Mein Tag der Ruhe und Entspannung 3/3
von Mathis Neuhaus
erschienen am 11. Dezember 2020
Sich zurückziehen, aussteigen, pausieren, die Teilnahme verweigern. Für das, was man macht, wenn man nichts macht, gibt es viele Umschreibungen. Würdest du mehr schlafen, wenn du könntest? Oder weniger? Oder gar nicht? Wir haben drei Menschen 24 Stunden Zeit gegeben, um auf diese Fragen antworten zu finden. Allein, an einem geschützten, aber nicht gänzlich privaten Ort. Auf den Open Call via Instagram reagierte unter anderem calendal. Und auch dieses Gespräch kreist um Fragen der Produktivität, Erfahrungen in Zeiten der Pandemie und die Zeitlichkeiten von (körperlicher) Erholung.
Mathis Neuhaus: Wie hast du deine Tage während des Lockdowns verbracht?
calendal: Für mich gab es unterschiedliche Phasen. Zu Beginn hat mein Körper eine Form von Panik produziert, nicht, weil ich nicht verstanden hätte, was passiert, sondern eher, weil ich nicht wusste, wie ich mit der Situation umgehen sollte. Das hat dazu geführt, dass ich mich nicht richtig bewegen konnte, nicht richtig wusste, wohin mit mir und was ich mit mir anfangen soll. Innerhalb dieses Zustandes zu verstehen, dass er länger anhalten wird, ohne eine Hoffnung auf Unterbrechung zu gross werden zu lassen, führte bei mir dazu, dass ich mir Selbstermächtigungsstrategien versucht habe anzueignen. Was braucht mein Körper gerade? Was braucht die Person in meiner WG, mit der ich zu der Zeit zusammengewohnt habe? Was brauchen wir an Raum und inwieweit kann dieser Raum gegeben werden oder nicht? Einfache Sportübungen haben geholfen, um wieder zu einer Form von Körperlichkeit zu finden.
Mathis Neuhaus: Hattest oder hast du Routinen? Versuchst du sie zu vermeiden oder begrüsst du sie sogar?
calendal: Ich brauchte auf jeden Fall Routinen. Aber eben Routinen, die an die Situation angepasst sind. Normalerweise haben ja alle irgendwelche Alltagsroutinen und die werden durch eine Pandemie ausgehebelt. Zu verstehen, welche Routinen kreiert werden müssen, um durch die Situation zu kommen, das war wichtig. Erkenntnisse aus der ersten Phase des Lockdowns im März haben zum Beispiel dazu geführt, dass ich jetzt, im Winter, bevor ich in die Zoom-Seminare meines Studiums gehe, mit Freund*innen über Zoom Sport mache. Wir leiten uns gegenseitig an und haben so eine Form von Routine und Sharing Practice gefunden.
Mathis Neuhaus: Fällt es dir eher leicht oder eher schwer, nichts zu tun?
calendal: Selbstgewählt nichts zu tun, finde ich einfach. Gezwungenermassen nichts mehr tun zu können oder zu dürfen, das fällt mir sehr schwer.
Mathis Neuhaus: Welche Konsequenzen hat die Pandemie für deine eigene Praxis?
calendal: Ich arbeite in Kollektiven und wir haben uns erstmal ganz bewusst dazu entschieden, nichts mehr zu machen. Um zu verstehen, in was für einer Situation wir uns befinden. Wir haben uns Fragen gestellt, wie: «Was können wir?» oder «Was wollen wir nicht?» Im März hatte ich das Gefühl, Theater fangen reflexartig damit an, ihre Mediatheken zu öffnen – und das ist zum Beispiel genau das Theater, das mich nicht interessiert. Für uns und für mich war es wichtig, die Reduktion und gleichzeitige Erweiterung der Mittel durch Video nicht als etwas Negatives per se zu sehen, sondern als eine andere Form. Eine andere Form der Herausforderung, mit der wir uns zu dem Zeitpunkt noch nicht auskannten. Und neu erforschen mussten, was das bedeutet. Im Sommer haben wir uns im Rahmen einer Residenz mit Gerüchen auseinandersetzt und damit, was diese im digitalen oder analogen Theaterraum bedeuten können. Fragen dazu haben sich durch das Digitale nochmal ganz anders gestellt und führen auch zu einem Nachdenken über Aspekte wie Gleichzeitigkeit, Co-Präsenz und so weiter.
Mathis Neuhaus: Gibt es grössere Themen, die dich oder euch in euren künstlerischen Arbeiten immer beschäftigen und begleiten?
calendal: Uns und mir ist wichtig, immer einen queeren intersektional feministischen Blick auf die Themen zu richten. Das ist mehr eine Grundeinstellung als ein Thema. Auch mit einem dekolonialen Blick zumindest drüber zu gehen über das, an dem man gerade arbeitet, spielt eine Rolle. In der Erarbeitung von Themen spielen diese Perspektiven immer eine Rolle.
Mathis Neuhaus: Ein Begriff, der immer mal wieder Klärungsbedarf braucht, ist der der «Produktivität». Ist der Begriff für dich wichtig? Setzt du dich mit ihm auseinander?
calendal: Zum einen sind wir, und damit würde ich die freie Szene meinen, aber Stadttheater ebenfalls, immer in einem Produktivitätsimperativ des Erarbeitens und Präsentierens. Da gibt es derzeit, zumindest nach meinem Gefühl, eine Verschiebung. Ich weiss, dass es in Deutschland mittlerweile Förderprogramme gibt, die sehr konkret darauf ausgerichtet sind, Forschung und das intensive Weiterverfolgen von Themen zu ermöglichen, ohne dass eine Präsentation dieser Forschungen im Förderprogramm verlangt ist. Ich fände es wichtig, dass sich ein solcher Gedanke weitertragen würde – auch, um nachhaltiger über Themen nachdenken zu können. Ich kenne aber auch aus meiner eigenen Praxis die Realität, dass das konstante Reagieren auf Angebote dazu führt, dass eine ständiges Arbeiten Standard ist. Auch wenn es nur darum geht, Anträge oder Konzepte zu schreiben; um überhaupt wieder produktiv werden zu dürfen. Und natürlich gibt es die Angst, nicht mehr produktiv sein zu können. Das führt dazu, dass man die ganze Zeit produktiv sein möchte, oder muss.
Mathis Neuhaus: Wie erholst du dich?
calendal: Dieser anskizzierte Produktivitätsimperativ führt dazu, dass es nicht die Zeit gibt, um sich zu erholen. Oder dass sich die Erholung erst durch den Körper einfordern lässt. Durch die Erzählung von Krankheiten wie Burn-Out. Es wird bis zu einem Peak gearbeitet, dann geht nichts mehr und dann muss sich eine Erholung vollziehen. Ich bin der Meinung, es fehlt ein Erlernen von Praktiken innerhalb der Ausbildungsinstitutionen, sich zu erholen. Obwohl natürlich das eigentlich ein entscheidender Teil von Produktivität ist, der aber immer unwichtiger zu werden scheint. Indem, wie wir ausgebildet werden und indem, wie wir arbeiten.
Mathis Neuhas: Was hat dich bewogen, auf den «Open Call» vom Schauspielhaus zu antworten?
calendal: Ich finde es immer interessant, den eigenen Körper in Situationen zu bringen, in denen er für eine gewisse Zeit bleiben muss. Auch wenn in diesem Fall die Vorgabe war, sich zu entspannen, auszuruhen und im Bett zu sein, ist ja auch das eine körperliche Arbeit, die verrichtet wird. Ich fand diesen Widerspruch interessant. Ausserdem wollte ich schon immer in einem von allen Seiten einsehbaren Zimmer schlafen.
Mathis Neuhaus: Inwiefern haben sich die 24 Stunden anders angefühlt, als 24 Stunden zuhause?
calendal: Danach hatte ich das Gefühl, mich entspannen zu müssen. Unsere Körper sind so sehr darauf trainiert, unter Spannung zu stehen, dass eine Entspannung mit Ansage fast nicht möglich ist. Meiner Erfahrung nach ist der Körper nie so schnell eingestellt, wie die Entscheidung im Gehirn getroffen ist. Deswegen war ich eigentlich erst wirklich bereit für die Entspannung, als die 24 Stunden schon wieder vorbei waren.