warum ich deine Texte immer wieder inszenieren kann. Ja, ok, Denken findet irgendwo statt, aber wo – ich finde das nach wie vor völlig rätselhaft, was da zwischen uns passiert, aber es ist immer wieder besonders. Wie gesagt: Ich fühle mich sehr geehrt und bin sehr dankbar für unsere Zusammenarbeit und deine Geduld, mit mir, mit dem Theater überhaupt, beruht vielleicht auf Gegenseitigkeit, in dem Fall: Glück gehabt. Was immer wir da tun.
Alles Liebe! Nicolas
Von: Elfriede Jelinek
Datum: 27. November 2022 um 07:45:31 MEZ
An: Nicolas Stemann
Betreff: Aw: Bärtierchen
dochdoch, ich mach mir schon eine Vorstellung davon, lieber Nicolas, denn auch ich bin eine Idiotin und verstehe nichts, gar nichts. Aber ich docke mich an anderen an, wie hier, und schau, wohin sie mich führen. Meist in die Irre. Also Fazit: Genau in unserer Idiotie passen wir sehr gut zusammen, durch Denken, das keins ist, sondern was andres. Keine Ahnung, was. Es denkt uns.
Alles Liebe der ganzen Familie, habt
einen schönen Sonntag! e.