Im Zwischenraum mit
Patrycia Ziolkowska und Alicia Aumüller

Dürre, Pest und Unfruchtbarkeit drohen Ödipus’ Königreich zu vernichten, und die Stadt ruft: «Wer ist schuld?». Sophokles' Ödipus Tyrann erzählt von einem Menschen der König sein will. Der auf der Suche nach Schuldigen für die epochale Krise sich selbst ausnimmt und so zum Tyrannen wird. Er wollte der Stadt Theben Klarheit bringen. Und hinterlässt ihr und seinen Töchtern Ismene und Antigone Zerstörung, Leid, Schmerz, tiefe Trauer. Und Wut. Über die Themen der Inszenierung sprechen die beiden Schauspieler*innen Patrycia Ziólkowska und Alicia Aumüller im Interview mit Bendix Fesefeldt und David Gees.


erschienen am 21. September 2022

David Gees: Ihr habt euch mit einem sehr bekannten Stoff befasst und hattet bestimmt auch davor schon Berührungspunkte damit. Was hat euch nun beim Proben überrascht?

Patrycia Ziólkovska: Das Stück ist ein Urstoff der Tragödie, ja des Theaters. Und es ist ein völlig anderer Vorgang, wenn man sich, so wie wir, nur zu zweit darin vertieft. Der Versuch ist, die Geschichte aus unterschiedlichsten Perspektiven zu beleuchten, wobei man Geschichte auch im Sinne des Aufeinander-Schichtens begreifen kann. Es beginnt wie ein Krimi, wahnsinnig präzise geschrieben, und kippt im Verlauf des Geschehens in das Drama, das sich im Inneren eines Menschen abspielt. Die Dinge werden scharfzüngig und glasklar ausgesprochen. Das eine passiert, und unausweichlich muss das Nächste folgen, ein Schritt bedingt den nächsten. Ödipus ist Detektiv und Gesuchter, Richter und Täter in einer Person.

Alicia Aumüller: Wenn man so einen grossen Stoff zu zweit in die Hand kriegt, ist man nicht nur für einen Aspekt oder einen Figurenstrang verantwortlich, sondern für alle Energien. Das ist eine grosse Chance. Wir sind wie Forscherinnen und haben das Bedürfnis, jeder Spur nachzugehen. Wer weiss was und wie viel? Eigentlich wissen alle, auch Ödipus. Es ist eine krasse Verdrängung, die kollektiv geleistet wird. Diese Verdrängung können wir von verschiedenen Perspektiven erforschen, wir sind nicht auf unsere Figur beschränkt.

DG: Ihr stellt die Frage nach der Verantwortung. Was bedeutet es für euch als Schauspielerinnen, auf die Bühne zu treten und sich einer Verantwortung anzunehmen, wenn gerade im Stück niemand verantwortlich sein will?

AA: Man könnte darüber nachdenken, ob das nicht die Urform des Theaters ist. Dass man Menschen auf der Bühne braucht, die Dinge durchexerzieren, die Dinge erleben, die man selber gerade nicht erleben kann. Wir verausgaben uns Katharsis-mässig, um kollektiv etwas Neues zu erfahren.

PZ: Ja, das Durchexerzieren hat etwas Rituelles. Wir nehmen als Spielerinnen verschiedene Positionen im Stück ein und vertreten unterschiedliche und auch gegensätzliche Interessen der jeweiligen Figuren. Im Kern jedoch steht der Mensch selbst. Was ist der Mensch bereit zu tun, um einer Wahrheit ins Gesicht zu sehen, um zu erkennen? Und auch das bedeutet, Verantwortung anzunehmen.

AA: Genau, es gibt unendlich viele Mechanismen, die wir uns angeeignet haben, um der Wahrheit auszuweichen und sie nicht wahrzuhaben zu müssen. Wie unpraktisch die Wahrheit doch auch einfach nur ist! Wir wissen es ja eigentlich alle, sei es die Klimakrise oder der Angriffskrieg in der Ukraine, aber ich bin unglaublich gut darin, alles auszublenden. Damit mache ich mich mitschuldig.

Bendix Fesefeldt: Die Frage nach Wissen ist sehr interessant. Sind wir wirklich alle schuldig oder sind wir doch unschuldig, weil wirs einfach nicht können. Kann man überhaupt über uns richten? Diese Fragen finde ich hochaktuell.

PZ: Das Paradoxe an diesem Stück ist: Wer hier handelt, macht sich schuldig, und wer nicht handelt, macht sich schuldig.

AA: Ich denke, dass wir uns unbedingt darum bemühen müssen, «zu wissen», sowohl kollektiv wie auch als einzelne Menschen. Ich finde, dass sich doch eher die Frage stellt, was dieses Wissen um Wahrheiten für Konsequenzen zur Folge hat. Bei Ödipus sind die Konsequenzen Selbstmord, Selbstverstümmelung, Verbannung und eine traumatisierte nächste Generation. Ich glaube, dass wir anfangen müssen, zu verzeihen. Ich frage mich, ob wir verzeihen können. Damit allein ist es auch nicht getan – ich weiss. Aber es braucht Mitgefühl, wir müssen einen Strich ziehen können und Ketten der Weitergabe und des transgenerationellen Aufrechterhaltens von Schuld durchbrechen.

PZ: Das sind eigentlich die grossen Themen in Ödipus: Schuld, Recht, Gerechtigkeit, Macht, Verantwortung, Schicksal, Hybris und Verzeihen.

AA: Und die Kinder dieser Tragödie sind wir alle.

PZ: Mir gefällt sehr, dass unser Abend diesen Gedanken als weitere Spur unter Spuren enthalten wird: Es sind auch Antigone und Ismen, die hier als die Töchter von Ödipus sprechen und sich ihrer Geschichte vergewissern – vielleicht, um sie hinter sich zu lassen?

DG: Die Figuren werden bei eurer Inszenierung von nur zwei Spielerinnen dargestellt. Aber ihr kennt ja alle Figuren und seid auch Expertinnen für jeweils einen Aspekt, den ihr auf der Bühne vertretet. Das ist auch das Besondere an Nicolas’ Arbeitsweise. Wie bereitet ihr euch darauf vor? Und wie haltet ihr aus, dass ihr auf die Probe kommt, ohne zu wissen, wer ihr seid?

PZ: Das ergibt sich während des Probenprozeses, beim gemeinsamen Denken über das Stück. Und diesem Gedankenstrom geben wir uns hin. Die Fassung erarbeiten wir zusammen und probieren die unterschiedlichen Versionen und Verteilungen aus. Jede getroffene Entscheidung hat natürlich Konsequenzen, und so kristallisiert sich mit der Zeit ein Gerüst heraus, Setzungen, mit denen wir jonglieren. Und dann kommt man an so neuralgische Punkte, wo etwas einrastet und die Spielerin Verantwortung übernimmt für die Figur. Da begibt man sich hinein, jedoch bleibt immer auch eine Art von Zwischenraum bestehen. Zwischen mir als Spielerin und der Figur. Ich kann also reingehen und für eine Weile vollkommen kongruent sein mit der Figur und ihrer Gedankenwelt, dies aber auch jederzeit sofort wieder auflösen.

BF: Könnt ihr diesen Zwischenraum beschreiben?

PZ: Da bin ich, die Spielerin, mit meiner Biografie und meiner Erfahrung, da ist meine Partnerin auf der Bühne, da ist unsere Realität miteinander im Hier und Jetzt. Und eng damit verknüpft sind der Text und die Gedankenräume, in die wir uns von dort aus begeben und ausprobieren. Unsere Instrumente sind Sprache, Körper, Raum. Wir suchen und finden, verwerfen wieder und stellen uns neue, andere Fragen. Wir haben die Lösung ja auch nicht einfach parat. Es ist ein lustvoller Findungsprozess, in dem wir als Spielerinnen autonom und eigenverantwortlich agieren. Und dieser Zwischenraum ist auch eine Art Insel, ein Heraustreten oder ein Atemholen.

AA: Mir ist diese Art zu arbeiten sehr nah. Ich mag es sehr, wenn ich erst mal in alle Richtungen losdenken und ausprobieren darf. Das öffnet für mich sehr viel. Ich finde es bereichernd, wenn verschiedene und oft auch kon-
träre Aspekte zugleich da sein dürfen. Insofern erlebe ich Nicolas’ Arbeit auch oft als Befreiung, auch wenn es bedeuten kann, dass man meist erst sehr spät zu endgültigen Entscheidungen oder einer fertigen Stückfassung gelangt.

BF: Macht es für euren Probenalltag einen Unterschied, dass keine männliche Person mit euch auf der Bühne steht?

AA: Ich erlebe jetzt mit dir, Patrycia, dass ich weniger um meinen Raum kämpfen muss. Ich habe weniger Angst, zu sprechen. Es mag absurd klingen, aber ich empfinde es für mich als Frau in einem durchmischten Raum oft immer noch als ungleich anstrengender, mit der gleichen Selbstverständlichkeit zu sprechen und gehört zu werden.

PZ: Ich glaube, dass wir auch einfach über andere Themen reden im Stück, als ich es mit männlichen Kollegen machen würde. Wenn Mann und Frau sich gegenüberstehen, wird Geschlecht zum Thema, zum Beispiel als ein ganz bestimmtes Spannungsverhältnis. Wenn ich etwa Ödipus spiele, fühle ich mich nicht als Frau, die vorgibt, einen Mann zu spielen. Die Frage des Geschlechts ist für mich an dieser Stelle irrelevant. Es zählen die Gedanken und dass diese hörbar werden. Und wir sehen einen Menschen, der jede*r von uns auch selbst sein könnte.