Sudden Rise. Ein Annäherungsversuch
von Julius Fintelmann
erschienen am 18. September 2019
Ein Erfahrungsbericht über die Premiere von Sudden Rise.
Freitag, der 13. im Pfauen. Die Teppiche und Vorhänge im Foyer wurden herausgerissen und stattdessen ein industrial modern look mit Marthalerzitat hinter Putz hervorgeholt. Grellgrüne Technik, hellgraue Wände und alleskönnende LEDs. Alle sind bereit für die letzten Premieren des Eröffnungsfestivals.
Das Publikum ist so durchmischt, wie es sich wohl jedes Haus gerne wünschte. Die Europäische Elite der Performance ist da: Teresa Vittucci, Benny Claessens, PRICE, Thelma Buabeng. Aber vor allem (sehr) viele junge Leute, Studierende oder einfach nur interessierte Menschen (soll es ja geben). Nicht mehr viel übrig vom alten Stadttheater, wo man hinging um gesehen zu werden.
Billett abgeholt, Weissweinschorle getrunken, Freund*innen und Bekannte begrüsst. Es kann losgehen. Im Saal ist alles beim alten geblieben. Immer noch die roten Sessel, der rote Vorhang, die Logen. Sudden Rise heisst das Stück, das Wu Tsang und boychild aus New York mitgebracht haben. Zu sehen war es bereits am Fast Forward Festival in Athen oder im Hebbel am Ufer in Berlin. Von den Galerien und der freien Szene wurde es nun mitten ins Stadttheater (und auch noch nach Zürich!) geholt.
Es wird dunkel im Saal. Patrick Belaga und Asma Maroof betreten die Bühne, spielen Cello und bringen Bass-DJ-Klänge in den Pfauen. Über die grosse Leinwand werden Bilder und historische Dokumente gezeigt, mal von der Erfindung des Rads, mal von Häftlingen in irgendwelchen Gefängnissen. Dann tritt Wu Tsang, beinahe nicht sichtbar, auf die neblig-dunkle Bühne. Sie fängt an zu referieren, wird immer poetischer bis hin zur Undeutlichkeit. Textlich und auf Deutsch übersetzt klingt das in etwa so: "Das geheime Leben der Dinge ist offen – klargemacht, phänomenales bing-diss, das Ding, das wir sind, all diese Dinge die wir sind, die wir zu erreichen suche, zu denen wir nicht zurückkönnen, weil sie uns im Nichtsein meilenweit voraus sind." Oder: "Wie lässt sich die Überzirkularität jener Wahrnehmung zeigen, die schwierigen Freuden ihrer (Um)Wendung und Syntax, die in ihr eingeschlossenen unsichtbaren Zweifel und winzigen seismischen Erschütterungen, ihre (dy- und hyper)lexischen Kratzer und Wunden?"
Entstehunguntergangsgeschichte der Menschheit? Kritik am menschlichen Umgang miteinander? Der andauernde Streit zwischen den tanzenden Menschen und tanzenden Projektionen wird nach und nach immer deutlicher. Ist es eine Abbildung des Kampfes zwischen einem echten und einem digitalen Ich? Ein Wettrennen zwischen digitaler Identität, die sich viel schneller weiterentwickelt als die reelle? Keine Ahnung. Aber das ist in Ordnung. Es braucht keine Interpretation, keine Deutung. Die Visualität, das Stimmengeflecht aus Cello, Klavier und Elektroniksounds und die Tänze von Josh Johnson und boychild benötigen keine Erklärung, sie stehen mehr als nur für sich. Ich scheine nicht allein zu sein mit dieser Ansicht – das Publikum dankt mit langen Ovationen.
Später am Abend an der Party mit DJane Asmara (Asma Maroof) aus Los Angeles wird klar, wie locker durchmischt das neue Programm ist und das Publikum hoffentlich weiterhin bleiben wird. Es ist angenehm, nicht mehr andere junge Menschen zählen zu müssen und stattdessen nach 60+ Ausschau zu halten. Es ist angenehm, nicht mehr bemitleidend von älteren weissen Damen angeschaut zu werden, die denken, man sei von Eltern mitgeschleppt worden. Oder verwundert vom Personal gefragt zu werden, ob der Jahrgang denn nun richtig sei. Dafür danke, Zchauspielhaus Sürich und auf viel Junges!
Als kollektiv und divers aufgestelltes Haus halten wir die Vielfalt von Perspektiven und Meinungen hoch und laden zu jeder Inszenierung Menschen ein, einen Erfahrungsbericht zu schreiben. Das sind nicht zwingend Theaterkritiker*innen, aber auf jeden Fall kritische Beobachter*innen mit ganz unterschiedlichen Erfahrungshorizonten.