Willkommen in Zureich
von Michelle Steinbeck
erschienen am 15. Oktober 2019
Gedankenexperiment von einer, die auszog, weil sie sich die Miete nicht mehr leisten konnte*
Früchte des Zorns? Kannst du hier lange suchen. Nicht das richtige Klima. Kein Nährboden. Früchte des Zorns können hier nicht wachsen. Und wenn doch einmal eine ein Pflänzchen auf ihrem Fenstersims züchtet – es wird nach nichts schmecken. Sie wird die Früchte beschämt vor ihren Bekannten verstecken; sie alleine essen und Bauchweh kriegen, oder sie direkt am Bäumchen verfaulen lassen.
Willkommen auf der Zürcher Bühne! Gespielt wird: Jede ist ihres Glücks eigene Goldschmiedin und andere Märchen. Bühnenbild: Die lächerlich malerische Kulisse mit Wasser, Bergen, Altstadt; Sonnenuntergang über der Hardbrücke und zum Würzen ein wenig Milieuromantik an der Langstrasse – setz dich und geniess ein veganes Tartar dazu.
Kostüm und Maske: Glanz und elegant, nicht zu extravagant, Hauptsache neu und teuer. Es spielen mit: Szenis. Bonzen, Bobos, Hipsters, Alternative... im Grunde alles Szenis. Und sie unterscheiden sich nicht wesentlich. Alle cool und arbeitsam. Wo sonst würdest du in der Küche eines besetzten Hauses hören: «Wo gasch? Go schaffe? Geil!»
Darum ist es auch ein ziemlich langweiliges Stück geworden.
Der Plot ist einfach: Die Figuren arbeiten und konsumieren. Sie sagen: «Für öppis gömmer ja go schaffe.» Manchmal beschweren sie sich, dass sie 9 to midnight arbeiten. Dann sagen sie: «Aber würde ich reduzieren, könnte ich meinen Lebensstandard nicht halten.» Und ziehen noch eine line.
All paar Tage gehen sie zum Quartierfest, also zu einer Wohnungsbesichtigung im Kreis 3, (unbefristeter Altbau, fast bezahlbar). Dort stehen sie in der Schlange und scherzen: «Giz öpis gratis?» Und wenn darauf jemand eine zerdrückte Frucht des Zorns aus ihrer Guccitasche vom Bürkli-Flomi holt und schreit: «Hallo wir sind hier 300 Leute für eine Wohnung, die eh schon unter der Hand weg ist, hier gibt's doch ein strukturelles Problem!» Dann hebt der Chor 300 Zeigefinger und singt: «Musch halt me schaffe. In Züri zu leben ist ein Privileg, wenn's dir zu teuer ist, ist es dir wohl nicht wert.» Der Chor wendet sich ab und murmelt sich gegenseitig zu: «Ist doch wahr. Sowieso haben wir rotgrüne Regierung, so schlimm kann's ja nicht sein.» Und dann erzählen sie Abenteuergeschichten, wie sie für die Stadtwohnung angerufen hätten und einmal mehr nicht durchgekommen seien. «Ich auch», lacht der Chor, «ich auch».
Aber wo sind alle anderen? – Wer? Du meinst «das Prekariat»? Die gibt's, aber nicht auf der Bühne. Die sind im Hintergrund, quasi Bühnenbildarbeiter, sie halten das Theater am Laufen. Oder sie trauen sich gar nicht raus. Die fühlen sich im Scheinwerferlicht nicht wohl; was sollen sie denn spielen? Sie können weder anständig konsumieren noch sich gewinnbringend produzieren. Wir wollen sie ja nicht vor aller Augen beschämen – das übernimmt schon der sogenannte Sozialstaat.
Zürich war nicht immer so. Und es muss auch nicht so bleiben. Doch um das Stück umzuschreiben, müssen wir uns erst bewusst werden, dass wir überhaupt spielen. Dass wir uns verkleidet haben, damals mit 15 an der Ladies Night: Die Schuhe waren 3 Nummern zu gross, von der Goldküstenmutter einer Freundin geklaut. Und zu den Gratisdrinks gab's Alte-Herren-Gegrabsche umsonst dazu.
Wir haben uns so daran gewöhnt, reich zu spielen, dass wir denken, wir seien tatsächlich reich. Warum sonst stimmen wir gegen jegliche Steuerreformen, die auch nur ansatzweise eine gerechtere Umverteilung anstreben – die uns nämlich zugute kommen würden?
Wir spielen gegen uns. Wir sollten damit aufhören und anfangen zu improvisieren. Vielleicht den Klimawandel nutzen, grossflächig Früchte des Zorns anzubauen. Bevor du deine Wohnung verlierst und in den Aargau ziehst. Und die Stadt komplett zur ausgestorbenen Vergnügungsmeile «Zureich» wird.
*frei nach René Pollesch und Dirk von Lowtzow