Dass es dich gibt
von Ariane Koch
erschienen am 15. Juni 2020
Ein Erfahrungsbericht zur Premiere von Composition (vor) IV
Manchmal, wenn man*frau nicht weiss, wo anfangen, dann ist es ratsam mit dem Ende anzufangen. Das Ende ist ein Wal. Das Ende ist vielleicht der 52-Hertz-Wal, welcher einsam der Westküste der USA entlang schwimmt und in einer Frequenz singt, die kein*e andere*r versteht. Das Ende ist ein Wal, der trotz seiner Masse weit aus dem Wasser in die Höhe hinausspringt und sich elegant zurück auf die Wasseroberfläche fallen lässt. Das Ende ist ein Wal und ein Saxophon, das zum Walgesang mutiert, aber eigentlich unser Gesang ist, unsere Gesänge, die es uns trotzdem unmöglich machen, sich zu finden.
Wie schaffst du es, dass es dich gibt, sagt James Baldwin.
Es folgt ein Tanz um den Lichtkegel, ein Kampf um Sichtbarkeit. Performer*innen gehen über den Sumpf, ihre Kleider ziehen gegen Boden, schwer von Flüssigkeit, und jedes Ausrutschen ist gleichzeitig eine schwebende Bewegung, hell untermalt vom Quietschen des Material, des Saxophons, des Wals.
Wie schaffst du es, dass du gesehen wirst, dass es dich gibt, sagt James Baldwin, und seine Worte, vor Jahrzehnten aufgezeichnet, hallen heute in die Halle hinein, über den Raum hinaus, über das Wasser, hinaus auf die Strassen, fallen in die Menschen hinein, werden von ihnen hinausgeschrien, immer wieder hinausgeschrien, nicht nur der Westküste entlang.
Ich war einmal auf einer Touristentour durch eine Baumwoll-Plantage in Charleston. Zusammen mit einer Gruppe an mit Sonnenhüten bedeckten Weissen sass ich in einem offenen Fuhrwerk, das historisch anmutete, aber brandneu war. So wurden wir an den ehemaligen Baracken der Sklav*innen vorbei geschaukelt, vorbei an den mit spanischem Moos behangenen Eichenalleen, und von einer durch Lautsprecher dringenden Stimme auf die Alligatoren im Sumpf hingewiesen. Irgendwann stiegen wir aus und betraten eine der Baracken, in der eine schwarze Puppenfrau auf einem Schaukelstuhl drapiert war, in Schürze.
Heute – in dieser Performance sitzend – denke ich zum ersten Mal seit langem wieder daran zurück, überdenke den lächerlich-bösartigen Versuch von Überwindung (Aneignung?) von Geschichte. Und werde daran erinnert, dass wir – ich – es besser machen müssen, dass wir – ich – die Dinge neu zu überdenken haben, immer und immer wieder – trotz und wegen ihrer grausamen Unverfügbarkeit.
Wenn man*frau nicht weiss, wo aufhören, dann ist es ratsam, mit dem Anfang aufzuhören. Der Anfang ist ein Ausschnitt aus Fred Motens Poem «Come on, get it», der auf einen Zettel gedruckt in meine Hand gelegt und zu meinem Begleiter wird. So sitzen wir, der Zettel und ich, auf dem Stuhl, um den wie ein Bannkreis gezogen ist, und spüren das Ende einer Zeit, die unwiederbringlich verloren, aber eigentlich der Anfang ist, der Anfang einer neuen Zeit, die wir noch zu beschriften haben.