Es gibt ein bitteres Geheimnis,
von dem ich dir erzählen muss
erschienen am 10. März 2020
Es gibt ein bitteres Geheimnis um das Drama «Leonce und Lena» von Georg Büchner, das erst in den letzten Jahren entdeckt wurde und von dem ich Ihnen erzählen möchte. Denn die Wahrheit dahinter hat auf lähmende Weise auch mit Ihnen zu tun. Ja mit Ihnen. Genau Sie, die jetzt gerade diesen Text lesen und die ins Schauspielhaus gekommen sind, um hier etwas zu sehen. Und um diesen geheimen Zusammenhang zu zeigen, werde ich ein wenig springen müssen und bitte Sie meinen Ausführungen nach Möglichkeit dennoch zu folgen.
Geboren wurde Georg Büchner am 17. Oktober 1813 in Goddelau, einem Stadtteil von Riedstadt, in der Nähe von Darmstadt. Er war das erste von acht Kindern, wovon zwei kurz nach der Geburt starben. Unter den fünf überlebenden Geschwistern Georgs war wiederum seine Schwester Luise Büchner und Luise war, genau wie ihr Bruder, auch eine Schriftstellerin und gehört heute zu den bedeutendsten Frauenrechtlerinnen des 19. Jahrhunderts. Behalten wir das Hinterkopf. Ihnen wird aufgefallen sein, dass in dieser Inszenierung nur Männer auf der Bühne stehen. Gestorben ist Georg Büchner schon am 19. Februar 1837, also im Alter von 23, und somit bekam er das meistzitierte Werk seiner Schwester «Die Frauen und ihr Beruf» (Erstauflage 1855) gar nicht mehr mit. Einige Wochen vor seinem Tod jedoch hatte Büchner noch die Gelegenheit, an der philosophischen Fakultät der Universität Zürich seine Probevorlesung «Über die Schädelnerven» zu halten. Merken wir uns das für die Gehirne auf der Bühne. In dieser Probevorlesung kritisiert Büchner die in den Wissenschaften weit verbreitete teleologische Methode, die hinter jedem wissenschaftlichen Zusammenhang einen Zweck vermutet. Die teleologische Grundansicht.
«(...) kennt das Individuum nur als etwas, das einen Zweck ausser sich erreichen soll, (...) Die grösstmöglichste Zweckmässigkeit ist das einzige Gesetz der teleologischen Methode; nun fragt man aber natürlich nach dem Zwecke dieses Zweckes, und so macht sie auch ebenso natürlich bei jeder Frage einen progressus in infinitum.»
Büchner will in seiner Wissenschaft das Geheimnis der Natur aber anders ergründen, nicht teleologisch, sondern durch eine Perspektive, bei der die Dinge an sich einen eigenen Wert haben, und nicht nur, weil sie etwas über ein Drittes erzählen:
«Die Natur handelt nicht nach Zwecken, sie reibt sich nicht in einer unendlichen Reihe von Zwecken auf, von denen der eine den anderen bedingt; sondern sie ist in allen ihren Aeusserungen sich unmittelbar selbst genug. Alles, was ist, ist um seiner selbst willen da.»
Kurz nachdem Büchner zum Doktor der Philosophie ernannt wurde, stirbt er an Typhus, ironischerweise, weil er sich wahrscheinlich an einem seiner Gehirnpräparate infiziert hat. Er wird in Zürich beigelegt, um genauer zu sein wird er auf dem Stadtzürcher Friedhof «Krautgarten“ ausserhalb des damaligen Lindentors beerdigt, also genau dort, wo heute das Zürcher Kunsthaus steht, also genau gegenüber vom Schauspielhaus Zürich.
Wir Springen: Letztes Jahr wurde zur grossen Verwunderung der Literaturwissenschaft in einer handgrossen, vergoldeten Schatulle in einer hölzernen Schreibtischschublade auf einem Hof in Darmstadt ein Brief gefunden, von dem sich leider nur die erste Seite rekonstruieren lässt:
«Liebe Luise,
es gibt ein bitteres Geheimnis, von dem ich dir erzählen muss. Denn die Wahrheit hinter diesem Geheimnis hat auch mit dir zu tun, ja mit dir liebste Schwester. Ich werde etwas springen müssen und bitte dich inbrünstig, meinen Betrachtungen nach bestem Verstande zu folgen. Ich habe meine Stücke, darunter Leonce und Lena, vorerst beendet und bin ganz unglücklich damit. Mein Leonce ist ein wahrer Melancholiker. Aber Melancholie ist nicht einfach nur eine lähmende Trauer, die keinen konkreten Grund nennen kann, sie ist auch nicht nur ein Weltschmerz. Ich glaube, nein ich spüre ganz genau, was es ist, Luise: Es ist die Gewissheit, dass Gott ziemlich weit weg ist, wenn nicht sogar, dass Gott verschollen oder tot ist. Und dass wir einsam sind. Und weil wir diesen Zustand nicht ertragen, sucht der melancholische Blick hinter jedem noch so bedeutungslosen Detail eine Wahrheit, hinter jedem Zufall ein Schicksal, irgendwo in dieser sinnlosen Welt, grübelt der Melancholiker, muss es doch etwas Göttliches geben, unser Dasein in dieser Welt muss doch einen Zweck haben. Wer unter dem Einfluss der Melancholie auf die Welt blickt, verdoppelt die Welt und hofft, dass es hinter der Welt noch etwas gibt, dass das hier nicht alles ist, es wird ein progressus in infinitum. Alles wird zeichenhaft, das Dasein ein Rätsel, das es zu lösen gilt, das Leben ein Text, dessen Sinn wir suchen, das Hier und Jetzt wird ein Geheimnis, das wir lüften möchten. Aber Luise! Rettet uns so die Melancholie nicht auch auf eine merkwürdige Art und Weise? Gibt sie dadurch nicht auch eine ganze spezielle Aufmerksamkeit allen noch so unbedeutendsten Erscheinungen, beispielsweise. Menschen, die wir sonst keines Blickes würdigen würden, die historisch keine Rolle spielen, einen Obdachlosen, jemanden den wir gar nicht wahrnehmen würden? Die Melancholie lässt uns glauben, dass unser Dasein etwas mit diesen zu tun hat, weil dem Melancholiker alles symbolisch und bedeutend wird, indem wir überall hoffen, herauszufinden, was der Zweck unseres Daseins ist. Und soll ich dir noch etwas sagen Luise? Nur deshalb werden die Leute in Scharen ins Schauspielhaus Zürich rennen, um sich (unleserlich)
Und darin, Luise, besteht der ästhetische Schein der Kunstwerke: nämlich ein Werk zu sein. Kunstwerke kommen ja nur daher, als seien sie zusammenhängende, abgeschlossene, einheitliche Werke. Vielmehr jedoch sind sie die in ein Werk gepressten Gedankengänge zwischen unseren Schädelnerven. Sie sind der Versuch, diese sinnlose Realität sinnvoll, das heisst unter einem Sinn – das heisst in einem Wesen – das heisst in einem Werk – zusammenzubringen. Und insofern sind die Werke eigentlich die Verlaufsprotokolle ihres eigenen Vorhabens: die Anleitung, ein sinnvolles Universum zu bauen. Diese Fiktion einer sinnvollen Welt oder genauer gesagt, das gleichzeitige Aufzeigen davon, dass jeder Sinn immer Fiktion ist; das ist der ästhetische Schein eines Werks. Ach Luise, diese Welt ist nicht das Paradies auf Erden. Aber noch trauriger ist doch, dass es gar kein Paradies gibt. Und wir kommen auch in keine Hölle.»
Hier bricht der Brief ab. Zum ersten Mal hörte ich von dem Fund, als mich im letzten Winter meine Kollegin Laura Paetau vom Institut für Angewandte Melancholie anrief. Ich fuhr gerade in meine Heimatstadt. Schon im Zug, mein Kopf lehnte an die vibrierende Fensterscheibe, draussen dunkel, deutscher Regen, hörte ich in mir Wolfang Petris Stimme «Hölle, Hölle, Hölle». Angekommen, schlenderte ich durch die aschgraue Innenstadt, vorbei an den Dönerläden mit flackernder Leuchtreklame, den ein Euro-Shops, den leerstehenden Ladenlokalen, unter dem mit Stahlwolken verhängte Ruhrgebietshimmel. Ich war seit über zwanzig Jahre nicht mehr hier und wusste nicht, warum ich hierhergekommen war. Ich suchte etwas und spürte, ich muss hier hin. Als Kind gab es an der Ecke zur Sparkasse immer eine Obdachlose, die Glückskekse verkauft und ich dachte immer, wenn Gott auf die Erde kommen würde, um den Menschen etwas zu sagen, dann doch als Obdachlose mit Glückskeksen. Die Sparkasse gab es nicht mehr. Die Obdachlose war auch nicht da. Ich betrachtete das Kopfsteinpflaster, wo sie früher auf ihrer Decke sass, wie den Teppichboden in meinem Kinderzimmer, in dem noch die Abdrücke alter Möbel sichtbar waren. Ich lief weiter. Der einzige Mensch, der mir entgegenkam, war der Rosenverkäufer. Er war alt geworden, trug immer noch sein einziges abgewetztes Sakko. Die früher dunklen Locken, jetzt nur noch graue Strähnen, die ihm ins vernarbte Gesicht hingen. Ich hatte auch mit diesem Mann immer eine merkwürdige Form von Verbundenheit gefühlt. Ich hab ihn nie eine einzige Rose verkaufen sehen und bewunderte ihn doch, wie er jedes Mal aufs Neue, seine Rosen im Arm immer fest an die Brust gedrückt, meiner Mutter stolz seinen Strauss zeigte, indem er sich mit seinem Oberkörper leicht zu ihr rüber beugte. Es tat mir im Herzen weh, ihn zu sehen, wie die verwelkten Rosen nun in dem Korb des Rollators vor ihm lagen, den er humpelnd durch die leeren Gassen schob. Plötzlich zog ein starker Windzug auf, erwischte den Mann, und verteilte ihn wie Staub in allen Gassen und an den Hauswänden der Stadt.
Und das Geheimnis? Die Wahrheit hinter der Wahrheit, warum Sie ins Theater gekommen sind? Haben Sie wirklich -? Wirklich? Immer noch?