Alles kann - ein zaghafter Jubelschrei

Anina Steiner hat sich die Premiere von Nichts oder Null angesehen und einen Erfahrungsbericht über eine gute Stunde Abschlussprojekt des jetzigen Theaterjahrs geschrieben. Anina ist wiederum Teil des neuen Theaterjahrs, das zur Spielzeit 2021/22 beginnen wird. Der Abend mit ihren Vorgänger*innen spricht ihr aus der Seele und hat ihre Vorfreude auf zwölf Monate am Haus weiter geweckt.


von Anina Steiner
erschienen am 22. Juni 2021

Ich stehe etwas verloren im grossen Foyer des Schiffbaus und komme mir klein vor. Die drückende Hitze, die den ganzen Tag über geherrscht hatte, hat mich etwas schläfrig gemacht. Zum Glück kenne ich hier schon einige Leute, die sich das Stück auch anschauen kommen, so bin ich nicht ganz alleine da.

Das wartende Publikum wird um halb acht durch den Schiffbau geführt, vorbei an den offenen Türen der anderen Probebühnen, die mit allerlei geheimnisvollen und prunkvollen Requisiten und Kostümen gefüllt sind. Ankommen an der Probebühne 3. Ich setze mich in die Mitte der Tribüne und betrachte das Bühnenbild, das noch grösstenteils im Dunkeln liegt. Es sind mehrere Schiebegardinen, die bis fast an den Boden reichen. Fast wie Bäume hängen sie über die Bühne verteilt.

Dann betritt eine DJ ihr Pult am Bühnenrand und lässt schon bald elektronische Musik aus den Boxen schmettern. Während die DJ singt, taucht eine Frau auf einem Fahrrad auf. Sie fährt etwas ziellos, aber gekonnt durch den Vorhangwald, der jetzt, wo ich die ganze Bühne sehen kann, noch weiter als erwartet ist. Langsam gesellen sich die vier anderen Spielenden dazu und beginnen zu tanzen. Wenn sie so hinter diesen leinwandartigen Vorhängen stehen und sich zur Musik bewegen, sind sie kaum mehr als Silhouetten und Schatten.

Bald stoppt die Musik, man hört nur noch das Surren des Fahrrades und es beginnt ein erstes Gespräch. «Fühlsch di wohl?» Es scheint eine unerwartete Frage zu sein. Er sei das noch nie so gefragt worden. Etwas zögerlich und awkward führen die zwei jungen Spielenden das Gespräch fort: «Was ist das zwischen uns, um uns? Dieser Raum? Was kann passieren?» Das Fazit lautet: Alles kann. Die jungen Spielenden stehen am Anfang des Stücks, in einem Raum, der von ihnen gefüllt werden kann, darf, sollte. Ich frage mich, ob die Erwartung da ist, dass alles muss?

Nun sind sie alle auf dieser Bühne. Sie interagieren durch Choreografien, die auf die schönste Art improvisiert wirken, mal zärtlich und verspielt, dann in totaler Ekstase. Die Vorhänge werden über die Bühne hin und her geschoben, sie werden aufgerollt und wieder losgelassen, es wird hinter und vor ihnen getanzt.

Gebrochen wird diese Unbeschwertheit durch Monologe, die von der Unsicherheit erzählen, die das so gesuchte Gesehenwerden mit sich bringt, vom Fehler machen und dem Druck auf der Brust, der diesen Fehlern folgt, umgeben von tausend Gefühlen und null Orientierung. Ich finde mich in all diesen Schilderungen wieder. Ich denke daran, was für eine seltsame Zeit dieses Frisch-Erwachsensein ist. Genau diese Mischung, aus einer fast schon lähmenden Angst und dem Jubelschrei, nun endlich diesen Raum, diese Bühne bespielen zu können, zu machen, zu scheitern, zu suchen, den Raum füllen zu können mit allem und allen, die man findet.

Manchmal rollen die Spieler*innen einen Beamer in den Raum und projizieren Worte oder Videos auf die Wand und die Vorhänge. In einem Video wird eine Spielerin gefragt, wie sie sich in diesem Moment vor der Kamera fühlt und antwortet ehrlich. Sie sei nervös. Man sieht es ihr an. Ich fühle mich auf eine Art ertappt von ihrer Authentizität, fühle mich überrollt von der Ehrlichkeit des Gesagten und Gespielten.

Nun wird ein Piano über die Bühne geschoben. Zuerst erklingen mysteriöse, dissonante Töne. Dann wird plötzlich ein Song daraus, der von allen auf der Bühne gesungen wird. «Dance tonight, like you’re never gonna die».

Das Stück endet mit den Spielenden, die zu der elektronischen Musik der DJane jeden Vorhang herunterreissen, bis sie alle auf dem Boden verteilt sind. Man kann nun den ganzen Raum sehen, er ist grösser als ich es erwartet hätte. Unverputzte Wände, ein Klavier, das DJane-Pult, die Spielenden, gekleidet in unauffälligen Farben. Mit einem lauten «CAN’T YOU FUCKING HEAR ME?» endet das Stück. Ich glaube, dass ich sie gehört habe.

Eine Weile ist das Publikum nach dem Ausgehen der Lichter ganz still. Und auch ich geniesse diesen kurzen Moment des Einatmens nach diesem Schwall an Eindrücken und Gefühlen.

Nach dem Applaus schlendere ich durch die Gänge des Schiffbaus nach draussen. Ich freue mich unglaublich auf die Zeit, die ich im nächsten Jahr hier verbringen werde. Ich trete in die Abendsonne und bleibe noch ein bisschen.