Der Fehler der Gesellschaft
Ende Oktober hatte die Inszenierung Before the Sky Falls von Christiane Jatahy Premiere im Pfauen. Die Regisseurin nimmt sich Shakespeares Klassiker Macbeth vor und zeigt von Macht trunkene Männer, die alles verschlingen, was schwach, feminin oder zerbrechlich wirkt… bis die Geister des Amazonas den Wald beschwören und zurückschlagen. Im Geleit der Philosophie der Yanomami, einer indigenen Gruppe aus dem Norden Brasiliens, lässt Jatahy das Orakel der Hexen Macbeth’ Schlaf betreten und den Regenwald auf die Bühne drängen. Am 30. Oktober war Davi Kopenawa von den Yanomami, gemeinsam mit seinem Sohn Dário, zu Gast in der Schweiz für seine politische Kampagnenarbeit und für ein Gespräch mit der Regisseurin Christiane Jatahy. Im Schauspielhaus Journal stellen wir die Aufnahme des Gesprächs zur Verfügung und präsentieren ausserdem die Erfahrungen von Davi und Dário Kopenawa, die das erste Mal ein westliches Theater besuchten, als kondensierten Erfahrungsbericht der Inszenierung Before the Sky Falls.
erschienen am 09. November 2021
Davi Kopenawa: Es war sehr interessant hier, in diesem Haus des Theaters, zu sehen, was andere, die auch den indigenen Kampf kämpfen, zeigen. Was für Aspekte sie betonen. Auch ich lerne immer dazu, denn wir alle haben nie ausgelernt. Es war lustig zu sehen, wie ihr die bösen, weissen Männer dargestellt habt. Wie sie betrunken sind, wie sie streiten, wie sie gierig sind nach Macht und Präsidenten und Könige sein wollen. Ich fand lustig, das einmal als Karikatur zu sehen. Und nicht nur in den Nachrichten. Diese Kultur des grenzenlosen Mehrwollens ist in den letzten Jahren immer noch mehr gewachsen und gewachsen. Es ist gut, dass ich das gesehen habe und es ist auch gut, dass ihr das sehen könnt. Wie schlecht das ist, wurde sehr gut dargestellt. Personen, die die Reichtümer der Erde benutzen wollen, um immer noch schlechter und noch schlechter zu werden. Das ist absurd. Sie wollen stehlen, was unter der Erde ist. Für uns Yanomami ist, was unter der Erde ist, heilig und es darf nicht berührt werden. Es gibt einen Grund, warum es dort ist und nicht an der Oberfläche. Der Bergbau zerstört die Mutter Erde. Das Stück hat das gut gezeigt. Es hat gezeigt, wie ein böser Mann versucht zu dominieren. Nicht nur seine Umgebung, nicht nur seine Umwelt, sondern auch sich selbst. Und er scheitert daran. Er will autoritär sein, er will Respekt, er will Macht, er will immer mehr. Und ich habe mit Freude gesehen wie Bolsonaro imitiert wurde auf der Bühne. Wie gezeigt wird, dass er alle schlecht behandelt: seine Kollegen, seine Freunde, seine Mitarbeiter, die Natur, die Menschen, die Kinder. Wie alle unter ihm leiden. Es ist nichts Ehrwürdiges daran, das zu wollen. Und eine so grosse Zerstörungskraft zu haben. Und ich habe gesehen, dass er nicht nur uns betrügt, sondern auch sich selbst. Ich habe ihn gesehen und ihr habt ihn gesehen und was dargestellt wird auf der Bühne, ist der Fehler der Gesellschaft. Der Fehler der Menschheit. Diese materialistische Mentalität. Man will ein Auto, man will Luxus, man will Reichtümer, Häuser. Man will andere Menschen kaufen und sie zerbiegen und zerdrücken. Und ich dachte: «Ein Mann will verantwortlich sein für das alles? Einer soll der Vertreter der ganzen Welt sein? Das kann ja nicht sein.» Wir kommen aus einem Volk das sehr stark leidet und ihr versteht das vielleicht nicht. Ihr leidet nicht so viel. Eure Generation. Eure Väter haben gelitten und eure Grossväter, aber ihr nicht so. Darum ist es wichtig, dass ihr seht, wie dieses Leiden aussieht. Dass ihr seht, welchen Schaden der weisse Mann aus der Stadt anrichtet.
Dário Kopenawa: Ich finde es faszinierend, was das Theater hier für euch ist. Es ist der Ort, wo Kultur gelebt wird. Wo man seine Herkunft und Rituale zelebriert. So hatte ich es mir vorgestellt. Aber dann habe ich gesehen, dass hier noch mehr passiert. Die Gegenüberstellung der weissen Mentalität mit der indigenen Mentalität ist immer eine schwierige Sache. Es kommt schnell zu Reibungen und man versucht, Schuld zu verteilen, und sich aus der Verantwortung zu nehmen, weil es alles zu schwer verdaulich und zu abstrakt ist. Und ich habe gesehen, dass Theater einen Raum bietet, wo diese Konfrontation auf einer anderen Eben stattfinden kann. Wo es nicht zu Streit kommen muss. Wo man nicht feige sein muss oder sich vor der Verantwortung drücken will. Es ist ein Ort, wo man gemeinsam lernen und träumen kann. Und lernen kann, eine bessere Welt zu machen. Ich habe gelernt, dass die Menschen hier im Theater Spiritualität erfahren können. Das hätte ich nicht erwartet. Und ich denke, es ist sehr wichtig für euch Weisse. Wir brauchen das nicht in dieser Form, wir leben Spiritualität anders in unserem Alltag und wir wissen schon vieles, was die weisse Gesellschaft anscheinend vergessen hat. Zum Beispiel, dass es wichtig ist, sich um Mutter Erde zu kümmern und dass es wichtig ist, das Wissen weiterzugeben und die Spiritualität. Aber dann habe ich gesehen: «Aha, hier im Theater sind die Weissen wirklich offen für solche Sachen.» Das ist ein Instrument, das wir unbedingt nutzen wollen. Denn wir brauchen die Zivilgesellschaften von allen Völkern und Ländern, damit sie mit uns kämpfen. Es hat mich wirklich glücklich gemacht, zu sehen, wie weit die Türen hier offenstehen. Und dass die Herzen und Köpfe geöffnet sind. Ich habe gesehen, dass das Theater ein Ort ist, an dem man gemeinsam Lösungen suchen kann – ohne zu streiten. Dass man Lösungen erkennen und sich eine bessere Zukunft vorstellen kann. Wir kämpfen für das Land, den Planeten, die Natur, die Atmosphäre. Wir leben den Umweltschutz. Es ist unsere Mission, die Natur und Mutter Erde zu verteidigen. Aber ich will, dass ihr alle auch mitkämpft. Und hier haben wir einen Raum gefunden, wo wir unsere Ideen und Erfahrungen teilen können. Wo wir zusammenkommen können. Ich habe gesehen, dass das im Theater möglich ist. Es gibt eine Teilmenge von den sich überschneidenden Kreisen der Stadtwelt und der indigenen Welt und alle können es erfahren: Künstler*innen, Jugendliche, Kinder, Frauen, Intellektuelle. Wir wollen alle an Bord haben, denn wir haben nur eine Welt. Obwohl wir sagen, wir kommen aus verschiedenen Welten, aber das stimmt nicht. Wir kommen aus der Einen Welt, die wir alle zusammen schützen sollen.